Draußen begegneten sie Nestor. Der alte Gärtner warf ihnen einen argwöhnischen Blick zu und fragte barsch: »Wo wollt ihr denn hin?«
»Zum Strand. Sieht man das nicht?« Julia verdrehte die Augen und warf sich ihr Handtuch über die Schulter, während Rick mit gerunzelter Stirn an seiner Badehose herumzupfte.
Nestor legte die Hacke, mit der er gerade gearbeitet hatte, auf den Boden. »Bleibt hier stehen. Keiner rührt sich!«
»Aber, Mister Nestor!«, protestierten die Zwillinge.
»Keinen Schritt weiter!«, gab der alte Mann zurück und hinkte schnell zu seinem Häuschen.
Er ging hinein und kam nach einigen Minuten mit einem Stück Stoff in der Hand zurück, das er Rick zuwarf. Es war eine Badehose. »Zieh die an, die passt dir sicher.« Dann wandte er sich ab und fuhr damit fort, die Erde eines Beets aufzulockern. »Und jetzt ab mit euch!« Er hielt eine kleine Begonie hoch. »Ich würde sie gerne einpflanzen, bevor der Wolkenbruch losgeht.«
»Aber es scheint doch die Sonne«, sagte Jason verwundert.
»Nicht mehr allzu lange. Wenn ein Gewitter aufzieht, müsst ihr sofort aus dem Wasser kommen, verstanden? Los! Da vorne geht es runter.«
Das ließen sich die drei nicht zweimal
sagen.
Vorsichtig stiegen sie die Treppe zum Meer hinab. Die Stufen waren grob in den Fels gehauen und sahen nicht gerade einladend aus. Mit beiden Händen hielten sie sich an dem am Fels befestigten Tau fest, während ihnen der nach Algen und Sand riechende Wind das Haar zerzauste. Je weiter sie nach unten kamen, desto feuchter und rutschiger wurden die Treppenstufen.
Rick, der das Schlusslicht bildete, drehte sich von Zeit zu Zeit um. Irgendwie hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Einmal kam es ihm so vor, als hätte er einen Lichtreflex gesehen. Das kurze Aufblitzen, dachte er, könnte von einem Fernglas stammen. Wahrscheinlich behielt der gute Nestor sie im Auge. Er fand diesen Gedanken sehr beruhigend.
Endlich erreichten sie die Bucht. Sie bestand aus einer Sandzunge zwischen zwei Riffen, die den kleinen Strand vor Wind und neugierigen Blicken schützten. Hoch über ihnen badete die Villa Argo in den warmen Sonnenstrahlen. Möwen nisteten in Nischen und auf Felsvorsprüngen, flogen zwischen Klippen und Wasser hin und her und riefen einander mit rauer Stimme etwas zu.
Julia warf als Erste ihr Handtuch auf den feinkörnigen Sand des Strands, der flach ins Meer abfiel, und stürzte sich kopfüber ins kalte Wasser. Sie verschwand unter den Wellen und tauchte zehn Meter weiter vorne wieder auf. »Kommt!«, rief sie und strich ihr Haar zurück. »Es ist herrlich!«
Die großen Wellen brachen sich außen an den Riffen und schleuderten Tausende von Wassertröpfchen empor, sodass hin und wieder kleine Regenbögen entstanden.
Beim Aufschlagen erzeugten die Wellen ein beruhigendes Geräusch.
Auch Rick sprang ins Meer und schwamm mit kräftigen Zügen hinaus, um die Gänsehaut loszuwerden.
Jason dagegen blieb mit verschränkten Armen im kniehohen Wasser stehen und sah alles andere als glücklich aus.
»Los, du Warmduscher!«, rief ihm seine Schwester zu, während sie zu Rick schwamm. »Der war schon immer so«, erklärte sie. »Wenn das Wasser nicht vierzig Grad hat, geht er nicht rein.«
Rick grinste. »Wenn das so ist, gibt es nur eins ...«, flüsterte er.
Jason begriff sofort, dass Rick etwas im
Schilde führte, und versuchte sich auf den Strand zu flüchten. Doch
zu spät, von hinten traf ihn ein Schwall Wasser am Rücken und er
schrie fluchend auf.
Oben auf der Klippe musste Nestor schmunzeln.
Er hörte Jasons Schreie, die sich mit Julias und Ricks Lachen vermischten, und wusste nun, dass die drei den Strand wohlbehalten erreicht hatten. Es war schön, Kinder im Haus zu haben. Das bedeutete zwar mehr Arbeit, aber jetzt machte es endlich Sinn, den Garten zu pflegen und bunte Blumen zu pflanzen, auch wenn sie früher oder später ein verirrter Fußball niedermähen würde ... Es war schön, morgens aufzuwachen und sich den Tag vorzustellen, der vor einem lag: ihre Fragen, ihre Neugierde. Und wenn es auch noch mutige Kinder waren, wie er es sich erhoffte ... Wer weiß?
Der Wind trug immer noch ihr Lachen zu ihm herauf und dieses Lachen stellte für die Villa Argo bereits eine bedeutende Verbesserung dar.
»Es gibt nichts Schöneres«, sagte er leise vor sich hin. »Es gibt nichts Schöneres.« Er drückte mit den Fingern Löcher in die feuchte Erde, um die kleinen, zarten Begonien einzupflanzen.
Ein Fernglas hatte er nicht.
Nach einem ausgiebigen Bad legte sich Julia bäuchlings auf ihr Handtuch und reihte vor sich die kleinen Schätze auf, die sie im Sand gefunden hatte: zwei türkisblaue Steine, fünf glatte weiße Kiesel, Muschelschalen und ein Stück Holz, an dem eine eiserne Klinke hing.
Rick und Jason kletterten auf die Felsen. Dabei entdeckten sie einen zweiten kleinen Strand. Hier fanden sie die Überreste eines Holzstegs, an dem noch einige Tauenden hingen. Von den Brettern und Balken waren fast nur noch angefaulte Reste übrig, doch sie bewiesen, dass der alte Ulysses ein Boot gehabt hatte.
Als sie zu Julia zurückgekehrt waren, lieferte Jason seiner Schwester einen haarsträubenden Bericht ihrer Expedition. Er versuchte gerade Julia davon zu überzeugen, dass er gegen einen Kraken gekämpft hatte, der doppelt so groß gewesen war wie er, als Rick im Gesicht einen ersten Regentropfen abbekam.
Er hob den Kopf und genau in diesem Augenblick zog über ihnen eine pechschwarze Wolke über den Himmel. »Nestor hatte offenbar recht. Es wird gleich regnen.«
»Ich habe auch schon was gespürt«, pflichtete Julia ihrem Klassenkameraden bei.
Jason hörte auf, seinen Kampf gegen den Kraken nachzuspielen und sah zu der langen Reihe Stufen auf, die vom Strand zum Haus führte. »Müssen wir da wieder hoch?«, fragte er und schluckte.
»Führt wohl kein Weg dran vorbei«, sagte Julia.
Widerstrebend schlang sich Rick das feuchte Handtuch um die Hüften und stapfte los. Julia und Jason gingen hinter ihm her.
Sobald sie die Treppenstufen erreicht hatten, goss es in Strömen. Die Stufen waren sofort spiegelglatt.
»Wir sehen uns im Haus!«, rief Jason, der keine Lust hatte, bis auf die Haut nass zu werden, und rannte die Treppe nach oben.
Julia verdrehte die Augen und warf Rick einen vielsagenden Blick zu. Dieser schaute zu Jason hoch und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
Jason hatte das Gleichgewicht verloren. Im selben Augenblick spaltete ein gewaltiger Blitz den Himmel und schlug wie eine weiße Faust auf dem Meer auf.
»Nein!«, schrie Julia. »Jason!«