Das erste Zimmer, das Rick durch einen Säulengang betrat, war eine Mischung aus Bibliothek und Wohnzimmer. Drei große Fenster auf der Meerseite ließen viel Licht herein. Auf Regalbrettern entlang der Wände stapelten sich Bücher und Zeitschriften. Auf einem Tisch mit einer dicken Glasplatte lagen Zeitungen. Die lebensgroße Statue einer Frau, die ein Fischernetz flickte, nahm die Raummitte ein. Mit träumerischem Blick schien die Fischerin aufs Meer hinauszuschauen.
»Schön, nicht wahr?«, vernahm er auf einmal Jasons Stimme hinter sich.
»Hi!«
»Hi!« Jason knuffte Rick gegen die Schulter und zeigte auf die Statue. »Mam hat mir erzählt, dass man sie hier nicht raustragen kann.«
»Warum denn nicht?«
»Der alte Besitzer wollte das nicht.« Jason strich über das Bronzenetz, das um die Knie der Figur gewickelt war, und warf Rick einen kurzen Blick zu. »Es heißt, Ulysses Moore sei ein bisschen komisch gewesen.«
»Hm«, machte Rick.
»Aber wenn er jetzt tot ist ... wenn er tot ist ...«
Rick runzelte die Stirn. »Wie meinst du das: ›wenn er tot ist‹?«
»Mein Bruder hat ein bisschen zu viel Fantasie«, mischte sich Julia ein, die gerade den Raum betreten hatte. »Hallo, Rick! Willkommen!« Sie lächelte ihn schüchtern mit ihren blauen Augen an, wobei sich dieselben Grübchen um ihren Mund bildeten wie bei ihrem Bruder. Wenn man einmal davon absah, dass Jason ein Junge und Julia ein Mädchen war, ähnelten die beiden einander wie ein Ei dem anderen: das gleiche helle Haar, die gleichen Augen. Julia war einfach nur etwas größer und kräftiger als Jason, so als hätte sie es mit dem Wachsen eiliger als er.
Sie ließ sich in einen der Sessel fallen, die rings um die Statue der Fischerin standen. »Jason ist der Ansicht, unser alter Gärtner könnte ein Serienkiller im Ruhestand sein, der sich hierher zurückgezogen hat, wo ihn niemals jemand suchen würde.«
Jason schnitt eine Grimasse und wollte gerade etwas sagen, um das Thema zu wechseln, als seine Schwester weitersprach. »Mein Bruder erfindet gerne Geschichten.« Julia grinste und zog die Beine an.
»Hier in Kilmore Cove könnte das von Vorteil sein«, erwiderte Rick.
Julia verzog das Gesicht. Die Vorstellung, dass in Kilmore Cove nie etwas passierte, gefiel ihr nicht besonders.
»Andererseits«, fuhr Rick fort, »wäre die Villa Argo natürlich ein ideales Versteck. Was glaubt ihr, wie viele Zimmer hat dieses Haus? Hundert?«
Jasons Miene erhellte sich. »Kann ich dir etwas anvertrauen? Ich glaube, dass es hier ...«
»Fang nicht schon wieder damit an«, unterbrach Julia ihren Bruder.
Doch Ricks Neugier war geweckt. »Was ist in diesem Haus?«
»Ich glaube, hier gibt es ein Gespenst«, sagte Jason.
»Glaubst du an Gespenster?« Julia sah ihren Schulkameraden aus zusammengekniffenen Augen an.
Rick begriff sofort, dass er mitten in einen Geschwisterstreit geraten war. Er überlegte, was er antworten musste, um weder Jason zu enttäuschen noch von Julia für einen Dummkopf gehalten zu werden. »Warum glaubst du, dass es hier ein Gespenst gibt?«, fragte er Jason.
»Ich habe Schritte gehört, im ersten Stock, und außer mir war niemand im Haus.«
Julia verdrehte die Augen. »Na klar. Und heute Nacht werden wir von Kettengerassel, Schreien und einem irren Lachen geweckt.«
»Haha, i...«
»Du musst wissen, Rick«, schnitt Julia ihrem Bruder erneut das Wort ab, »dass Jason einen Haufen Mist liest. Kennst du den Comic über diesen Typ aus London, der Gespenster jagt?«
Rick schüttelte den Kopf. Comics waren nicht sein Ding.
»Hör endlich auf«, rief Jason, der es nicht ertragen konnte, dass Julia den sagenhaften Doktor Mesmero als »Typ aus London« bezeichnete. Dann gab er Rick eine schnelle Einführung in die Comic-Serie X-Men. Er konnte es nicht fassen, dass jemand in seinem Alter noch nie etwas davon gehört hatte.
»Wie dem auch sei«, fuhr Julia fort. »Weil er nur Vampire, Werwölfe und Gespenster im Kopf hat, glaubt Jason, auch hier in der Villa Argo wohne ein Geist. Und ist fest davon überzeugt, seine Identität zu kennen.«
»Im Ernst?«
Jason nickte. »Es ist der Geist des alten Ulysses.«
Rick spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. »Und warum soll dieser ... äh ... Geist noch hier sein?«
»Weil er noch etwas erledigen muss«, antwortete Jason.
»Ja, klar.« Rick runzelte die Stirn. »Aber was könnte das sein?«
»Das habe ich noch nicht herausfinden können. Ich bin erst seit einer Woche in Kilmore Cove. Ich denke aber, dass wir einen Hinweis des alten Ulysses in der Villa Argo finden. Wir müssen Zimmer für Zimmer durchsuchen«, schlug Jason vor, »und am besten zeichnen wir einen genauen Plan vom Haus, damit wir uns später besser zurechtfinden.«
»Jason!«, rief Julia. »Der arme Rick ist sicher nicht hergekommen, damit du ihn den ganzen Tag durchs Haus schlepp...«
»Doch, doch, das wäre super«, fiel Rick Julia ins Wort. »Wenn ich ehrlich bin, erkunde ich dieses Haus täglich ... allerdings von außen. Ich würde das wirklich toll finden. Mann, allein schon, dass ich hier bin, mit dieser Statue und den Büchern und mit euch ...« Er sah zur Tür, die zu den Zimmern im Hausinneren führte. »Wenn ihr Lust habt, ich bin dabei!«
»Ich hole Papier und einen Stift für die Karte«, sagte Jason schnell. »Wartet hier auf mich!«
Als Jason den Raum verlassen hatte, blickte Julia auf das Meer hinaus. Weiße Schaumkronen tanzten auf dem Wasser. »Du hast mir noch nicht gesagt, ob du an Gespenster glaubst oder eher nicht«, sagte sie zu Rick, ohne ihn anzuschauen.
Rick lehnte sich an die Statue der Fischerin, die sich kalt und stark anfühlte. »Mein Vater sagte, dass es Gespenster gibt«, antwortete er, »und dass jeder sein eigenes hat.«
Julia drehte sich um. »Und wer ist dein Gespenst?«
»Mein Vater«, erwiderte Rick mit einem Gesichtsausdruck, der plötzlich hart und starr geworden war. »Er ist auf See gestorben, vor zwei Jahren.«
»Das tut mir leid«, flüsterte Julia.
Rick sagte nichts darauf und eine betretene Stille breitete sich im Raum aus.