6.

24. Dezember

Ein richtiges kleines Weihnachtswunder«, sagte Schwester Gabriele und nahm meiner Mutter das vollgeschlabberte Lätzchen vom Hals.

Es war Heiligabend, das Krankenzimmer glänzte im Schein einer Lichterkette von hundert künstlichen Raureifkerzen auf einem dunkelgrünen Plastikweihnachtsbaum, während aus der Krankenhauskapelle leise »Stille Nacht« zu uns herüberschwebte. Unsere ganze kleine Großfamilie meine Schwester und mein Schwager, meine zwei verheirateten Nichten mit ihren Männern und dem ersten Urenkelkind, meine Frau und meine Tochter und ich wir alle hatten uns um das Bett meiner Mutter versammelt, knabberten Spekulatius und tranken heißen Kakao mit Sahne oder Früchtetee. Und mittendrin, glücklich wie das Christkind selbst, thronte meine Mutter, aufrecht sitzend in ihrem Bett, ohne Schläuche und Apparate, die Brille auf der Nase, in einem adretten rosafarbenen Nachthemd, frisiert und geschminkt wie zu einem Theaterbesuch, strahlte über das ganze Gesicht und brabbelte herrlich dummes Zeug, weitgehend ohne Sinn und Verstand, aber mit jeder Menge Lebensfreude.

Vor drei Tagen war sie aus ihrem komatösen Zustand aufgewacht, und aus irgendeinem Grund zwischen Himmel und Erde, den weder Dr. Fuchs noch wir wirklich verstanden, war so etwas wie eine Seele in ihr wieder zum Leben erwacht, die Seele eines zehnjährigen Mädchens im Körper einer vierundachtzigjährigen Greisin. Immerhin, sie erkannte wieder ihre engsten Angehörigen, konnte lallend und krächzend Gebrauch von ihren Sprachwerkzeugen machen, und wenn man sie auf beiden Seiten stützte, war sie imstande, ein paar trippelnde Schritte über den Flur zu gehen. Ja, sie konnte sogar wieder lesen, behauptete sie zumindest, auch wenn sie die Zeitung auf dem Kopf hielt und die Nachrichten, die angeblich darin standen, allein ihrer außer Rand und Band geratenen Phantasie entsprangen. Aber das war uns egal Hauptsache, sie war glücklich!

»Wenn ich ehrlich bin«, sagte Schwester Gabriele, »keinen Pfifferling hätte ich mehr darauf gewettet, dass ein solches Wunder geschieht.«

Meine Mutter drehte sich zur Seite, schaute erst Schwester Gabriele an, dann ihre zwei Enkeltöchter und ihr Urenkelkind, bis ihr Blick an meiner Frau hängen blieb.

»Machst du einmal ›ei‹ bei mir?«, fragte sie mit verliebten Augen und streckte die Hand nach ihr aus.

»Aber natürlich, Mama.« Meine Frau nahm ihre Hand, strich ihr über die Wange, küsste sie auf die Stirn. »Ei«, sagte und machte sie. Und immer wieder: »Ei, Mama, ei, ei, ei «

Meine Mutter gluckste vor Freude, und meine Frau musste vor Rührung weinen, genauso wie wir alle, meine Schwester und meine Nichten und mein Schwager und ich, einschließlich Schwester Gabriele, als wir dieses Bild sahen. Und während ich mir über die Augen wischte, kam mir ein unheimlicher Gedanke, ein ganz und gar absurder Gedanke, der Gedanke eines Geisteskranken, den ich aber dennoch nicht unterdrücken konnte.

Hatte meine Mutter irgendwie, ohne es zu wissen, aus einem geheimen, dunklen Instinkt heraus, mit ihrem Unfall ihr Leben in die Waagschale geworfen? Damit ich meine Ehe nicht verriet?

Warte auf mich
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