6.
23. März
Was hatte ich in diesem Hotel verloren? In diesem Zimmer? In diesem Bett? Wie eine Katze hatte sie sich in meine Umarmung hineingerollt, als wollte sie darin verschwinden, so wie sie in ihrem Schlaf verschwunden war. Und ich lag wach und starrte in der Dunkelheit an die Decke und wusste nicht, wohin mit meiner Lust, die diese fremde Frau immer wieder in mir weckte, wenn sie sich im Schlaf bewegte, ab und zu flüchtig meine Erektion streifte, ohne es zu merken, mal mit der Hand, mal mit dem Schenkel, mal mit dem Bauch. Wie sollte ich da ein Auge zutun? Gerade die Absichtslosigkeit ihrer Berührungen erregte mich, sodass ich, statt zu schlafen, die ganze Zeit mit angehaltenem Atem darauf hoffte, dass es wieder geschah.
»Du bist ja noch wach«, flüsterte sie irgendwann und räkelte sich in meinem Arm.
Ein Tierchen, das sprechen kann, dachte ich. Ein unglaublich sympathisches, liebenswertes Tierchen, das sich da in meine Arme kuschelt … Ich kraulte ein wenig ihren Rücken. Wieder streifte sie mich mit ihrer Hand. War das eine Aufforderung? Angespannt lauschte ich in die Dunkelheit. An ihrem Atem hörte ich, dass sie noch nicht wieder eingeschlafen war – also war die Berührung kein Zufall gewesen. Vorsichtig tastete ich nach ihrem Höschen.
»Darf ich?«
Statt einer Antwort lüftete sie den Po, damit ich das bisschen Spitze entfernen konnte, und streifte dann auch ihren BH ab. Mein Gott, jetzt war sie nackt, genauso nackt wie ich! Mit sanftem Druck schob ich ihre Schenkel auseinander, und als ich spürte, dass sie nachgab, ja mir sogar ein wenig half, ihr näher zu kommen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Ich hatte schon einmal an ihre Tür geklopft, und sie hatte aufgemacht. Vielleicht würde sie jetzt ein zweites Mal …
So behutsam ich konnte, versuchte ich es und berührte sie. Aber diesmal blieb die Tür verschlossen.
»Es geht nicht«, sagte sie leise und zog sich wieder zurück. »Nicht, weil ich nicht will. Aber es geht nicht.«
Sie sagte das ganz ruhig, ohne jeden Vorwurf, aber doch so klar und entschieden, dass ich keinen zweiten Versuch unternahm. Die Art, wie sie mich zurückwies, war auf brutale Weise ehrlich, so ehrlich wie ihr Körper, der sich mir verschloss. Ich hatte es ja selber gespürt, dass es nicht ging, dass sie nicht bereit war. Trotzdem hatte ihre Zurückweisung nichts Verletzendes. Weil ich spürte, dass sie nicht mich verletzen, sondern nur sich selber schützen wollte. Auch wenn ich nicht wusste, wovor.
Um meiner Anwesenheit in ihrem Bett irgendeinen Sinn zu geben, beschloss ich, für diese Nacht der Hüter ihres Schlafs zu sein. Sie war natürlich schon längst wieder weggeschlummert, und während sie in meinem Arm ganz leise vor sich hin schnorchelte, gab meine Lust endlich klein bei. Wieder konnte ich nicht sagen, ob ich erleichtert war oder enttäuscht. Aber war das nicht vollkommen egal? Aus welchem Grund auch immer fand ich es auf einmal unglaublich schön, hier mit dieser fremden Frau in der Dunkelheit eines Hotelzimmers zu liegen, in dem schon Tausende anderer Menschen vor uns gelegen hatten. Einfach so, ohne dass wir miteinander schliefen, ihren warmen Körper an meinem Körper zu spüren, diesen Körper, der nicht lügen konnte und meine Nähe suchte und sich an mich schmiegte, auch wenn er mich nicht in sich haben wollte. Ohne physische Erregung genoss ich diese wortlose und gleichzeitig so intensive Intimität, die ich nie erfahren hätte, hätten wir in dieser Nacht miteinander geschlafen.
»Miriam«, sprach ich leise ihren Namen aus, zum allerersten Mal in ihrer Gegenwart, so wie man sich kneift, um sich zu vergewissern, dass man nicht träumt. »Miriam …«
Ob es wohl jemanden gab, der sie Mirchen nannte?
Die Vorstellung versetzte mir einen kleinen Stich, und um ihn nicht zu spüren, küsste ich sie auf ihre unablässig zuckenden Lider. In welchem Monat war sie wohl gerade, tief drinnen in der Einsamkeit ihres Schlafes? Immer noch im April? Ich schlug die Decke zurück und stützte mich im Bett auf, um sie in dem schwachen Lichtschein, der durch die angelehnte Badezimmertür zu uns drang, zu betrachten. Ich hatte noch nie im Leben mit einer Frau im Bett gelegen, die so hübsch und trotzdem so wenig mein Typ war. Sie hatte ein sehr niedliches Gesicht, mit einer noch niedlicheren Stupsnase, die unter ihren verwuschelten Haaren neugierig hervorlugte, doch ihr Körper war eher der eines Jungen. Frauen, die mir gefielen, hatten fast immer etwas Bauch und auch sonst deutliche Rundungen. Doch sie war so schlank, dass die Silhouette ihres nackten Körpers sich in kaum erkennbaren Kurven auf dem weißen Laken abzeichnete, und ihr Busen war so klein und fest wie ein Pfirsich, den man noch nicht pflücken darf. Ich musste lächeln. Seltsam, die großen, dunklen Aureolen ihrer Brüste waren genauso scharf konturiert wie die schwarzblauen Ringe um die helle Iris ihrer Augen.
Ich warf einen Blick auf den Radiowecker. Schon vier Uhr. Warum wurde ich eigentlich nicht müde?
Ich hörte ein leises Stöhnen und drehte mich wieder zu ihr um. Ihr Gesicht, das eben noch so entspannt gewesen war, wirkte jetzt gequält, irgendetwas suchte sie im Schlaf heim, unruhig tastete sie mit der Hand nach der Stelle, wo ich gelegen hatte. Plötzlich hatte ich Angst, dass grauer November in ihr war, und ich beugte mich über sie, um ihren schlafenden Körper zu küssen. Ich streifte mit den Lippen ihren halb geöffneten Mund, fuhr an ihrem Hals entlang, umkreiste ihre Brüste und küsste ihren flachen Bauch. Durfte ich das? Oder war das schon etwas, wofür man mich vor Gericht belangen konnte? Vielleicht, ich hatte keine Ahnung. Aber ich hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Ich tat das ja nicht für mich, sondern für sie. Weil ich wollte, dass in ihrem Traum oder in ihrer Seele oder wo immer sie gerade steckte, Mai oder Juni war. Selbst wenn dann an diesem Ort jemand sie küsste, der sie Mirchen nannte.
Irgendwann bin auch ich eingeschlafen.
Als ich aufwachte, lag sie auf dem Rücken, die Arme und Beine von sich gestreckt. Und ich – ich lag mit dem Kopf auf ihrem Bauch, wie ein erschöpfter Liebhaber, mit ihrer rechten Hand auf meiner Brust, genauso nackt und preisgegeben wie sie. Während von draußen das erste Licht des Tages durch die Ritzen der Jalousie drang und die Vögel laut brüllten, merkte ich, wie wenig ich geschlafen hatte.
Zwanzig nach sechs. Um Gottes willen! Zum ersten Mal in dieser Nacht dachte ich an meine Frau. Ich hatte ihr gesagt, dass ich bei Martin schlafen würde, meinem Münchner Freund. Wenn sie ihn jetzt dort anrief, bevor ich bei ihm war …
Plötzlich war das schlechte Gewissen da. Was hatte ich getan? Hatte ich überhaupt etwas getan? Eigentlich nicht, versuchte ich mir einzureden, abgesehen von den wenigen, leidenschaftslosen Küssen, die wir miteinander getauscht hatten, war ja gar nichts passiert, und solche Küsse waren lässliche Sünden, für die ich auf Vergebung hoffen durfte. Aber ich wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Wenn ich mit dieser fremden Frau geschlafen hätte, hätte ich mich nicht halb so schuldig gefühlt, wie ich es jetzt tat.
Ja, ich hatte meine Frau betrogen. Weil diese seltsame Nacht eine der schönsten Nächte gewesen war, die ich je mit einer Frau verbracht hatte.