Kapitel 5

1.

18. April

Viertel vor elf, und immer noch zwanzig Kilometer bis Hamburg. Müde rieb ich mir die Augen. Ich hatte knapp vierhundert Kilometer hinter mir, mit einer Lesung in Lüneburg als einziger Pause. Hätte ich doch die Autobahn Richtung Innenstadt nehmen sollen, statt den Anweisungen meines Navis zu folgen und am Buchholzer Kreuz in die Pampa abzubiegen? Ich setzte den Blinker und ging auf die Überholspur.

Hamburg, ausgerechnet Hamburg. Ich war zuvor vielleicht ein Dutzend Mal in dieser Stadt gewesen, von der alle meine Freunde und Bekannten, vor allem aber meine Frau so sehr schwärmten. Die tollste Stadt Deutschlands! Ich konnte diese Meinung nicht teilen. Ich hatte Hamburg immer nur als eine kalte Pracht empfunden: die Binnenalster mit der ewig sprühenden Fontäne, die weißen Villen und Arkaden, die Luxusboutiquen und Edelrestaurants. Vornehm, hanseatisch, elegant und vor allem versnobt. Kein Ort, an dem ich leben wollte. Und eigentlich auch kein Ort, an dem ich mir das Mirchen vorstellen konnte, zumindest nicht das Mirchen in Chucks und Jeans.

Nervös schaute ich auf die Uhr. Schon fast elf. Sollte ich sie anrufen, um ihr zu sagen, dass ich mich verspätete?

Ich griff gerade zum Handy, da sah ich am Horizont einen orangefarbenen Schimmer. Der dunkle Wald, der bisher links und rechts die Autobahn gesäumt hatte, öffnete sich, und im nächsten Augenblick raste ich mit zweihundert Stundenkilometern in eine gleißende Helligkeit hinein. Der Hamburger Hafen, der die Nacht zum Tage machte. Eine Welt gespenstischer Betriebsamkeit, umflutet von künstlichem Licht, das sich aus Millionen Quellen speiste. Schiffe und Kräne, Werften und Lagerhallen, Speicher und Silos, verbunden von Straßen und Schienen und Kanälen. Und dahinter die Elbe, weit wie das Meer und die Sehnsucht und die Angst.

Mir brach der Schweiß aus. Eine regelrechte Hitzewallung. War das noch die Grippe? Oder waren das meine Hormone? Mein Freund Martin behauptete immer, auch Männer hätten die Wechseljahre. Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte, Biologie war nie meine Stärke gewesen. Ich wusste nur, dass, wenn es die männlichen Wechseljahre tatsächlich gab, ich genau im richtigen Alter dafür war.

Um zwanzig nach elf erreichte ich endlich die Straße, in der Miriam wohnte. Curschmannsweg. Doch es dauerte noch mal zehn Minuten, bis ich einen Parkplatz fand.

Ich schaltete den Motor aus und stieg aus dem Wagen. Tief atmete ich die kühle Nachtluft ein. Sollte ich gleich mit meinem Koffer bei ihr aufkreuzen oder nur mit der Flasche Wein, die ich in Lüneburg gekauft hatte?

Obwohl der Parkplatz einen halben Kilometer von ihrem Haus entfernt lag, entschloss ich mich, nur den Wein mitzunehmen. Den würde ich auf jeden Fall diese Nacht brauchen. Den Koffer vielleicht erst im Hotel. Falls sie mich im Laufe der Nacht rausschmeißen würde.

Um fünf nach halb zwölf stand ich vor ihrer Haustür und schaute an dem Gebäude hinauf, einem hübsch renovierten Altbau. Nur hinter einem einzigen Fenster brannte noch Licht. Für einen winzigen Moment hoffte ich, es wäre alles nur ein Traum und sie würde gar nicht hier wohnen. Doch dann sah ich ihren Namen auf dem Klingelschild, MIRIAM BACH, und mein Herz begann zu rasen, vor Aufregung und Hoffnung und Angst. Als wäre ich nicht fünfundfünfzig, sondern fünfzehn.

Warte auf mich
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