2.

Fünf lange Wochen. So unendlich viel Zeit lag vor ihr, ehe sie Philipp das nächste Mal sehen würde. Erst Mitte November hatte er einen Termin in München, bei dem sie sich erneut treffen könnten. Unschlüssig stand sie vor der großen Deutschlandkarte, die sie in ihrem Wohnungsflur aufgehängt hatte und auf der sie nach jeder Rückkehr von einem Treffen mit Philipp die Orte ihres Zusammenseins mit verschiedenfarbigen Stecknadeln markierte: die Topografie ihrer Himmelfahrten. Welche Farbe sollte sie Frankfurt geben? Die meisten Orte waren mit roten Stecknadeln markiert, die höchste Auszeichnung, die sie zu vergeben hatte, nur ein paar wenige waren blau oder grün, keine einzige gelb oder weiß.

Miriam zögerte, dann nahm sie eine blaue Nadel und steckte sie in die Karte. Frankfurt war wie ein Rausch gewesen, fast eine ganze Woche hatten Philipp und sie miteinander verbracht, gemeinsam und nach außen doch getrennt, denn schließlich hatte niemand etwas von ihrer Liebe merken sollen. Ein prickelndes Versteckspiel. Aber gleichzeitig auch bedrückend, denn wie gern hätte sie ihn mitten in einer der Ausstellungshallen in den Arm genommen und allen gezeigt, dass sie ein Paar waren. Am letzten Abend, auf der finalen Party, hatten sie sich dann sogar einmal vor aller Augen geküsst – aber das hatte wenig zu bedeuten, so etwas kam bei solchen Feiern öfter vor und war wenige Tage nach der Messe wieder vergessen.

Aber es war nicht vergessen, nicht für sie, so wenig wie der missglückte Abschied in Frankfurt. Auch wenn Philipp versucht hatte, ihn vergessen zu machen. Gleich nach ihrer Ankunft in Hamburg hatte sie von ihm eine Kurznachricht auf dem Handy erhalten.

Es war wunderbar, mit dir zu tanzen und dich zu küssen. Wie sehr wünschte ich mir, wir könnten das jeden Tag haben! P.

Ob er wusste, wie sehr seine Worte sie gleichermaßen freuten und doch auch trafen? Weil es ja nichts gab, was sie sich mehr ersehnte. Nichts, was sie sich mehr wünschte, als mit Philipp auch öffentlich ein Paar sein zu können. Allen zeigen zu dürfen, dass sie zusammengehörten.

Hätte seine Frau nur fünf Minuten später angerufen. Fünf kleine verdammte Minuten. Dann hätte sie Frankfurt mit einer roten Stecknadel markiert.

Sie griff zum Hörer und rief Carolin an. Bisher hatte sie ihrer besten Freundin nicht sonderlich viel von Philipp erzählt, außer dass sie mit ihm trotz der verfahrenen Situation sehr glücklich war. Aber nach den vergangenen rauschhaften Wochen musste sie dringend mit jemandem sprechen, der ihr half, ihre Gedanken zu sortieren. Mit jemandem aus dem »richtigen« Leben.

»Und? Wie war’s?«

»Wunderschön«, seufzte sie. »Aber auch traurig.«

»Traurig?«

»Na ja. Einerseits macht das Versteckspiel Spaß, andererseits …« Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. »Als er mich gestern Mittag zum Bahnhof gefahren hat, rief seine Frau an. Du hättest sehen sollen, wie er aus dem Auto sprang, wie von der Tarantel gestochen, um das Gespräch entgegenzunehmen. Das hat mich doch ziemlich unsanft auf den Boden der Realität zurückgeholt.«

»Auf den Boden der Realität?«

»Die letzten Wochen waren einfach wunderschön. Aber dieses kleine Telefonat hat alles kaputt gemacht.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, die Sache zu beenden.«

»Ich kann ›die Sache‹, wie du es nennst, nicht beenden.«

»Dann musst du weitermachen.«

»Danke für den Tipp!«

»Ich meine doch nur, dass es ja nur diese zwei Möglichkeiten gibt. Entweder du machst Schluss, oder du spielst bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag mit.«

»Ich hoffe eben nur … also, ich dachte, dass es irgendwann leichter wird, mich von Philipp zu trennen.«

»Und wird es leichter?«

»Nein. Im Gegenteil. Je länger ich ihn kenne, je öfter ich ihn sehe, desto mehr habe ich das Gefühl, dass wir einfach füreinander geschaffen sind.«

»Und Philipp?«

»Dem geht es genauso.«

»Das glaube ich nicht.« Sie hörte ein Rascheln am anderen Ende der Leitung, kurz darauf ein verhaltenes Schmatzen, offenbar aß Carolin irgendetwas, ein Umstand, der Miriam in diesem Moment fast rasend machte. »Dann würde er sich anders verhalten«, fügte ihre Freundin hinzu.

»Wie denn?« Sie musste sich Mühe geben, Caro nicht anzuschnauzen.

»Sich von seiner Frau trennen, zum Beispiel?«

»Das kann er nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil er sie liebt.«

»Dich liebt er aber angeblich auch.«

»Ja.«

»Mirchen.« Carolin seufzte laut. »Das ist doch totaler Unsinn. Der Mann lügt wie gedruckt und hält dich nur hin.«

»Tut er nicht.« Jetzt wurde sie doch laut. »Du verstehst das nur nicht!«

»Alles, was ich verstehe, ist, dass er dich offenbar einer kompletten Gehirnwäsche unterzogen hat.«

»Hat er nicht! Ich will das ja auch.«

»Wirklich?«

»Was meinst du?«

»Willst du das wirklich auch? Weiter seine Geliebte sein? Ihn immer nur alle paar Wochen sehen, heimlich und in irgendwelchen Hotelzimmern? Willst du für immer die Frau im Schatten bleiben?«

»Lass mich in Ruhe!« Miriam legte einfach auf.

Doch Carolins Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. In den vergangenen Wochen hatte sie sich verboten, darüber nachzudenken, wie Philipps und ihre Realität eigentlich aussah. Hatte sich geweigert, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es mit ihnen außerhalb ihrer Himmelfahrten weitergehen würde, welche Zukunft sie haben könnten. Besser gesagt: Sie hatte sich jeden Gedanken daran verboten, dass sie schlicht keine gemeinsame Zukunft hatten. Jetzt nicht und auch nicht irgendwann.

Sie schnappte sich ihr Handy, ging ins Wohnzimmer und ließ sich dort auf das Sofa plumpsen. Während sie die vielen, vielen Bilder betrachtete, die sie von sich und Philipp bei ihren gemeinsamen Himmelfahrten geschossen hatte, liefen ihr plötzlich Tränen übers Gesicht. Denn jetzt, allein in ihrer Hamburger Wohnung, Philipp weit weg von ihr und zu Hause bei seiner Frau, wurde ihr einmal mehr mit aller Brutalität bewusst, dass das, was Philipp und sie miteinander hatten, nur eine Illusion war. Das war alles, mehr war es nicht.

Was Philipp jetzt gerade wohl tat? War er nach Hause gekommen, hatte seine Frau mit einem zärtlichen Kuss begrüßt und ihr dann erzählt, die Messe sei wie üblich anstrengend und langweilig gewesen? Hatten sie danach miteinander gekocht, auf dem Sofa aneinandergekuschelt einen Film gesehen, um danach ins Bett zu gehen und nach einer Woche Trennung miteinander zu schlafen? Schliefen sie vielleicht GERADE JETZT miteinander, während sie, Miriam, einsam bei sich zu Hause saß und weinte? Bei dem Gedanken stieg eine unerträgliche Traurigkeit in ihr auf. Traurigkeit und Wut. Wie konnte er das? Erst eine Woche mit ihr verbringen und danach wieder, husch, ab ins Körbchen zur wartenden Ehefrau? Wie konnte er Miriams nackte Haut streicheln, ihr Liebesworte ins Ohr flüstern, von ihrem Körper mit seinem Körper Besitz ergreifen, und das Gleiche dann nur Stunden später mit seiner Frau tun? Wie, wie, WIE? Musste er sich Mühe geben, um ihre Namen nicht zu verwechseln? Sie nannte er Mirchen, welches Kosewort er wohl für seine Frau hatte? Fühlte er sich wenigstens schlecht, wenn er mit ihr schlief, obwohl Miriams Geruch noch in jeder seiner Poren hing?

Sie schüttelte sich. Mit einem Mal kam ihr alles, was sie bis vor Kurzem noch als wunderschön und traumhaft empfunden hatte, nur noch abgeschmackt und schal vor. Ekelhaft. Widerlich. Carolin hatte recht, Philipp log, dass sich die Balken bogen, log nicht nur seine Frau an, sondern auch Miriam. Wie sollte sie auch etwas anderes glauben, der Mann war ein Betrüger, warum sollte sie davon ausgehen, dass er ihr gegenüber auch nur einen Deut aufrichtiger war als bei seiner Frau?

Es war unfair von Philipp. Unfair, unfair, UNFAIR! Allen gegenüber. Gegenüber seiner Frau, die nichts ahnte, unfair gegenüber Miriam, die an ihm hing wie ein verendendes Insekt am Fliegenfänger, unfair sogar sich selbst gegenüber, denn am Ende würde auch Philipp nur als Verlierer dastehen, möglicherweise sogar ganz allein, weil er sie beide verlieren würde. Nein, sie würde, sie musste das beenden. Sie hatten ihre Himmelfahrten gehabt, Miriam hatte jede einzelne davon genossen, aber nun würde es gut sein müssen. Ein halbes Jahr Unvernunft, das mochte ja noch angehen, aber jetzt stand der Winter vor der Tür, und es war höchste Zeit, dass sie sich von Philipp trennte, bevor sie dieses Spiel wirklich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag fortführen würde.

Sie nahm ihr Handy, öffnete WhatsApp und wollte lostippen. In diesem Moment traf eine Nachricht von Philipp ein.

Mein Süßkind, ich denke gerade ganz stark an dich und fühle, dass es dir nicht gut geht, dass du zweifelst und traurig bist. Mir geht es ja genauso, seit du nicht mehr bei mir bist, tut sich wieder dieses schwarze Loch in mir auf, und ich fange wieder an, mir all die überflüssigen Sorgen und Gedanken zu machen wie früher, als ich dich noch nicht kannte. Aber wir dürfen nicht zweifeln, bitte, tu das nicht, von dir getrennt zu sein ist das Schlimmste, was es gibt. Wenn ich auch keinen Ausweg weiß, dann doch immerhin das: Ich liebe dich! À jamais et pour toujours. Philipp.

Sie legte das Handy zur Seite, rollte sich auf dem Sofa zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Warte auf mich
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