5.
Drei Tage lang, seit sie Philipp ihre Adresse geschrieben und ihm gesagt hatte, dass er sie besuchen kommen könne, hatte sie nachgedacht. Nachgedacht darüber, wie sie es ihm sagen, wie ihm erklären könnte. Doch nun, als er vor ihr stand und Viggo mit unverhohlener Überraschung anstarrte, wusste sie, dass sie nichts mehr erklären musste.
»Viggo«, sagte sie zu ihrem Sohn und ließ ihn von ihrem Arm zu Boden, »das ist Philipp, ein alter Freund aus Deutschland.«
»Hallo«, sagte Philipp, lächelte Viggo an und streckte ihm die Hand hin.
»Hi«, antwortete ihr Sohn, machte aber keine Anstalten, die Hand des fremden Mannes zu ergreifen, sondern versteckte sich stattdessen hinter ihren Beinen.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Er ist etwas schüchtern.«
»Spricht er Deutsch?«
»Klar!«, antwortete Viggo an ihrer Stelle und wagte sich jetzt ein Stückchen hinter ihr vor.
Philipp ging vor ihm in die Knie. »Dann bist du ja ein ganz Schlauer«, sagte er, woraufhin ein stolzes Grinsen auf Viggos Gesicht trat.
»Das hat er von seinem Vater.« Es rutschte ihr einfach so raus, ohne dass sie es hatte verhindern können. Philipp schwieg und stand wieder auf. »Viggo, Mama muss jetzt etwas besprechen, gehst du rein zu Papa?«
»Okay.« Der Junge warf Philipp noch einen letzten neugierigen Blick zu, dann rannte er durch die offene Tür ins Haus.
»Gut«, wandte Miriam sich an Philipp. »Dann lass uns reden. Am besten, wir gehen runter ins ›Fitzgerald’s‹, da hab ich dir auch ein Zimmer reserviert.«
Während sie den Hügel hinab zu dem Pub schlenderten, sagte keiner von ihnen ein Wort. Erst, als sie an einem Tisch in der Ecke Platz genommen und zwei Bier bestellt hatten, eröffnete Philipp das Gespräch.
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Kannst du dir das denn nicht denken?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Sie senkte den Blick, betrachtete angestrengt ihre Finger, die mit einem Bierdeckel spielten. »Weil ich … weil ich …« Sie verstummte.
»Weil du was?« Er legte eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie sanft dazu, ihn anzusehen.
»Weil ich wusste, dass du kein Kind mehr willst. Weil ich wusste, dass es dein Leben total auf den Kopf stellen würde, und ich dich zu nichts zwingen wollte.«
Er starrte sie fassungslos an. »Deshalb hast du es mir nicht gesagt? Deshalb bist du damals nicht zu dem Konzert gekommen und hast stattdessen mit Thomas …«
»Das mit Thomas war eine Lüge«, unterbrach sie ihn. »Was hätte ich dir denn sonst schreiben sollen? Am Morgen vor dem Konzert habe ich einen Schwangerschaftstest gemacht, weil ich mich so komisch fühlte. Und als er positiv war, war ich wie vor den Kopf geschlagen.« Jetzt lächelte sie und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Das war so absurd, so vollkommen absurd! Mir war klar, dass es in Hagen passiert sein muss, in unserer letzten gemeinsamen Nacht.«
»Als ich dir gesagt habe, dass ich kein Kind mehr will«, sprach er tonlos weiter.
»Ja. Genau da muss es passiert sein.«
Er griff nach ihrer Hand. »Aber du hättest es mir doch trotzdem sagen können. Sagen müssen!«
»Zuerst wollte ich das auch. Aber an dem Tag, an dem ich mittags nach Düsseldorf fahren wollte, wusste ich auf einmal, dass es falsch gewesen wäre. Falsch, dir etwas aufzuzwingen, was du nicht willst.«
»There you go, two pints of Guinness.« Maurice, der fast achtzigjährige Inhaber des »Fitzgerald’s«, trat an ihren Tisch und stellte geräuschvoll zwei große Gläser ab. Abwartend blieb er neben ihnen stehen und betrachtete Philipp mit unverhohlener Neugier.
»Maurice«, sagte Miriam und fühlte eine unerträgliche Anspannung in sich aufsteigen, gab sich aber Mühe, sie nicht zu zeigen. »This is Philipp, a friend from Germany.«
»Oh, Deutscheland!«, sagte Maurice und grinste. »Prost!«
»Sláinte«, erwiderte Philipp lächelnd und hob sein Glas, offenbar hatte er sich vor seiner Abreise ein wenig mit dem Irischen vertraut gemacht. Maurice zog lachend wieder ab.
»Trotzdem«, sagte Philipp nun leise. »Du hättest es mir sagen müssen.«
»Es tut mir leid. Ich dachte, ich hätte die richtige Entscheidung getroffen.«
»Indem du mir weisgemacht hast, du hättest mich wegen Thomas verlassen?« Jetzt klang er nahezu aufgebracht, der Griff um ihre Hand wurde fester.
Sie schüttelte den Kopf. »Indem ich dich glauben ließ, ich hätte ein Leben gefunden, in dem ich ohne dich glücklich sein kann.«
Er sah sie nachdenklich an, sein Griff wurde wieder etwas zärtlicher. »Und?«, fragte er. »Bist du glücklich?«
»Ja«, sagte sie. »Ich habe mit Aaron einen Mann, den ich liebe und den ich nicht teilen muss. Und ich habe das Kind, das ich mir immer gewünscht habe.«
»Weiß Viggo …« Er ließ den Satz in der Luft hängen.
»Nein. Aaron ist wie ein Vater für ihn, ich habe ihn kennengelernt, als Viggo gerade ein Jahr alt war. Wenn er etwas größer ist, werden wir es ihm natürlich sagen.«
»Gut«, sagte Philipp und sie merkte, dass er Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. »Gut«, wiederholte er dann noch einmal. »Vielleicht hattest du recht, und es ist wirklich am besten so.«
»Das glaube ich sogar ganz sicher.« Sie sagte diese Worte, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, ob es stimmte. Aber selbst, wenn es nicht so war – damals hatte sie keine andere Wahl gehabt.
»Was ist mit der anderen Sache?«, unterbrach er ihre Gedanken.
»Welche andere Sache?«
»Das Buch. Deshalb bin ich doch hergekommen, wir wollten über das Buch reden. Ob wir es miteinander zu Ende schreiben können.«
Nun war es an ihr, mit den Tränen zu kämpfen. »Philipp«, flüsterte sie. »Das ist doch nicht wahr. Wie sitzen hier doch nicht, um über irgendein Buch zu reden.«
»Nicht irgendein Buch!«, erwiderte er heftig. »Unser Buch!«
»Es gibt kein ›unser Buch‹.«
»Doch, das gibt es. Ich hab es geschrieben, und du hast es auch. Wir müssen es nur vollenden.«
Sie sah ihn lange an. »Es gibt schon ein Ende«, sagte sie nach einer Weile. »Und außerdem schreibe ich nicht mehr.«
Er holte Luft, öffnete den Mund, als würde er etwas sagen wollen – doch dann schloss er ihn wieder und schwieg. So saßen sie da, stumm vor ihren Guinnessgläsern, von denen keiner einen Schluck getrunken hatte. Maurice sah vom Tresen aus immer wieder zu ihnen rüber, aber sie nahmen keine Notiz von ihm.
»Ich glaube, ich fahre jetzt wieder«, sagte Philipp nach einer gefühlten Ewigkeit.
»Jetzt? Aber du wolltest doch über Nacht bleiben.«
»Ich kann nicht. Es ist besser, wenn ich noch heute zurück nach Deutschland fliege.«
»Es ist schon gleich sechs, heute kriegst du keine Maschine mehr.«
»Dann übernachte ich irgendwo in Dublin.«
Sie wollte ihm erneut widersprechen, aber ein Blick in seine Augen sagte ihr, dass er seine Entscheidung bereits getroffen hatte.
»Lass uns gehen«, sagte Philipp und legte einen Zehner für ihre Getränke auf den Tisch. Unter den verwunderten Augen von Maurice verließen sie den Pub, spazierten den kurzen Weg zurück zum Haus. Vorm Gartentor blieben sie voreinander stehen.
»Danke«, sagte Philipp.
»Danke?«
»Dafür, dass es dich in meinem Leben gab. Und dafür, dass du mir eine Antwort gegeben hast. Eine Antwort, die ich verstehen kann.«
Sie schloss die Augen, lange würde sie die Tränen nicht mehr zurückhalten können. Obwohl sie nicht gelogen hatte, obwohl sie wirklich glücklich war mit dem Leben, das sie jetzt führte, spürte sie einen schrecklichen Schmerz in sich, einen Schmerz, der nie vollständig vergangen war.
»Mirchen.«
Sie öffnete die Augen und sah ihn an.
»Ich habe noch eine Frage.«
»Welche?«
»Warum hast du mit dem Schreiben aufgehört? Das hast du doch geliebt, warum hast du es einfach so aufgegeben? Du bist doch keine Übersetzerin, sondern eine Schriftstellerin! Du musst doch deine eigenen Geschichten schreiben!«
Statt ihm eine Antwort zu geben, schüttelte sie nur hilflos den Kopf, der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Kehle zu. Er hob eine Hand, streichelte damit sanft über ihre Wange, sein Gesicht war ihrem so nah, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Langsam, ganz langsam beugte er sich zu ihr hinunter, sanft berührten seine Lippen die ihren zu einem zärtlichen Kuss.
»Bitte geh jetzt.«
Sie flüsterte die Worte nur. Sie konnte sie nicht lauter sagen, denn in ihrem Innern schrie doch in Wahrheit alles danach, ihn darum zu bitten, bei ihr zu bleiben. Für immer. Aber sie wusste ja, dass es nicht ging. Weil er eben nicht nur sie liebte, sondern auch seine Frau. Weil sie von ihm schon alles hatte, was er ihr jemals geben könnte. Und dass sie – auch das war ein Teil der Wahrheit – doch auch wirklich glücklich war, glücklich in ihrem Leben mit Aaron, der zwar nicht Viggos Erzeuger, aber doch sein Vater war.
»Gut, ich gehe.«
Trotzdem blieb er vor ihr stehen, als warte er darauf, dass sie irgendetwas tat. Ihn umarmte, ihm vielleicht sogar um den Hals fiel, dabei weinte oder auch lachte, irgendetwas eben, damit er nicht sofort ging. Sie tat es nicht. Also wandte er sich ab, ging mit langsamen Schritten den Weg zur Hauptstraße hinunter. Und drehte sich nicht mehr nach ihr um.