5.
19. April
Endlich, endlich küssten wir uns, so selbstverständlich, als könnte es gar nicht anders sein. Unsere Hände hatten für uns entschieden. Sie hatten sich sofort wiedererkannt, kaum dass sie einander berührten. Ohne zu fremdeln wie wir, hatten sie in der Berührung gefunden, wonach wir uns selber so sehr sehnten, hatten uns das Denken und Zögern und Wägen und Zweifeln abgenommen und taten an unserer Stelle das, was wir beide füreinander empfanden, uns aber nicht zu fühlen trauten und nicht auszusprechen wagten.
»Ich liebe dich. Ich weiß nicht, warum, verdammt. Aber ich liebe dich.«
Die Worte verließen meinen Mund, ehe ich sie stoppen konnte, und auch wenn ich mit meinem Verstand erkannte, dass es mehr als verrückt war, einer vollkommen fremden Frau eine Liebeserklärung zu machen, wusste mein Herz umso mehr, dass es einfach so fühlte. Mein Herz. Und mein Körper.
Wie anders waren diese Küsse als unsere ersten Küsse im Kaiserhof! Diese Küsse waren Musik, ein einziges, wunderbares Versprechen auf ein Leben, das es vielleicht doch gab, eine Verheißung, die zugleich Angst machte vor ihrer eigenen Verwirklichung.
Würde das Leben halten, was diese Küsse versprachen?
Während wir uns all die Dinge ins Ohr flüsterten, die wir uns durchs Telefon in dunkler Nacht gesagt hatten, fingen wir irgendwann an, uns gegenseitig auszuziehen. Wer damit angefangen hatte, konnte ich nicht sagen, ich wusste nur, dass ich kein anderes Bedürfnis mehr verspürte, als Miriam nahe zu sein, so nah wie nur irgend möglich, bis ich nicht mehr unterscheiden konnte, was ihr und was mein Körper war, wer sie und wer ich. Die Münder miteinander verschmolzen, Arme und Beine ineinander verschlungen, stolperten wir über den Flur ins Schlafzimmer.
Plötzlich waren wir nackt und lagen auf ihrem Bett.
»Mirchen …«
»Ja, Philipp …?«
Ich schaute in ihre Augen, konnte aber nicht erkennen, welcher Monat in ihr war. Ich sah nur dieses überhelle Blau, umgeben von zwei dunklen, fast schwarzen Irisringen, und für einen Moment dachte ich, sie würde mich wieder zurückweisen, wie damals in München, wieder die Tür vor mir verschließen, die sie einen Spalt weit geöffnet hatte, um mich eine weitere Nacht in meinem eigenen Verlangen einzusperren, in meinem Verlangen und in meiner verzweifelt süßen Hoffnung auf ihre Berührung.
»Worauf wartest du?«, flüsterte sie. »Komm doch endlich – bitte.«
Auf einmal war ich in ihr, so unverhofft und gleichzeitig so selbstverständlich, genauso wie wir damals, auf der Jubiläumsparty des Verlags, voreinandergesessen hatten, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen war. Und wie damals unsere Hände miteinander gespielt hatten, so spielten jetzt unsere Körper miteinander, suchten und belauerten sich, wollten Abstand und Nähe zugleich, wanden sich ineinander und lösten sich voneinander, nur um sich aufs Neue zu verschränken und zu verbinden, raunten und flüsterten einander alle Zärtlichkeit zu, die wir in uns spürten, während unsere Seelen sich immer tiefer und tiefer ineinanderschmiegten, bis wir miteinander verschmolzen waren, ganz und gar, in einem sprachlosen, ewigen Augenblick. Sie war ich, und ich war sie, und keiner von uns wusste, wo der eine anfing und der andere aufhörte.
»Wann hast du zum ersten Mal gewusst, dass du wirklich mit mir schlafen willst?«, fragte ich sie, als wir anschließend Arm in Arm nebeneinanderlagen.
»In dem Moment, in dem ich dich aufgefordert habe, zu mir zu kommen«, sagte sie.
»Du meinst – nach Hamburg?«
»Nein. Zu mir.«
Ich war stumm vor Glück. Und während ich noch ihren Kuss auf meinen Lippen schmeckte, sah ich das warme, dunkle, intensive Leuchten in ihren Augen.
Ein Sommerabendhimmel im April.