5
Ventura, Kalifornien
Lily und Christopher Rendell saßen auf dem Balkon ihres neuen Zuhauses und tranken eine Flasche Merlot. Die salzige Seeluft ließ es kühler wirken, als es tatsächlich war, und sie hatten sich beide in ihre Frotteebademäntel gewickelt.
Das Haus hatte zwei Schlafzimmer und war nicht besonders groß, doch es waren nur wenige Schritte zum Strand, und Lily liebte es. Der Balkon lag ein paar Meter über dem Boden, um das Haus vor der Brandung zu schützen, andernfalls hätten sie einfach aus der Terrassentür direkt ans Meer laufen können. Das Gebäude war zwanzig Jahre alt, mit einer großzügigen Küche, zwei holzbefeuerten Kaminen und einem gemütlichen Raum mit hoher Decke, der als Wohnzimmer diente. Es gab kein Esszimmer, doch entlang der Küchenwand verlief eine marmorne Theke, und außerdem hatte Lily einen Tisch hineingequetscht, an dem vier Personen sitzen konnten.
Der Makler hatte Lily erzählt, dass der ehemalige Besitzer in Beverly Hills lebte und das Haus nur ein- oder zweimal im Monat bewohnt hatte. Die Wirtschaftsflaute hatte die Reichen offenbar mehr getroffen als den Durchschnitt, und Lily befreite sie nur zu gern von der Last ihres Strandhauses.
Lily hatte gerade geduscht, und das rote Haar lag ihr in feuchten Kringeln auf der Schulter. Vor der Rezession hätte sie sich niemals ein Haus am Wasser leisten können, auch wenn die Immobilienpreise in Ventura nur einen Bruchteil von jenen in anderen Badeorten ausmachten.
Die Stadt war rund um die alte Mission San Buenaventura entstanden, die 1782 gegründet worden war. Auf der einen Seite erstreckten sich kilometerlange Sandstrände, an denen die Villen der Millionäre mit eigenen Bootsanlegestellen standen. Der Rest der Stadt hatte sich in die Gebirgsausläufer ausgebreitet, wo es wunderbare Ausblicke auf den Pazifik gab. Anders als Santa Barbara, das nur zwanzig Meilen weiter nördlich lag, hatte sich Ventura nicht zu einem Spielplatz der Reichen und Berühmten entwickelt. Ein paar neue Geschäfte und Restaurants hatten im Laufe der Jahre eröffnet, aber im Großen und Ganzen war alles gleich geblieben. Lily fand Ventura ein wenig lahm, so, als stecke die Stadt unter einer angestaubten Blase, die sie dort verharren ließ, wo sie vor zwanzig Jahren stehengeblieben war. Dazu trugen auch die Farmergemeinden in der Umgebung bei, die hauptsächlich Avocadofelder bewirtschafteten. Der spanische Einfluss war noch immer spürbar, wobei er nicht so kultiviert worden war wie in Santa Barbara, wo wunderschöne Häuser im Missionsstil entstanden waren und die neuen Bauten der bestehenden und sorgfältig renovierten Architektur angepasst worden waren.
Chris beugte sich vor. »Warum darf ich nicht mit hinauffliegen?«
»Ich denke einfach, dass es keine gute Idee wäre«, antwortete Lily und kaute an einem spitzen Nagel. Chris war die Erfüllung ihrer Träume, er war intelligent, einfühlsam und romantisch. Anders als bei Bryce war sie sich bei ihm sicher, dass er ihr treu bleiben und ein wunderbarer Stiefvater für Shana sein würde. Vor drei Monaten hatte er Lily gebeten, ihn zu heiraten, und sie war überglücklich gewesen, hatte aber dennoch gezögert. Sie hatten beschlossen, erst einmal zusammenzuleben, bevor sie sich endgültig entschieden, also war Chris in Lilys neues Haus am Strand gezogen und hatte sein eigenes Haus für sechs Monate vermietet.
Chris war Richter am Municipal Court. Nur schwere Gewaltverbrechen kamen bis vor das Superior Court. Alles andere wurde im Amtsgericht abgehandelt, das intern »der Zoo« genannt wurde, weil immer ein großes Chaos herrschte. Chris legte womöglich zwanzig Fälle an einem Tag bei, wohingegen die Verbrechen, die Lily verhandelte, Monate in Anspruch nehmen konnten. Die einzige Rettung für die Richter am Superior Court waren die Vergleiche, die die Parteien miteinander aushandelten. Ohne sie wäre Lily mit ihren Terminen hoffnungslos im Rückstand gewesen.
Lily konnte an nichts anderes denken als an Shana. Sie hatte für den morgigen Abend einen Flug nach San Francisco gebucht. Um rechtzeitig am Flughafen von L.A. zu sein, müsste sie die Verhandlung frühzeitig schließen. An Freitagabenden war der Verkehr auf dem Freeway 405 ein Alptraum und völlig unberechenbar. Egal, wie viel Zeit man einplante, es konnte immer noch passieren, dass man den Flug verpasste.
Es war ein Risiko, mitten in einem Gerichtsprozess dieser Größenordnung zu verreisen. Wenn sie aus irgendeinem Grund nicht pünktlich wiederkäme, konnte Richter Hennessey ihr eine offizielle Rüge erteilen. Ein Richter, der bei einem Mordprozess nicht erschien, noch dazu einem, in dem es um die Todesstrafe ging, beging beruflichen Selbstmord. Den Vorgaben der Justizverwaltung zufolge waren nicht die Anwälte oder Kläger, sondern allein der Richter dafür verantwortlich, die Prozessdauer zu überwachen. Um Verzögerungen zu vermeiden und den Zeitplan im Prozess einzuhalten, bedurfte es eines großen richterlichen Engagements.
Die Arbeit, die einem Gerichtsverfahren vorausging, war oftmals noch zeitaufwendiger als der eigentliche Prozess. Sollte sich herausstellen, dass Shanas Probleme ernster waren, als Lily ahnte, müsste sich ein neuer Richter von Anfang an in den Fall einarbeiten. Wenn sich alles zu sehr verzögerte, konnte die Verteidigung gegen einen Verfahrensverstoß klagen, mit dem Argument, dass dem Klienten eine zeitlich angemessene Bearbeitung verwehrt worden war.
Dazu kam, dass Lily, sobald sie einen Fall zugeordnet bekam, alles Mögliche versuchen musste, die beiden Parteien zu einem Vergleich oder einer Beilegung des Falls zu bewegen. Silversteins Entschlossenheit, Noelle Reynolds zum Tode zu verurteilen, hatte dies jedoch unmöglich gemacht. Letztendlich war nicht das Recht ausschlaggebend. Es ging nur um Zeit und Termine.
»Hast du mir zugehört, Lily?«, fragte Chris. »Ich habe mir meine Prozessliste angeschaut. Bis zum frühen Nachmittag bin ich mit allem durch. Dann kann ich mitkommen.«
»Ich möchte, dass du und Shana euch versteht«, sagte Lily. »Sie ist völlig durch den Wind im Augenblick.« Sie nahm ihr Telefon vom Tisch und drückte auf Wahlwiederholung. Als sie Shanas Voicemail erreichte, unterbrach sie die Verbindung. »Ich wünschte, ich müsste nicht bis morgen Abend warten. Es macht mich wahnsinnig, dass ich sie nicht erreichen kann. Sollte ich die Polizei anrufen, damit sie einen Beamten hinschicken, der schaut, ob alles in Ordnung ist?«
»Du hast doch gestern mit ihr telefoniert«, argumentierte er. »Bestimmt geht es ihr gut. Sie wird womöglich wütend, wenn die Polizei vor ihrer Haustür steht. Hast du Sorge, dass sie sich etwas antut?«
Lily atmete tief durch. »Möglich.«
»Für mich klang es so, als müsste sie einfach ein bisschen Luft ablassen. Du hast sie wahrscheinlich zu einem blöden Zeitpunkt erwischt. Ihr Freund hat sie wegen einer anderen verlassen. Sie ist in dem Alter, in dem sie meint, sie sollte verheiratet sein, das macht die Trennung noch trauriger.« Er machte eine Pause und trank einen Schluck Wein. »Was ihr Vorhaben angeht, das Studium hinzuwerfen, denke ich, dass sie einfach völlig ausgebrannt ist. Stanford ist hart. Ich prophezeie dir, dass sich das Blatt bereits gewendet hat, wenn du hinkommst.«
Lily sah ihm in die Augen. »Ich verstehe einfach nicht, warum sie nicht mit mir sprechen will.«
»Sie hat mit dir gesprochen.«
»Ich meine jetzt, Chris. Sie weiß doch, dass ich mir Sorgen mache. Sie könnte wenigstens den Anruf beantworten.«
»Wahrscheinlich ist sie mit Freunden ausgegangen.«
»Aber sie hat nur ein Handy«, erklärte Lily. »Sie nimmt es überallhin mit.«
»Vielleicht hat sie vergessen, es aufzuladen.« Er machte eine Pause und dachte nach. »Hat sie jemals versucht, sich etwas anzutun?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Schon der Gedanke ließ Lily erschaudern. Shana und sie hatten so viel gemeinsam durchgestanden. Wenn man mit einem Kriminellen ums Überleben gekämpft hatte, dann schien der Gedanke an Selbstmord beinahe wie ein Sakrileg.
Lily hatte es überrascht, wie robust sich ihre Tochter erwiesen hatte. Sie hatte den Schrecken dieser Nacht überwunden und war stark gewesen, hatte sich Ziele in ihrem Leben gesteckt und sie all die Jahre verfolgt. Warum wollte sie das alles hinwerfen? Sie war nicht jemand, der leicht aufgab. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung.
»Gestern war sie so feindselig«, sagte Lily und fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Weinglases. »Wir haben uns nicht immer gut verstanden, als sie ein Kind war. Ihr Vater hat sie gegen mich aufgehetzt. Vermutlich dachte er, er könnte dadurch die Scheidung verhindern. Ihm war klar, dass Shana sich für ihn entscheiden würde, weil er sie verwöhnte und ihr alles durchgehen ließ. Er hatte recht, weißt du. Kannst du dir vorstellen, wie schrecklich es für mich war, dass mein eigenes Kind nicht bei mir leben wollte?«
»Nur ein schwacher, unsicherer Mann konnte so etwas tun, Lily«, sagte Chris. »Egal, was war, man darf niemals die Mutter der eigenen Kinder derart verunglimpfen. Bei Scheidungen passiert das dauernd, und es macht mich krank. Meistens benutzt die Frau ihre Kinder, um den Ehemann im Streit um das Sorgerecht zu demütigen. Denk mal darüber nach, was es über Shanas Vater aussagt.«
»Nach der Vergewaltigung waren wir uns sehr nah, aber es hat nicht lange angedauert. Ich wollte Shana nach Stanford schicken, aber ihr war die UCLA lieber, weil sie dann bei ihrem Vater in Los Angeles leben konnte.«
»Warum mochte sie Bryce nicht?«
»Sie konnte ihn einfach nicht ertragen«, erklärte Lily. »Sie stritten sich und hackten aufeinander herum wie Kinder. Später kam ich zu der Überzeugung, dass sie vielleicht mehr Menschenkenntnis besaß als ich.«
»Das bezweifle ich, Lily.«
»Wie auch immer, letztes Jahr hörte sie auf, regelmäßig anzurufen. Ich habe einfach angenommen, dass sie all ihre Freizeit mit Brett verbrachte.«
»Wahrscheinlich war es so.«
Ohne darauf einzugehen, redete Lily weiter. »Ich habe ein paarmal vorgeschlagen, sie zu besuchen, aber sie sagte immer, dass sie zu beschäftigt mit der Uni sei. Auch für mich war das letzte Jahr schwierig. Bryce und ich haben uns scheiden lassen, und du weißt, was dann alles passiert ist. Mein Gott, diese schreckliche Frau hätte mich fast umgebracht, und du meinst, ich besäße Menschenkenntnis?«
Chris schenkte Lily Wein nach. »Deine Tochter hat Schreckliches durchgemacht. Wenn sie darüber hinweggekommen ist ohne Selbstmordgedanken, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie jetzt daran denkt. Sie hat doch nichts in der Richtung gesagt, oder?«
Lily war zu nervös, um sitzen zu bleiben. Sie trat an das Balkongeländer und blickte hinaus auf das Meer, beobachtete, wie ein Paar Hand in Hand ans Wasser ging. Nebel war aufgezogen, und sie konnte nicht viel weiter als bis zur Küstenlinie sehen, doch das Geräusch der Brandung beruhigte sie. Chris stand auf, stellte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Hüfte. »Sie sprach davon, dass sie sich umbringen würde, wenn sie das Examen nicht besteht.«
Chris lachte. »Das war bestimmt nur so eine Redensart. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ähnlich dahergeredet. Alle tun das. Du stehst derart unter Druck. Und die Anwaltsprüfung in Kalifornien ist verdammt fies. Sogar ich bin das erste Mal durchgefallen. Von wegen Panik. Ich war mein Leben lang nirgends durchgefallen.«
Lily war überrascht. »Aber hast du nicht als Bester deiner Klasse abgeschnitten?«
»Schon, aber denk dran, ich war noch ein Kind. Außerdem bin ich gar nicht so schlau, wie alle denken. Ich habe einfach ein verdammt gutes Gedächtnis. Ich kann mir alles merken. Wenn mir aber die Frage vorher noch nicht untergekommen ist oder irgendwie anders gestellt wird, dann bin ich verloren.«
»Das glaube ich dir nicht. Du sagst das nur, damit ich mir weniger Sorgen um Shana mache. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass du Probleme mit dem Examen hattest, weil du noch so jung warst. Wie viele Leute machen mit achtzehn einen Harvard-Abschluss? Mein Gott, Chris, du bist ein Genie. Du kannst dich nicht blöd stellen, damit kommst du bei mir nicht durch.«
Für eine Weile verstummten sie beide. Dann sagte Chris: »Es heißt, dass bei Opfern von Gewaltverbrechen, insbesondere von Sexualverbrechen, die Ereignisse zu einem späteren Zeitpunkt wieder hochkommen. Vielleicht geht es Shana gerade so.«
Lily drehte sich zu ihm um und lehnte sich an das Geländer. »Ich glaube nicht an das Gerede um verdrängte Erinnerungen. Wenn dir etwas Schreckliches zustößt, auch als Kind, dann vergisst du es nicht einfach und erinnerst dich Jahre später plötzlich wieder daran. Den Blödsinn haben sich die Seelenklempner ausgedacht.«
»Aber es gibt Dutzende solcher Fälle. Immer wieder sind Männer oder Frauen aufgrund von jahrelang verdrängten Erinnerungen verurteilt worden. Manche davon müssen doch stimmen, oder?«
In manchen Fragen war Lily kompromisslos. »Vielleicht stimmt es in einem von tausend Fällen. Wenn ein Kind unter fünf Jahren missbraucht wurde, vergisst es das vielleicht, aber dann bleibt es auch dabei. Oft ist es doch so, dass eine Frau Depressionen kriegt, weil die Ehe zerbricht oder sie mit dem Älterwerden nicht fertigwird. Vielleicht ziehen die Kinder aus, oder sie glaubt, dass ihr Mann sie betrügt. Dann macht sie eine Therapie, und ehe sie es sich versieht, hat der Psychologe ihr eingeredet, dass sie als Kind missbraucht wurde und dass das der Ursprung aller Probleme ist.« Sie hob den Finger hoch. »Vergiss nicht, viele Therapeuten benutzen Hypnose. Unter Hypnose ist der Mensch sehr leicht zu beeinflussen. Erinnere dich an den Fall im McMartin-Kindergarten. Diese Leute haben die Hölle erlebt, und es waren alles nur Lügen.«
»Das ist interessant.« Chris steckte die Hände in die Taschen seines Bademantels. »Mir war gar nicht klar, was für eine Skeptikerin du bist, Lily. Du wärst eine gute Wissenschaftlerin geworden. In der Wissenschaft gilt, dass nichts existiert, was nicht bewiesen ist.«
Bevor sie ein Paar wurden, hatte Chris Lily erzählt, dass er noch ein paar Jahre Richter bleiben und dann Theoretische Physik studieren wolle. »Wann willst du übrigens deinen Job aufgeben und mit dem Physikstudium an der Technischen Hochschule beginnen?«
»Wahrscheinlich nie«, antwortete er. »Ich habe ein besseres Spielzeug gefunden.«
»Ja? Und was?«
Er lächelte verführerisch. »Dich.«
Sie streckte die Hand aus und zwickte ihn in den Po. »Du wirst immer sexbesessener.«
»Es wird kalt.« Er verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper. »Gehen wir rein und kuscheln uns unter die Decke.«
Starker Wind war aufgekommen, und Lily hörte nicht, was er sagte. Wenn eine Sache schiefging, dann rechnete Lily damit, dass alles andere um sie herum auch in Scherben ging. Es waren zu viele schlimme Dinge in ihrem Leben passiert. Sie hatte zu viele Fehler gemacht und zu viele Menschen hintergangen, sie hatte die größte Sünde begangen, die ein Mensch begehen konnte. Chris würde sie womöglich verlassen, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Vielleicht wäre es das Beste, es jetzt zu beenden. Aber das konnte sie nicht. Sie liebte ihn zu sehr. Sie liebte es, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen, seinen warmen Körper zu spüren und zu wissen, dass sie ihn bei der Arbeit sehen und am Abend mit ihm nach Hause fahren würde. Doch sie war Pessimistin, und er war ein Optimist. Für sie war das ganz wunderbar, aber sie machte sich Sorgen um ihn.
Als Katholikin wusste sie, wohin sie nach dem Tod kommen würde. Und sie wusste auch, dass es eine Hölle gab, denn sie hatte sie erlebt. Sie konnte nur hoffen, irgendwie der Hölle zu entgehen und stattdessen im Fegefeuer zu landen. Vielleicht könnte sie irgendwann nach zehntausend Jahren in den Himmel hinüberwechseln. Sie würde es nicht besser machen, wenn sie Chris in ihren Alptraum einweihte. Schlimm genug, dass sie sich ständig umschauen musste, ob nicht jemand aus der Versenkung kam, um ihr Leben auf den Kopf zu stellen. Sie liebte Chris tatsächlich, wie konnte sie ihn dann in eine solche Lage bringen? Nach allem, was sie wusste, hatte er ein makelloses Leben geführt. Noch dazu hatte er Frau und Tochter verloren. Er mochte ja daran gedacht haben, den Fahrer des Lastwagens, der den Unfall verursacht hatte, umzubringen, aber er hatte es nicht getan. »Bist du dir sicher, dass du diese Ehegeschichte durchziehen willst? Wir könnten zusammenleben und leidenschaftliche Geliebte sein.«
»Natürlich will ich dich heiraten«, sagte er. »Das ist es, was man tut, wenn man jemanden liebt. Ich will den Rest deines Lebens für dich sorgen, will mit dir alt werden, mit dir sterben und alles, was ich habe, mit dir teilen. Es hat damit zu tun, sich festzulegen und zu wissen, dass man vor Gott ein Bekenntnis abgelegt hat.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wandte sich wieder um, damit er es nicht bemerkte. Wenn sie ihn nur noch eine Weile halten und in seiner Liebe und dem Glück schwelgen konnte. »Ich weiß noch nicht, wann ich so weit sein werde«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig. »Shana braucht mich jetzt, Chris. Sie muss an erster Stelle stehen. Und ich will, dass sie dabei ist, wenn wir heiraten. Nachdem die Sache mit Bryce schiefgelaufen ist, ist es umso wichtiger, dass wir als Familie zusammenwachsen. Shana braucht das, zumal sie ihren Vater verloren hat.«
Er griff nach ihr und drehte sie zu sich. »Es macht mir nichts aus, zu warten, Lily. Ich will dich mit Shana unterstützen, so gut ich kann. Und wir werden eine Familie sein, das verspreche ich. Du musst mir nur vertrauen, dem Schicksal eine Chance geben. Ich freue mich darauf, Shanas Stiefvater zu sein. Ich bin mir sicher, dass wir uns wunderbar verstehen werden.«
Sie blickte durch die Terrassentür zum Couchtisch, auf dem Chris Fotos von seiner Frau und seiner Tochter plaziert hatte. Es war wie ein Schrein, der ein anderes Leben barg. Sie wollte ihm nicht sagen, dass es zu früh für ihn war, wieder zu heiraten. Jeden Abend sah sie ihn dort sitzen und die Gesichter seiner Frau und Tochter betrachten. Als sie sich kennengelernt hatten, waren die Kleider und Spielsachen seiner Tochter überall in seinem Schlafzimmer verstreut gewesen, so, als erwarte er, dass sie jeden Augenblick hereinspaziert käme. »Ich liebe dich, Chris, aber müssen wir unbedingt offiziell verheiratet sein? Ehe ist für mich beinahe schon gleichbedeutend mit Scheidung. Meinst du nicht, dass du gründlicher darüber nachdenken solltest? Warum willst du ausgerechnet jemanden heiraten, der es schon zweimal verbockt hat?«
Ein zuversichtliches Lächeln zog über sein schönes Gesicht. »Es ist nicht deine Schuld, dass du mir nicht früher begegnet bist.« Er zog sie an der Hand. »Lass uns ins Bett gehen. Wenn du nicht mit mir schlafen willst, können wir einfach kuscheln.«
Ihre Stimmung hellte sich auf. Mit einem so wunderbaren Mann an der Seite konnte sie doch nicht niedergeschlagen sein. Lily schob ihre Hand unter seinen Bademantel und spürte seine starke Brust. »Du schuldest mir noch was wegen der schnellen Nummer gestern. Heute will ich die ungekürzte Behandlung.«
Er stellte sich hinter sie und schubste sie spielerisch durch die Balkontür Richtung Schlafzimmer. Mit dem Fuß stieß er die Tür hinter sich zu. Lily wollte kurz nachsehen, ob die Tür auch wirklich geschlossen war, entschied dann aber, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, solange Chris bei ihr war. In dem Moment fiel ihr ein, warum Shana so am Boden zerstört sein mochte. Das arme Mädchen war allein, niemand war da, um sie zu beschützen. Lily musste sich etwas überlegen, und zwar sofort, auch wenn es das Ende ihrer Karriere bedeutete.