16
San Francisco, Kalifornien
Shana lag noch immer, die Pyjamahose um die Knöchel, auf dem Boden. Als sie die Augen öffnete, konnte sie auf der Uhr an der Wand erkennen, dass es bald Zeit fürs Abendessen war. Nachdem die Isolierabteilung nur durch den hüfthohen Stationstresen vom Aufenthaltsraum getrennt war, konnten die Patienten, die sich langsam sammelten, um zur Kantine zu gehen, sie sehen. Sie versuchte aufzustehen und bemerkte, dass sie sich am Bein verletzt hatte. Der Schmerz war quälend, aber schließlich gelang es ihr, die schmutzige Hose hochzuziehen.
Sie humpelte zum Stationszimmer und wartete ab, bis George seine Schlüssel vom Gürtel genommen und die Tür zum großen Saal aufgesperrt hatte. Sie hatte das dringende Verlangen, dem grobschlächtigen Aufseher mit ihrem unverletzten Bein in die Eier zu treten. Doch beim Gedanken an die arme Wanda und die Elektroschockbehandlung entschied sie sich dagegen, und sie ging wortlos an ihm vorbei.
Dr. Morrow und seine Gehilfen schienen sich ihr ureigenstes Sadomaso-Paradies errichtet zu haben, mit allen Schikanen, die nötig waren, um sich ihre Opfer mit Drogen und Folterwerkzeugen gefügig zu machen. Und das Schlimmste daran war, dass sie sich damit herausreden konnten, dass sie das alles nur zum Wohle der Patienten taten.
Nicht lange nach der Vergewaltigung hatte Shana einen Selbstverteidigungskurs besucht. Trotzdem wusste sie, dass sie es mit George und Peggy nicht aufnehmen konnte. Sie fragte sich, welche verborgenen Qualitäten Patienten wie Wanda besaßen, oder all die anderen alten Männer und Frauen, die in ihren Rollstühlen saßen und mit leerem Blick in die Ferne starrten. Diese armen Leute hatten keine Chance, sich gegen die schreckliche Misshandlung in Whitehall zu wehren. Ganz zu schweigen von den zahllosen Alkohol- und Drogenabhängigen, die so aussahen, als seien sie entweder mit zu hohen Medikamentendosierungen oder ebenfalls mit Elektroschocks behandelt worden.
Shana war in eine Schlangengrube gefallen. Wenn sie hier herauskäme, würde sie einen Weg finden, um Whitehall das Handwerk zu legen. Doch bevor sie so weit wäre, müsste sie das Jurastudium abschließen und das Anwaltsexamen bestehen.
Während die anderen Patienten beim Abendessen waren, sah Shana eine grobknochige Frau am Stationstresen stehen, die ein teures blaues Kostüm und um den Hals ein Seidentuch mit Blumendruck trug. Locken ihres dunklen Haars umrahmten ihr Gesicht. Hinter der Brille wirkten die umschatteten Augen wie schwarze Knöpfe, die nur von einem schmalen weißen Rand umgeben waren. Die Pupillen waren extrem erweitert. Shana schlurfte auf sie zu. »Hallo«, sagte sie mit von den Medikamenten schwerer Zunge. »Wer … sind Sie?«
»Dr. Ruth Hopkins«, anwortete die Frau und neigte den Kopf. »Ich habe einen Termin mit einem Patienten, ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen.«
Sie wollte sich abwenden, aber Shana hinderte sie am Gehen. »Sind Sie Ärztin?« Sie studierte das Gesicht der Frau, versuchte sie einzuordnen. Als sie zu wanken begann, drückte sie die Hand der Frau, um nicht umzufallen. »Sind Sie sicher, dass Sie Hopkins heißen? Oh, wie dumm von mir. Natürlich wissen Sie, wie Sie heißen. Ich steh völlig unter Drogen, also nehmen Sie’s nicht zu ernst.«
»Lassen Sie meine Hand los, junge Frau. Sonst muss ich einen Pfleger rufen.«
Etwas stimmte nicht mit der Frau, und es waren nicht nur die erweiterten Pupillen, da war sich Shana sicher. Sie ließ die Hand nicht los, sondern rückte näher an die Frau heran. Sie senkte ihren Blick zu Boden und ließ ihn dann langsam zum Gesicht der Frau hinaufwandern. Im gleichen Moment fing Shana zu lachen an. Sie lachte so sehr, dass ihr die Tränen die Wange hinunterliefen. Es musste an den Medikamenten liegen. Sie verabscheute Morrow so sehr, dass sie ihn überall zu sehen glaubte. »Sie erinnern mich an meinen Psychiater, Dr. Morrow.« Shana legte eine Hand auf den Mund, um einen weiteren Ausbruch zu verhindern. Dr. Hopkins entzog sich wütend ihrem Griff.
»Hey«, sagte Shana, »vielleicht könnten Sie ja meine Ärztin sein. Morrow ist ein Arschloch. Mir wär … eine Ärztin lieber. Sie müssen wissen, ich wurde vergewaltigt …« Ihr wurde klar, was sie da sagte, und sie verstummte. Die Ärztin drehte sich abrupt um und machte, dass sie fortkam.
Shana entdeckte Alex, der an der gleichen Stelle stand wie meist, und sie ging hin, um ihn über Dr. Hopkins auszufragen. Am Tresen saß Lee, die einzige Angestellte in Whitehall, der Shana ein wenig Vertrauen entgegenbrachte. Shana nahm Alex an der Hand und führte ihn in eine Ecke. »Ist Peggy im Dienst?« Sie musste sich an Alex anlehnen, damit sie nicht umfiel.
Alex blickte im Raum umher und wandte sich dann wieder an Shana. »Ich kann sie nirgends sehen. Ich denke, sie geht um vier. Was war mit dir los? Wo bist du gewesen?«
»Sie haben mir irgendwas gegeben … eine Spritze. Und die Sau hat mich geschlagen. Sie hat mich geschlagen!« Shana ging zum Wasserspender und nahm ein paar große Schlucke; ihr Mund und ihre Kehle waren völlig ausgetrocknet. Die Medizin, die sie ihr diesmal verabreicht hatten, war stark gewesen, stärker als das, was sie sonst bekam, von dem Chlorpromazin ganz am Anfang abgesehen.
Sie kehrte zu Alex zurück. »Ist Dr. Hopkins eine gute Ärztin?«
»Es gibt keine Dr. Hopkins.«
»Aber ich habe doch eben mit ihr gesprochen. Sie stand da an der Station.«
Alex lachte. »Die Frau ist eine Patientin, keine Ärztin. Sie wurde etwa um die gleiche Zeit eingeliefert wie du, ist aber heute Nachmittag das erste Mal hier aufgetaucht. Sie ist diejenige, die in der Notaufnahme ununterbrochen ›Amazing Grace‹ gesungen hat. Sie scheint vollkommen durchgeknallt zu sein. Sie läuft mit Tonnen von Modeschmuck herum und erzählt jedem, dass sie Millionärin ist.«
Shana lehnte sich an die Wand und massierte ihr pochendes Bein; sie hoffte, dass die Wirkung des Medikaments endlich nachlassen würde. Als sie sich ein wenig gefasst hatte, wandte sie sich an Alex. »Peggy hat mich heute geschlagen.«
Alex stützte sie mit der Hand. »Stimmt das wirklich? Humpelst du deswegen?«
»Diesmal haben sie’s verbockt«, erklärte sie und legte die Hand auf ihre Stirn. »Ich weiß nicht, was sie mir gegeben haben, aber es war verdammt hartes Zeug.« Die Augenlider waren so schwer, dass ihre Augen nur mehr schmale Schlitze waren.
»Schau mich an, Shana. Hat Peggy dich wirklich geschlagen?«
»Ich erzähl dir, wie es war, okay? Peggy und George haben mich geholt und in die Isolierstation geschafft. George hat mich festgehalten, und Peggy hat mir die Spritze reingehauen. Dann hat sie einfach auf mich eingedroschen. Sie hat irgendwas zu George gesagt, dass ich dauernd Schwierigkeiten mache oder so, ja genau, dass ich eine Nervensäge bin. George hat ihr dann gesagt, dass er gar nicht mit im Zimmer sein dürfte.«
»Warum? Peggy hat dir die Spritze doch in den Arm gegeben, oder?«
»Nein, sie hat sie mir wie immer in den Arsch gehauen.« Shana schloss die Augen und begann zu schwanken; es sah aus, als würde sie gleich zusammenklappen.
Alex packte sie an der Schulter und schüttelte sie. »Nicht einschlafen! Erzähl weiter, was passiert ist!«
»Ich hab’s dir doch schon gesagt. Peggy hat mir die Hose runtergezogen … und George war dabei.« Sie blinzelte, kämpfte an gegen die Wirkung des Medikaments. »Nachher hat sie mich einfach da liegen lassen, so dass alle mich sehen konnten.« Shana merkte, dass Alex sehr aufgebracht war, doch er hielt sich zurück, bis sie ihm alle Einzelheiten erzählt hatte.
»Wie hast du dir dein Bein verletzt?«
»Ich bin auf den Boden gefallen, nachdem Peggy mich geschlagen hatte. Ich muss auf dem Knie aufgekommen sein oder so. Es tut beim Laufen weh.«
»Das reicht«, sagte Alex und hob die Arme hoch. »Ruf einen Anwalt an. Ich werde dir einen aus den Gelben Seiten heraussuchen. Komm, wir werden jetzt gleich jemanden kontaktieren.«
Shana humpelte hinter Alex her zum Münztelefon und wartete ab, während er durch das Telefonbuch von San Francisco blätterte. Das dicke Buch war an einem Strick befestigt, damit die Patienten sich nicht gegenseitig damit bewerfen konnten. Alex steckte eine Vierteldollarmünze in den Schlitz und wählte eine Nummer. »Hier«, sagte er und reichte ihr den Hörer. »Sie werden es aus deinem eigenen Mund hören müssen.«
»Hallo, mein Name ist Shana Forrester«, sagte sie. Sie spürte, dass die Wirkung des Medikaments langsam nachließ. »Ich werde gegen meinen Willen in der psychiatrischen Klinik Whitehall festgehalten. Man misshandelt mich hier, ich werde geschlagen und gezwungen, bewusstseinsverändernde Medikamente zu nehmen. Ich möchte die Klinik und die Angestellten verklagen.«
»Waren Sie schon einmal bei Mr. Atwood?«, fragte eine Frauenstimme.
»Nein«, antwortete Shana. »Ist er da? Kann ich ihn sprechen?«
»Er ist gerade im Gespräch mit einem Mandanten. Bis Ende des Monats hat er keine Termine mehr frei. Möchten Sie einen Termin vereinbaren?«
Kein Mensch schien ihr zuzuhören. »Wenn ich hier gegen meinen Willen festgehalten werde, wie sollte ich dann bitte schön zu Mr. Atwood in die Kanzlei kommen? Haben Sie nur Scheiße im Hirn?«
»Das muss ich mir nicht anhören«, erwiderte die Frau und legte auf.
Shana drehte sich zu Alex. »Ich hätte nicht so ausflippen dürfen. Was soll ich jetzt machen?«
»Du kannst es bei einem anderen Anwalt versuchen. Oder du rufst die Polizei an. Aber, um ehrlich zu sein, glaube ich, dass du bei der Polizei keinen Erfolg haben wirst. Die kriegen dauernd Anrufe von Leuten aus der Psychiatrie. Vermutlich wird deine Anzeige gar nicht ernst genommen.«
Shana machte ein paar Schritte und ließ sich auf ein Sofa fallen, erschöpft von der Anstrengung, die es sie kostete, sich aufrecht zu halten.
Mit bedrücktem Gesicht setzte Alex sich neben sie. Shana sah ein, dass es hoffnungslos war, die Polizei oder wahllos andere Anwälte aus den Gelben Seiten anzurufen. Sie war in der Klapsmühle, verdammt. Niemand würde sie ernst nehmen. Es gab nur einen Ausweg. »Ich werde meine Mutter anrufen«, sagte sie und hoffte, Alex würde den Wink verstehen und sie allein lassen.
»Wie oft muss ich es dir denn noch sagen«, fuhr er sie an. »Von dem Apparat aus kannst du keine Ferngespräche führen.«
Shana ärgerte sich über seinen scharfen Ton. Sie war so aufgebracht und durcheinander, dass sie anfing, im Kreis herumzugehen. Nach einer Weile gesellte sich Milton, der Walking Man, zu ihr, und gemeinsam schlurften sie in ihren grünen Pyjamas durch den Raum.
»Hallo, Milton«, sagte sie. »Wie läuft’s?«
»Weißt du, der einzige Grund, warum ich hier bin, ist, dass ich stärkere Hirnströme als andere Menschen habe. Dadurch rege ich mich schneller auf und kann nicht schlafen. Und weil ich unter Schlafentzug leide, fange ich an, mich merkwürdig zu benehmen. Wie ist es bei dir?«
»Ich leide auch unter Schlafmangel. Vermutlich benehme ich mich genauso merkwürdig wie du, sonst wäre ich nicht hier.«
»In dem Zimmer neben mir ist diese Frau, die singt die ganze Nacht. Wie soll ich schlafen, wenn da ununterbrochen jemand singt?«
»Sie singt ›Amazing Grace‹, oder?«
»Früher bin ich in die Kirche gegangen«, fuhr Milton fort, »aber dann habe ich mich zu sehr in der Bibel verfangen. Ich habe versucht, alles ganz genau zu analysieren und zu entschlüsseln. Und dann konnte ich wieder nicht schlafen, und durch den Schlafmangel kam es zu dem abnormen Verhalten.«
»Inwiefern abnorm?« Aus dem Augenwinkel sah Shana, wie Alex zu ihr herübergrinste. Vielleicht konnte sie Milton dazu bringen, George abzulenken, so dass sie fliehen könnte.
»Ich bringe Katzen um, meistens Katzen.«
Shana blieb stehen. »Nur Katzen?«
»Einmal habe ich ein Kaninchen getötet«, sagte Milton, »aber meistens sind es Katzen. Weißt du, ich mag Katzen nicht. Sie machen Lärm in der Nacht, und dann halten sie mich vom Schlafen ab, und ich leide unter Schlafmangel, und dann …«
»Dann bringst du noch mehr Katzen um, ja?«, fiel Shana ein. »Wie sieht es mit Menschen aus, Milton? Könntest du jemanden für mich umbringen, wenn ich dich die ganze Nacht wachhalten würde?«
Milton blieb abrupt stehen und sah Shana mit festem und, in Anbetracht ihrer Unterhaltung, überraschend klarem Blick in die Augen. »Das ist nicht lustig. Ich will doch die Katzen nicht umbringen. Und ich würde niemals einen Menschen töten.«
Der Kerl mochte zwar seltsam sein, aber langsam entspannte sich Shana. Das Herumgehen beruhigte sie ähnlich wie Milton. Vielleicht half die Bewegung, den Medikamenten entgegenzuwirken. »Es tut mir leid, Milton. Verzeih mir.« Sie drehte sich um und ging in die andere Richtung davon.
Von Milton konnte sie keine Hilfe erwarten. Wahrscheinlich gehörte er zu den Leuten, die bei der Polizei anriefen und sagten, sie wüssten, wer Kennedy ermordet hatte. Sie ging auf den Rauchertisch zu, an dem Norman, Karen und May saßen. Überrascht stellte sie fest, dass sie nicht mehr humpelte. Das war das Merkwürdige an Whitehall, es war, als lebte man in einem fremden Körper. In dieser Hinsicht war es gar nicht so schlimm. Hier drinnen konnte man allerdings auch vergessen, wer man eigentlich war, man konnte seine Angehörigen und sein Leben außerhalb von Whitehall vergessen. War man lange genug hier, verschwand man ganz einfach.
»In welchem Zimmer bist du?«, fragte Karen, als Shana sich an den Tisch gesetzt hatte.
»Weiß nicht.« Sie hatte gar nicht darüber nachgedacht, weil sie bislang auf der Isolierstation geschlafen hatte.
»Ich wette, sie legen dich in das Zimmer von Michaela. Sie sagt, es sei der Name eines Erzengels. Sie sieht ganz gewöhnlich aus, liest den ganzen Tag in der Bibel. Ich glaube, sie haben ihr Elektroschocks gegeben, das machen sie bei den meisten Schizos.«
Na wunderbar, dachte Shana. Im selben Augenblick ruckte Karens Kopf zur Seite, sie sagte »Scheiße, verfickt, Arsch« und sah dann wieder Shana an, als sei nichts geschehen.
»Karen, ich weiß ja nicht viel über das Tourette-Syndrom, aber gibt es da nicht Medikamente, die man nehmen kann?«
Karen senkte ihren Blick, und Shana wurde bewusst, dass sie einen schlechten Zeitpunkt gewählt hatte. Sie hätte sie nicht direkt nach einem Ausbruch auf die Krankheit ansprechen sollen. Die Obszönitäten waren sicher noch demütigender als das Bellen.
»Als ich zur Schule ging, habe ich Medikamente genommen.« Karen sah jetzt noch unglücklicher aus. »Ich bin Elektrotechnikerin, aber inzwischen kann ich die Medikamente nicht mehr bekommen. Die Pharmafirmen produzieren nicht genug davon, und sie kosten ein Vermögen. Jetzt ist es auch schon egal, ich habe eh meine Zulassung verloren.«
»Bist du deswegen hier? Weil dein Zustand sich verschlechtert hat und du die nötigen Medikamente nicht bekommen konntest?«
»Im Grunde ja«, antwortete Karen, dann stieß sie eine lange Folge von Schimpfwörtern aus. »Scheiße, verfickt, Arsch, Fotze …« Schließlich bellte sie wie ein Foxterrier.
Shana griff nach ihrer Hand und streichelte sie. »Du bist ein guter Mensch, Karen. Meine Mutter ist Richterin, wenn ich hier rauskomme, wird sie mir dabei helfen herauszufinden, was man gegen die Pharmafirmen tun kann. Es darf doch niemandem die nötige Medizin verweigert werden.«
»Danke«, sagte Karen, und eine Träne rollte ihr über die Wange. »Du bist auch ein guter Mensch, Shana. Wir wissen, dass du hier nicht hergehörst, aber wir sind froh, dass du da bist. Vielleicht kannst du mir ja wirklich helfen. Eine Menge Leute sagen, dass sie helfen werden, aber kaum sind sie draußen, vergessen sie mich. Keiner konnte Jimmy helfen, und jetzt ist er tot.«
»Was ist passiert? Ist er hier in Whitehall gestorben?«
»Nein.« Über Karens Gesicht strömten noch mehr Tränen. »Jemand hat ihn erschossen. Wahrscheinlich wollten sie ihn ausrauben. Sie haben es in den Nachrichten gesagt, sonst wüssten wir gar nichts davon.«
»Was hat ihm gefehlt?«
»Paranoide Schizophrenie.« Sie wischte sich mit dem Finger die Nase ab. »Es fing an, als er auf der Highschool war. Du weißt schon, schlauer Typ, tolle Noten, alle mochten ihn. Ganz plötzlich hat er den Boden unter den Füßen verloren. Jimmy hasste die Nebenwirkungen der Medikamente und weigerte sich, sie einzunehmen. Also ist er hier in Whitehall gelandet.«
»Was für eine schreckliche Krankheit! Kann man da denn gar nichts machen?«
»Das einzig Gute an Schizophrenie ist, dass die Symptome manchmal weggehen oder zumindest nachlassen, wenn man älter wird.«
»Das klingt ja ganz gut. Wie alt war Jimmy?«
»Siebenunddreißig«, sagte Karen und massierte sich den Nacken. »Die Symptome werden erst besser, wenn man siebzig oder achtzig ist. Bis dahin ist man womöglich tot, also ist es auch schon egal. Ich kann nicht verstehen, warum das Krankenhaus Jimmy entlassen hat, kann höchstens sein, dass die Versicherung nicht mehr gezahlt hat. Er war völlig psychotisch an dem Tag, als er rauskam. Er hatte Frau und Kinder, und ich habe mir Sorgen gemacht, dass er ihnen etwas antut. Er hatte sie schon einmal angegriffen. Deswegen wurde er vom Gericht hier eingewiesen. Entweder Whitehall oder Gefängnis.«
»Das ist übel«, sagte Shana.
»Er hat oft darüber geredet, dass er sich umbringen will, also hat er am Ende vielleicht ja gekriegt, was er wollte. Jimmy hatte ein hartes Leben. Ich bin froh, wenn er jetzt an einem besseren Ort ist.«
Shana war nicht der Meinung, dass es besser war, tot zu sein, selbst im Vergleich zu einem Leben in der Psychiatrie. Manchmal war sie depressiv und fühlte sich von allem überfordert, niemals aber würde sie sich umbringen. Sie ging zwar nicht mehr in die Kirche, aber sie war Katholikin und wusste, dass sie in der Hölle enden würde, wenn sie Selbstmord beginge.
Die Kirche hatte in den vergangenen Jahren ihre Haltung gegenüber Selbstmördern geändert und nahm nun Rücksicht darauf, ob jemand unter lebenslangen Schmerzen oder einer schweren psychischen Erkrankung litt oder ob ihm ein langsamer, qualvoller Tod bevorstand. Doch das bedeutete nicht, dass Gott seine Haltung dazu geändert hatte. Die Kirche gab gerne vor, einen direkten Draht zu Gott zu haben, doch Shana war sich dessen nicht so sicher. Der Vatikan kam ihr vor wie ein Verein von alten Spießern, die jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren hatten. Und was sollte diese Kostümierung? Wussten sie nicht, in welchem Jahrhundert wir lebten? Vielleicht würden die Leute sie ja ernster nehmen, wenn sie sich anzogen wie andere auch.
Die Wichtigtuer im Vatikan taten so, als lebte Gott unter ihnen. Meine Herren, dachte Shana, die Kirche hatte Sexualtäter gedeckt, Gott musste also schon vor langer Zeit aus dem Vatikan ausgezogen sein. Ein Verbrecher blieb ein Verbrecher, und ein weißer Kragen war kein Freibrief.
Shana war gläubig genug, um sich nicht gegen die Kirchenlehre zu wenden. Von der Hölle hieß es, sie sei endlose Wiederholung, und Shana konnte Wiederholungen nicht ertragen.
Sie wandte sich Karen zu und nahm sie ganz fest an der Hand. »Ich verspreche dir, dass ich dich nicht vergesse, wenn ich draußen bin. Ich stehe kurz vor dem Abschluss meines Jurastudiums. Bestimmt kann ich eine Möglichkeit finden, um dir zu helfen. Vielleicht wird es eine Weile dauern, doch du darfst die Hoffnung nicht verlieren.«
»Keine Sorge«, sagte Karen. »Es gibt noch jemanden, der mir helfen wird.«