33
Ventura, Kalifornien
Als sie den Make-up-Behälter, die Telefonkarte und die getrockneten Blutreste im FBI-Büro abgegeben hatten, wendete Lily den Volvo und fuhr nach Hause. »Ach, ich habe ganz vergessen zu fragen, ob du überhaupt nach Hause willst oder irgendwo anders hin.«
»Lass uns am Strand spazieren gehen, am liebsten am McGrath-Strand. Dort ist der Sand schöner.«
Sie parkten und stiegen die steilen Stufen hinunter an den Strand. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden, und der Himmel war bewölkt und grau. Einige Surfer warteten auf eine gute Welle, und hier und da lagen Leute auf Handtüchern und hofften darauf, dass die Sonne wieder zum Vorschein käme. Durch die Santa-Ana-Winde stiegen die Temperaturen im Januar manchmal auf dreißig Grad, doch heute war es kühl, und Lily vermutete, dass es Touristen waren, die meinten, in Südkalifornien wäre es das ganze Jahr über warm.
Shana lief nah an der Brandung entlang, und Lily folgte ihr. »Ich weiß, wen du anrufen könntest«, sagte Lily. »Greg Fowler. Erinnerst du dich an ihn?«
»Natürlich, aber ich habe keine Lust, mit ihm zu reden. Klar, er ist ein netter Kerl, aber er ist ein schrecklicher Kiffer. Er steckt sich seinen ersten Joint an, kaum dass er aufsteht, und ist den ganzen Tag über dicht. Außerdem will er unbedingt, dass man mit zum Surfen geht. Ich lass mich nicht gern von Wellen herumwerfen. Meine Balance ist einfach nicht gut genug, um auf einem wackligen Brett auf dem Wasser zu stehen.«
Von der feuchten Luft hing ihnen beiden das Haar schwer um Gesicht und Hals. Shana stand in der Brandung, ohne zu bemerken, wie sich ihre Schuhe und der Hosensaum mit Wasser vollsogen. Lily trat hinzu, und so standen sie Seite an Seite im seichten Wasser. »Du musst irgendetwas tun, Shana. Bald ist mein Urlaub vorbei, und ich will nicht, dass du den ganzen Tag zu Hause herumsitzt.«
»Ich könnte nach Palo Alto gehen und bis zum Sommersemester jobben. Dann könnte ich vielleicht auch die Miete für die Wohnung bezahlen.«
»Das musst du nicht. Ich bezahle deine Miete weiterhin. Ich habe schon am Tag deiner Geburt angefangen, für deine Ausbildung zu sparen.«
»Nein, Mutter, ich muss das tun«, widersprach Shana. »Ich habe mit deinem Geld Bretts Studiengebühren bezahlt. Deswegen habe ich dauernd mehr Geld gebraucht.«
Lily blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Warum hat er seine Studiengebühren nicht selbst bezahlt? Hast du nicht gesagt, dass seine Eltern reich sind?«
»Das waren sie, bis sie ihr Geld beim Börsenkrach verloren haben. Brett war ein guter Student, Mutter, und er hat mir leidgetan. Ich wollte nicht, dass er das Studium aufgeben muss. Aber ich habe mich getäuscht. Brett nutzt seine Mitmenschen aus. Er ist nur deshalb zu diesem Mädchen in Berkeley gezogen, weil seine Eltern gesagt haben, dass er aus dem Wohnheim rausmuss.«
»Warum ist er nicht bei dir eingezogen?«
»Ich hatte da noch eine Mitbewohnerin. Sie wollte das Bad nicht mit einem Typen teilen. Julie war immer supersauber, und Brett ist ein Ferkel. Du hast ja gesehen, wie zugemüllt die Wohnung war. Das waren noch die Reste von Brett.« Sie hielt kurz inne und blickte ihrer Mutter in die Augen. »Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich dich angelogen und dein Geld genommen habe. Ich weiß ja, dass du nicht reich bist. Ich kann jederzeit als Kellnerin jobben und jüngeren Studenten Nachhilfe geben.« Sie zog Lily in ihre Arme. »Du bist eine wunderbare Mutter. Du hast es nicht verdient, dass ich dir all das angetan habe. Ich möchte es unbedingt wiedergutmachen.«
»Wenn es so ist, bin ich einverstanden. Ich habe nie etwas anderes gewollt, als dass du glücklich bist.« Lily strich Shana zärtlich das Haar aus der Stirn. »Du hast so schrecklich viel durchgemacht. Und immer hast du deine Probleme vor mir verheimlicht. Bitte versprich mir, dass du das in Zukunft nicht mehr tun wirst. Ich werde immer deine beste Freundin sein. Das nächste Mal, wenn du verzweifelt oder niedergeschlagen bist, dann gib mir Gelegenheit, dir zu helfen. Ich weiß, ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht, aber ich werde bestimmt nie wieder einen solchen Fehler machen. Versprichst du mir, dass wir in Kontakt bleiben und du Bescheid sagst, wenn du Unterstützung brauchst?«
»Ja«, sagte Shana lächelnd. Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie packte Lilys Hand. »Da kommt eine riesige Welle. Dreh dich nicht um, Mom, renn einfach, so schnell wie du kannst.«
Sie rannten durch das Wasser und über den Strand, bis sie höherliegenden Boden erreichten. Dort ließen sie sich lachend in den Sand fallen.
»Es tut gut, mal wieder richtig zu lachen«, sagte Lily, die sich aufzusetzen versuchte, doch erschöpft wieder zurück auf den Sand plumpste. »Ist das da deine Tsunamiwelle?«
»Na ja«, Shana kicherte noch mehr. »Von der Ferne hat sie gefährlich ausgesehen. Wahrscheinlich ist sie auf dem Weg ans Ufer kleiner geworden. Ich habe dir ja gesagt, dass ich mich nicht gerne von Wellen prügeln lasse. Jetzt weißt du’s.«
Sie standen auf, klopften sich den Sand ab und gingen Hand in Hand zum Auto. Eine ältere Dame kam ihnen entgegen. »Sie sind so ein schönes Zwillingspaar. Ich liebe Ihre Haarfarbe.«
Lily erwartete, dass Shana wie in der Vergangenheit wütend würde, doch sie lächelte die Frau nur an und bedankte sich für das Kompliment. »Hat es dir nichts ausgemacht, dass die Frau uns für Zwillinge gehalten hat?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Shana. »Du siehst toll aus für dein Alter. Ich hoffe, dass ich später auch so gut aussehe. Wir sollten mal wieder ein gemeinsames Foto machen lassen, so wie früher. Das haben wir ewig nicht gemacht.«
Für Lily war dies das vollkommene Ende eines vollkommenen Tages.
Chris und Lily lagen im Bett, und im Haus war es ruhig. Obwohl Shana sich bemühte, einzuschlafen, wollte es ihr nicht gelingen. Wenn sie in Palo Alto war und nicht schlafen konnte, dann stieg sie ins Auto und fuhr ein bisschen herum.
Leise schlich sie ins Wohnzimmer und sah sich nach Lilys Autoschlüsseln um. Offenbar waren sie noch in ihrer Handtasche, und die Handtasche lag vermutlich im Schlafzimmer. Sie überlegte, ob sie Chris’ Volkswagen nehmen sollte, doch auch dessen Autoschlüssel konnte sie nicht finden. Dann fiel ihr ein, dass sie ja direkt am Strand wohnten, ein Spaziergang wäre bestimmt noch entspannender als eine Autofahrt. Sie sollte sich ohnehin mehr bewegen, das Studium hatte ihr viel zu wenig Zeit für so etwas gelassen. Im kommenden Studienjahr würde sie es anders machen und sich die Zeit nehmen, jeden Tag ein wenig Sport zu treiben.
Auf dem Weg zur Tür hielt sie inne und dachte an Alex. Vermutlich war es keine gute Idee, allein hinauszugehen. Andererseits hatte Karen keine Zweifel, dass er tot war. Doch selbst wenn Karen sich irrte und Alex seinen eigenen Tod auf irgendeine Weise vorgetäuscht hatte, würde er wohl kaum in der Nacht zu Fuß herumstrolchen. Vielleicht war er ohnehin längst weitergezogen oder zu seiner verrückten Mutter und dem Rest seines Clans zurückgekehrt, um sich zu verstecken. Wenn er ihr etwas hätte antun wollen, hätte er in Whitehall jede Gelegenheit gehabt. Sie hatte sogar mit dem Kerl geschlafen.
»Zum Teufel mit dir, Alex«, murmelte sie. Nicht noch einmal sollte ein Mann ihr Leben zerstören und ihr ein Dasein als Einsiedlerin aufzwingen.
Man konnte nicht direkt vom Balkon an den Strand gehen, weil er ein ganzes Stück über dem Boden lag. Shana schaltete die Alarmanlage aus und verließ das Haus durch die Eingangstür. Es würde Spaß machen, durch die Nacht zu spazieren. Sie ging an der Straße entlang, betrachtete die Blumen in den Vorgärten und schaute in die Fenster der Häuser; vielleicht würde sie ein Paar beim Sex erwischen oder jemanden, der nackt am Fenster vorbeiging. Doch es war eine ruhige Wohngegend. Die meisten der großen, dicht aneinandergedrängten Häuser lagen im Dunkeln, nur ein paar Außenlampen brannten.
Sie trottete den Pfad zum Strand hinunter und hörte plötzlich ein Geräusch hinter sich. Es klang, als wäre jemand auf eine Eichel getreten. Als sie sich umdrehte, konnte sie niemanden entdecken. Vermutlich war es ein Hund oder irgendein anderes Tier gewesen, vielleicht auch ein Eichhörnchen.
Vor sich sah sie das Wasser und hörte die Brandung. Wunderschön glitzerte das Meer im Mondlicht, riesig und geheimnisvoll. Sie war romantisch veranlagt und eine Einzelgängerin, eine Seite, die niemand von ihr kannte. Jahrelang hatte sie angenommen, dass es daher rührte, dass sie Einzelkind war und ihre Mutter selten sah. Doch später war ihr klargeworden, dass es ein Teil ihres Charakters war. Die meisten Menschen enttäuschten einen. Manchmal war es besser, allein zu sein, als verletzt zu werden. Bei Brett hatte sie nicht genug Vorsicht walten lassen, und was war daraus geworden?
Shana stieg die lange Steintreppe hinunter, die bis zum Sandstrand führte. Den Blick auf das Wasser geheftet, atmete sie tief die frische Salzluft ein und genoss den Wind, der ihr ins Gesicht blies.
Plötzlich begann ihr Magen zu grummeln. Chris hatte sie zum Mexikaner eingeladen, und manchmal vertrug sie das Essen nicht. Sie blickte zurück zur Treppe, an deren oberen Ende die öffentliche Toilette war. Unter dem Vordach brannte eine kleine Lampe, um die Mücken und Fliegen schwärmten. Im Inneren des Gebäudes war kein Licht. Sie zögerte, doch das Rumoren im Magen wurde schlimmer.
»Bestimmt gibt es kein Klopapier«, sagte sie und nahm zwei Stufen auf einmal. Es wurde immer dringender. »Auch wenn’s dunkel und gruselig ist«, redete sie sich laut Mut zu, »was sein muss, muss sein.« Sie überlegte, ob sie sich in die Büsche am Wegesrand hocken sollte, doch dann fielen ihr die Kojoten ein, die an der Küste lebten. Die Vorstellung, von einem Kojoten in den Hintern gebissen zu werden, war noch weniger einladend als das Toilettenhäuschen. Sie stand an der Tür und blickte ins Dunkle. Schließlich siegte die Verzweiflung, und mit einem großen Schritt trat sie hinein.
Einen Augenblick später war sie in der Kabine, die durch den Gestank leicht zu finden war. Sie ließ die Hose hinunter und hockte sich hin. Sie war schon einmal tagsüber hier gewesen und wusste, dass es keine richtigen Toiletten waren, auch wenn sie Sitze hatten, sondern einfach nur Löcher im Boden und eine Jauchegrube darunter.
Immer wieder hörte Shana Geräusche, ganz leise, doch nicht weniger beunruhigend. Sie versuchte, sich zu beeilen. Längst hatte sie keine Lust mehr, am Strand spazieren zu gehen. Wenn sie nur heil nach Hause käme! Jeden Augenblick konnte etwas Schreckliches aus dem Loch im Boden heraufkriechen.
»Ich habe dich gesucht, Shana.«
Die Stimme kam aus dem Inneren des Waschraums. Sie war so laut, dass sie beinahe übernatürlich klang, verstärkt durch die Spannung, die die Angst, ihre wilde Angst, auslöste. »Was, zum Teufel!« Shana sprang auf die Füße, riss die Hose hoch, stolperte und prallte an die Kabinentür. Sie stand wieder auf und versuchte, die Tür zu öffnen. Die bewegte sich nicht. Wie war es möglich, dass sie von außen verriegelt war?
»Wer ist da?«, schrie sie. »Bist du’s, Chris? Hör auf. Lass mich raus, verdammt. Ich bin doch kein Kind, das man dafür bestraft, weil es unerlaubt rausgegangen ist.«
Shana warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie bewegte sich ein paar Zentimeter, doch mehr nicht. Shana hörte ein heiseres Krächzen. Jemand lehnte sich an die Tür und hielt sie hier drinnen gefangen. Lieber würde sie sterben, als dass noch einmal ein Mann sie vergewaltigte.
»Beruhige dich, Shana«, sagte der Mann. »Ich mache die Tür auf, aber du musst mir versprechen, dass du nicht schreist. Du musst ganz leise sein, so verlangen es die Regeln.«
Shana erstarrte, vor Entsetzen nicht einmal in der Lage, Luft zu holen. Das war nicht Chris’ Stimme. Es musste Alex sein. Sie wollte schreien, doch ihre Stimmbänder waren wie gelähmt. Innerhalb von Sekunden war sie schweißgebadet.
Langsam ging die Tür auf. Durch das Licht der Außenlampe konnte sie die Körperumrisse ausmachen, doch sein Gesicht lag im Schatten. Shana wich zurück, bis sie an den Toilettensitz stieß, und blieb dann stehen.
»Keine Angst, Shana. Ich bin’s. Du kennst mich doch.«
»Alex?« Keuchend stieß sie den Namen hervor. »Alex?« Herrgott, Alex hatte sie gefunden. War er es tatsächlich, oder war es sein Geist? Ein betäubender Geruch lag in der Luft, widerlich und grauenhaft. Sie machte einen Schritt nach vorn, und ein Arm packte sie und warf sie mit Wucht gegen die Kabinenwand.
Eine gewaltige Erschütterung schien das Gebäude zum Wanken zu bringen, so schnell, dass sie der Bewegung nicht folgen konnte. Türen klapperten, und die Wände zerbarsten wie unter einer Explosion. Die Raserei des Mannes brach sich Bahn, als sei sie ein eigenständiges Wesen.
»Hilfe«, kreischte Shana. Die Schattenfigur erstarrte kurz, dann trat Shana mit den Füßen wild gegen Kloschüsseln und Waschbecken. Shana hörte von irgendwoher Wasser hervorschießen. Ein Rohr war gebrochen.
Shana schoss zur Tür, doch der Mann legte eine Hand über ihren Mund und hielt sie mit dem anderen Arm im Genick fest. Das konnte unmöglich Alex sein! Bestimmt war es ein wahnsinniger Vergewaltiger und Mörder. Ihre Augenlider zuckten. Sie rang nach Luft. Der Druck an ihrem Hals verstärkte sich. Sie hörte nichts als ihren Herzschlag und seine tiefe, gespenstisch monotone Stimme. Einen winzigen Moment lang glaubte Shana, dass es zwei Angreifer waren, dass zwei Männer mit ihr im Raum waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es einen Menschen mit einer so gewaltigen Kraft gab.
»Ich tu dir nicht weh. Wir müssen nur einen Transformationsprozess durchlaufen. Du willst doch deine Mutter sehen, nicht wahr, deine wahre Mutter?«
Mit dem Fuß trat er die Tür auf und zerrte Shana den Hang hinauf zur Straße. Am Ufer brachen sich die Wellen. Auf dem Harbor Boulevard nur wenige Meter entfernt rasten die Autos vorbei.
»Sobald deine Mutter bei uns ist, werden wir alle fortgehen. Wir werden als Familie fortgehen, so wie wir es schon vor Jahren hätten tun sollen.«
Alex öffnete den Kofferraum des blauen Chryslers und blickte sich um, dann hob er Shana vorsichtig hoch und legte sie auf einen Stapel von Decken. »Ich mache die Klappe zu, aber du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst genug Luft zum Atmen haben. Wir werden nicht weit fahren, dann hole ich dich wieder raus. Wir können uns über unsere Reise unterhalten, Pläne schmieden und etwas zu essen holen. Deine Mutter wird schon bald bei uns sein.«
Shana war nicht bei Bewusstsein und dem Tode nah. Durch den Würgegriff hatte ihr Gehirn keinen Sauerstoff mehr bekommen. Ein Speichelfaden hing ihr aus dem Mund. Ihre offenen Augen waren leer.
Alex schloss den Kofferraum und setzte sich auf den Fahrersitz. Er schwitzte, mit dem Hemdsärmel wischte er sich über das Gesicht. Shana wog nicht viel, aber weil sie bewusstlos war, war es anstrengend, sie zu schleppen. Das ohrenbetäubende Summen in seinem Kopf schmerzte wie ein bösartiger Tumor, der an die Schädeldecke drückte. Die Vorstellung, die er von seinem Gehirn hatte, erinnerte mehr an ein menschliches Herz, ein lebloses, blutleeres Herz. Er starrte auf das Meer und rief sich das Bild von dem Teich ins Gedächtnis; es war das einzig Brauchbare, das er in all den Jahren Psychotherapie gelernt hatte.
»Der Teich«, flüsterte Alex und ließ das Wort auf seiner Zunge zergehen wie eine Köstlichkeit, wie eine Hostie. »Wir sind bald da, Jennifer.«