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Mittwoch, 20. Januar
San Francisco, Kalifornien

Im großen Saal war Milton am Herumspazieren, und am üblichen Tisch saßen nur Karen und May. »Schau mal«, sagte Karen und streckte die Hände aus. »Sind die nicht cool? May hat mir die Nägel gold lackiert und grüne Tupfen auf die Spitzen gemacht. Für heute Abend, weißt du.«

Wann immer Shana Karen ansah, stellte sie sich vor, wie sie aussehen würde, wenn sie eine andere Frisur hätte und sich schminken würde. Die meisten Leute wünschten sich ein anderes Aussehen, sie selbst hatte ihr rotes Haar nie gemocht, doch das von Karen war glänzender, und ihre Augen hatten ein ganz erstaunliches Blau. Shana hatte das Bild einer ganz anderen Karen vor Augen. »Hast du Make-up, May? Alex hat mir zwar ein bisschen was geschenkt, aber …«

»May hat alles, was du brauchst, Püppchen«, antwortete sie und klappte ein großes Metallköfferchen auf, in dem sie ihren Nagellack aufbewahrte. »Es ist alles da. Ich habe auch noch was von der Frau, die vor mir in meinem Zimmer gewohnt hat.« Sie kicherte. »Manches ist zu blass für mich, ihr wisst schon, aber bei dir oder Karen würde es bestimmt hübsch aussehen.«

In Arnold-Schwarzenegger-Manier sagte Shana kurz: »Ich komme wieder«, dann ging sie in ihr Zimmer, um das Make-up zu holen, das sie von Alex bekommen hatte. Wie beim letzten Mal lag Michaela mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bett. Manchmal war die Frau im Zimmer, manchmal war das Bett leer, aber Shana hatte sie nie in der Kantine gesehen, und nie war ein Tablett oder irgendwas zu essen am Bett. Als sie die Schublade im Nachtkästchen öffnete, wo sie ihre Toilettensachen aufbewahrte, quietschte plötzlich das Bett, und Michaela stand auf und ging ins Badezimmer.

Shana griff sich schnell das Parfümfläschchen vom Nachttisch und wollte das Zimmer einsprühen. Doch schon hörte sie die Toilettenspülung und machte, dass sie fortkam.

»Es läuft«, erzählte sie Karen und May und deutete mit dem Kopf auf ihr Zimmer. »Was, wenn es auch noch zu reden anfängt?«

»Die arme Michaela.« Mays Stimme war ganz tief. »Sie ist für dieses Leben nicht geschaffen. Das nächste wird besser sein.«

»Tut mir leid, das war gefühllos von mir.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Karen und klatschte in die Hände. »Was wollen wir machen?«

Shana lud die Kosmetika und die Haarbürste auf dem Tisch ab. »Wollen wir uns richtig schick machen? Mein erstes Opfer ist … hm … wie wär’s, Karen? Mein Gefühl sagt mir, wir sollten mit dir anfangen. Bist du dabei?«

»Klar.«

Shana zog einen Stuhl heran und bedeutete Karen, sich hinzusetzen. Sie begann mit der Grundierung und deckte fast alle Sommersprossen auf Karens Gesicht ab. Dann legte sie Rouge auf, Lidschatten, Kajal und Wimperntusche. Der Unterschied war immens. Shana bat Karen, sich vornüberzubeugen, damit sie ihr die Haare über den Kopf bürsten konnte. »Haargummi bitte«, sagte sie zu May und streckte ihre Hand aus wie ein Chirurg im Operationssaal. May kramte in ihrem Köfferchen und reichte ihr einen. Shana band Karens Haare oben zusammen und zupfte ein paar Strähnen heraus, die das Gesicht umrahmten.

»Voilà!«, rief Shana und trat ein paar Schritte zurück. Karen sprang auf und rannte in ihr Zimmer, und Shana folgte ihr. May, die ziemlich schwerfällig war, blieb am Tisch zurück.

Shana beobachtete Karen, als sie sich im Spiegel musterte. »Ich kann’s nicht fassen. Ich schau ja völlig anders aus. Beinahe« – sie zog eine Grimasse und ließ ein kurzes Bellen hören –, »beinahe hübsch. Ich habe nie versucht, mich herzurichten, weil ich dachte, es macht eh keinen Sinn.«

»Hübsch?«, sagte Shana und grinste glücklich. »Du siehst umwerfend aus. Die Kerle werden wie verrückt hinter dir her sein. Morgen zeig ich dir, wie du’s selber machen kannst. Bestimmt hat May nichts dagegen, wenn du die Sachen nimmst, weil sie ja ohnehin nichts damit anfangen kann.«

Als sie wieder im Aufenthaltsraum waren, saß Norman neben Alex am Tisch. Shana stand ihm gegenüber und studierte sein Gesicht. Dann kramte sie in den Cremetuben und Döschen herum, bis sie fand, was sie suchte. »Komm her, Norman«, forderte sie ihn auf. »Besuch mein Kosmetikstudio. Ich glaube, wir haben hier auch was für die Herren.«

Norman blickte über die Schulter, weil er annahm, Shana spreche mit jemand anderem. Als er Karen bemerkte, verstand er, was gemeint war, und setzte sich ein wenig widerwillig auf den Stuhl. Shana beugte sich zu seinem Ohr hinunter, das nur mehr ein kleines Loch war, und flüsterte: »Wird es dir weh tun, wenn ich dein Gesicht berühre? Ich verspreche, ganz vorsichtig zu sein.«

»Das geht schon klar.«

Shana wählte einen von Mays Make-up-Tiegeln in einem warmen Braunton und steckte ihren Finger hinein. Behutsam trug sie die Paste auf Normans vernarbtem Gesicht auf. Dann folgten eine Abdeckcreme und eine zweite Schicht aus Puder. Sie malte ihm Augenbrauen und umrahmte seine Augen vorsichtig mit Eyeliner. Mit einem dunklen Rosa malte sie Norman einen Mund, den sie mit einem hautfarbenen Lippenstift von May noch einmal nachfuhr. Auf diese Weise erhielt Norman immerhin den Anschein von Lippen. Natürlich sah er nicht normal aus, das würde er nie wieder tun. Doch es war eine deutliche Verbesserung.

Shana ließ die Arme sinken und trat zurück. Voller Mitgefühl für diesen armen Mann beugte sie sich hinunter und drückte ihre Lippen an jene, die sie ihm eben aufgemalt hatte. »Du siehst so gut aus, Norman, ich konnte einfach nicht anders.« Shana reichte ihm einen Handspiegel aus Mays Köfferchen.

Er schob ihn weg. »Ich versuch, es zu vermeiden, in den Spiegel zu schauen. Das tätest du auch, wenn du aussehen würdest wie ich.«

»Ach, komm schon«, ermunterte ihn May. »Schau mal rein, Süßer. Du siehst wirklich prächtig aus. Ich hätte nicht schlecht Lust, dir auch einen Kuss zu geben.«

»Ihr wollt nur nett zu mir sein«, sagte Norman und stand auf. »Aber Männer tragen kein Make-up.«

Alex kam herüber und setzte sich auf den Stuhl. »Da täuschst du dich, mein Lieber.« Er wandte sich an Shana. »Siehst du die Narbe da an meiner Augenbraue? Ich kann die nicht leiden. Kannst du da was machen?«

»Kein Problem.« Sie trug etwas Make-up auf die Narbe auf. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Norman sie beobachtete. »Schaut er nicht schon viel besser aus? Was meinst du, Alex?«

Norman ging fort, und Alex griff nach Shanas Hand und presste sie sich an die Brust. »Ich meine, dass du eines der schönsten Lebewesen bist, die mir je begegnet sind, und zwar innen wie außen. Ich will dich nicht verlieren.«

Obwohl er flüsterte, hörte May, was er sagte, und lächelte. »Du hast’s geschafft, Schätzchen. Alex ist unser Prinz. Jetzt haben wir auch eine Prinzessin.« Sie wedelte mit der Hand. »Oh, ich weiß schon, was du denkst, aber es stimmt nicht. Vielleicht halten uns manche Leute nicht gerade für die Crème de la Crème, aber eines weiß ich sicher. Der Kerl da oben, der liebt uns.«

 

Der restliche Tag verging in gespannter Erwartung. Am Nachmittag spielten die Patienten Volleyball, und Shana erkundigte sich bei David, ob er auch zur Disco kommen würde. Er bejahte, und Shana fragte sich, ob sie ihn erkennen würde. Seine Krücken waren weg, dafür lag sein Arm in einer Schlinge. Er erzählte ihr, dass er am Morgen aus dem Bett gefallen war. Er war ein so schöner junger Mann, so hübsch und gesund. Warum nur litt er unter diesem Zwang, sich Verletzungen auszudenken?

Karens Aussehen erregte große Aufmerksamkeit. Viele kamen auf sie zu, machten ihr Komplimente und erkundigten sich, wie sie dazu gekommen war. Selbst ein paar Pflegerinnen baten Shana, ihnen einmal ein Styling zu verpassen.

Beim Essen und während des Volleyballspiels zeigten sich Karens Krankheitssymptome nicht ein einziges Mal. Wenn die ungewöhnlichen Ausbrüche des Tourette-Syndroms mit den Nerven zusammenhingen, half Karens neugewonnenes Selbstvertrauen vielleicht dabei, sie unter Kontrolle zu halten.

Den verbliebenen Nachmittag erteilte Shana Schminkunterricht, dann ging sie in ihr Zimmer, um sich zu duschen und umzuziehen. Erleichtert registrierte sie das leere Bett von Michaela. Auf Shanas Bett lag ein Kleidersack und ein Schuhkarton. Sie öffnete den Reißverschluss des Kleidersacks und zog ein weißes, hochgeschlossenes Spitzenkleid mit tiefsitzender Taille und einem bauschigen Rockteil heraus. Im ersten Moment erinnerte es Shana an ein Brautkleid, doch dann fiel ihr ein, dass es eher einem Abschlussballkleid von der Highschool ähnelte. In dem Karton befand sich ein Paar weißer Satinpumps mit niedrigen Absätzen.

Als sie vom Duschen zurückkam, lag eine wunderschöne weiße Rose auf ihrem Bett und eine strassbesetzte Haarklammer. Beides war nicht da gewesen, als sie ins Bad gegangen war. Daneben war ein weißes Unterkleid mit BH und ein weißes Seidenhöschen. Alex musste die Sachen ins Zimmer gelegt haben, während sie beim Duschen war. Sie zog sich an, setzte sich aufs Bett und überlegte, wie sie damit umgehen sollte. Es gefiel ihr nicht, dass Alex ohne ihr Einverständnis in ihr Zimmer kam, aber seine Geschenke waren sehr lieb. Allerdings machte sie sich Sorgen, weil die anderen Patienten bestimmt keine Abendgarderobe besaßen. Schließlich beschloss sie, sich nicht darum zu scheren, rückte ihr Kleid zurecht und trat aus dem Zimmer.

Mit offenem Mund starrte sie auf die Szene, die sich vor ihr auftat. Sämtliche Patienten trugen Abendkleidung. In weniger als einer Stunde hatten sich die Krankenhausbewohner völlig verwandelt. Alex hatte einen weißen Smoking an, alle anderen Männer trugen Schwarz. Karen hatte ein kurzes grünes Taftkleid angezogen, May eines aus rotem Chiffon, dessen tiefer Ausschnitt ihre üppigen Brüste betonte. Die unterschiedlichsten Düfte vermischten sich, so dass es wie in einem Blumenladen roch. Alex hatte offenbar für alle Kleider und Schuhe besorgt und jedem ein eigenes Parfüm geschenkt.

»Darf ich dir einen Cocktail bringen?«, sagte Alex und verbeugte sich.

Selbst in T-Shirt und Jeans war Alex ein sehr gutaussehender Mann. Ihm war jene seltene Mischung aus rauher Männlichkeit und Eleganz zu eigen, die an James Bond erinnerte. Heute Abend sah er aus wie ein Prinz, und es war offensichtlich, warum die anderen ihm diese Bezeichnung gegeben hatten.

Shana fragte sich, was er sonst noch alles für sie tat. Viele der Patienten hatten keine Familie. Zu den Besuchszeiten kamen nicht viele Leute. Wie konnten sie sich ein so teures Krankenhaus wie Whitehall überhaupt leisten? Zwar waren einige bestimmt versichert, aber die Versicherungen zahlten selten alles. Griff Alex ihnen vielleicht unter die Arme, damit sie nicht in eine der staatlichen Kliniken mussten, die bekannt dafür waren, zu wenig Personal für zu viele Patienten zu haben? Im Vergleich dazu musste Whitehall wie das Paradies wirken. Hier war endlich ein Mann, der echtes Mitgefühl besaß, der sich nicht nur um sie, sondern auch um seine Mitmenschen kümmerte. Er war großherzig, das war das Wort, das auf ihn zutraf.

»Alle trinken einen Cocktail vor dem Abendessen«, erklärte Alex. »Du kannst auch einen haben.«

»Du ziehst mich doch auf«, lachte Shana kokett. »Hier drin gibt es keinen Alkohol.«

»Es kommt immer auf die Perspektive an«, erwiderte Alex und zog die Augenbraue hoch. »Ein Cocktail ist ein Entspannungsmittel, oder?« Er wandte sich an die Anwesenden. »Meine Damen und Herren, die Bar ist eröffnet.«

Einer nach dem anderen stellte sich hinter Alex an der Station an. »Ich fühl mich ein bisschen nervös, Betsy.« Alex stützte die Arme auf den Tresen. »Ich hätte gerne zwei Lorazepam, bitte.«

Betsy prüfte die Krankenakte von Alex und gab ihm dann die beiden Tabletten in einem Becher. Auch die anderen baten um die doppelte Dosis ihrer üblichen Tabletten und schluckten sie hinunter wie Bonbons. Shana zupfte Alex am Ärmel und flüsterte ihm ins Ohr: »Wie können sie das tun? Betsy muss doch wissen, dass das gefährlich werden kann.«

»Bei den meisten Medikamenten, besonders bei den Beruhigungsmitteln, heißt es, dass man alle paar Stunden je nach Bedarf ein oder zwei einnehmen kann«, erläuterte Alex. »Fast alle hier bekommen irgendein Beruhigungsmittel. So läuft das in den meisten Kliniken. Und wenn Betsy sieht, dass ihnen das Mittel verschrieben wurde, kann sie nichts dagegen sagen.« Er lächelte selbstzufrieden.

»Ich verzichte«, sagte Shana und warf ihm einen ernsten Blick zu. Es war eine Sache, den Patienten Partykleider zu kaufen. Sie jedoch anzustiften, mit ihren Medikamenten zu experimentieren, war gefährlich.

»Verdirb uns nicht die Party.« Alex legte den Kopf schief und schenkte ihr einen Hundeblick. »Wir machen das doch nicht jeden Tag.« Er sah zu Norman, Karen, May und Milton hinüber, die nebeneinander auf dem Sofa saßen. »Denk daran, was dieser Abend für die Leute hier bedeutet. Findest du nicht, dass sie ein paar Stunden Spaß verdient haben?«

Shana begriff. Norman war durch sein entstelltes Äußeres schrecklich schüchtern. Die Extradosis machte es für ihn wahrscheinlich leichter, und das Gleiche traf vermutlich auch auf Karen zu und auf Milton, der ständig unter Unruhe litt. Als Shana an der Reihe war, erklärte sie Betsy, dass sie nicht schlafen könne, und bekam daraufhin zwei der rosa Pillen.

Vielleicht hatte Alex recht damit, dass sie nirgends so einzigartige Freunde finden würde wie hier in Whitehall. Und wo würde sie darüber hinaus einen Mann wie Alex finden? Am liebsten würde sie ihn in ihr Zimmer zerren und ihn leidenschaftlich lieben. Bestimmt war er ein fantastischer Liebhaber, weil er ein so gewaltiges Bedürfnis hatte, andere glücklich zu machen. Die meisten Männer, mit denen sie geschlafen hatte, waren egoistische Scheißkerle gewesen. Sie malte sich aus, Alex zu heiraten und ein Haus voller Kinder zu haben. Sie sah Alex vor sich, wie er ein Baby in seinen Armen zärtlich wiegte. Er wäre der perfekte Ehemann und Vater. Sie musste kichern, als sie sich ausmalte, wie sie Lily ihren neuen Bräutigam vorstellen würde. Ihre Mutter würde ausflippen, weil sie sich mit einem Irren einließ. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr diese Idee.

 

Dutzende Ballons schwebten unter der Decke in der Turnhalle. Aus zwei großen Lautsprechern ertönte Musik. Die Patienten standen in Gruppen herum, und in einer Ecke lehnte George an der Wand und starrte ins Leere. Als Shana mit Alex in die Halle trat, verstummten die anderen und schauten sie an.

»Tanzen wir?«, fragte Alex und schwenkte sie in seinen Armen.

Sie waren die Einzigen auf der Tanzfläche. Brett und die anderen Männer, mit denen Shana im Laufe ihres Lebens getanzt hatte, waren immer nur von einem Fuß auf den anderen getreten. Es überraschte sie, wie gut Alex tanzte; sicher hatte er Unterricht genommen. Er drückte sie fest an sich, als er sie über den rutschigen Boden wirbelte. Langsam trauten sich auch andere Paare auf die Tanzfläche.

Karen tanzte mit Norman; May hielt Milton an der Taille umfasst, die beiden bildeten, gelinde gesagt, ein ungewöhnliches Paar. David, der nicht etwa Frauenkleider, sondern einen schicken Pullover und dunkle Hosen trug, hatte eine hübsche Brünette aus der Jugendabteilung im Arm. Seine Armbinde war weg. Wanda, die nach einer Elektroschockbehandlung sabbernd im Rollstuhl gesessen hatte, tanzte in einem blauen Kleid mit dem Pfarrer. Sie lächelten und schmiegten sich eng aneinander.

Waren es die Drogen, fragte sich Shana, oder war alles, was sie in Whitehall bislang erlebt hatte, ein Trugbild gewesen? Niemand schien sich mehr seiner Krankheit oder seines Handicaps bewusst zu sein. Es war, als wären sie alle Schauspieler.

Shana wurde von Alex aus ihren Gedanken gerissen. »Ich könnte mein Leben hier mit dir verbingen. Mehr würde ich mir für mich nicht wünschen.«

Shana wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Als sie nach dem Lied nebeneinander auf zwei Klappstühlen saßen, die an der Wand aufgereiht waren, fragte sie: »Alex, es geht mich zwar nichts an, aber warst du schon mal verheiratet?«

»Nein«, antwortete er und schaute zu den Tanzenden.

»Wirklich? Du musst doch eine Menge Freundinnen gehabt haben. Du siehst sehr gut aus, Alex. Du warst doch sicher ein paarmal verliebt.«

»Ein Mal.«

Aus den Lautsprechern dröhnte jetzt Rockmusik. »Was ist passiert?«, brüllte Shana gegen den Lärm an.

»Wahrscheinlich haben sich die Teenager beschwert.«

»Ich meine nicht die Musik. Was war mit dem Mädchen?«

»Wir waren zu jung«, sagte Alex und blickte zu Boden. »Es hat nicht funktioniert.«

Shana rückte ihren Stuhl näher heran. »Habt ihr euch wegen deinen Eltern trennen müssen?« Sie dachte an Nadine, seine Mutter, die bestimmt in der Lage war, jeden zu verschrecken.

»Nein«, erwiderte er. »Sie hat mich verlassen.«

»Das tut mir leid.«

Shana bemerkte, wie Norman auf sie zukam, und rief ihm zu: »He, Norm, du siehst klasse aus in deinem Smoking. Wie wär’s, tanzen wir?« Als sie aufstehen wollte, gruben sich Finger in ihren Unterarm. Sie riss ihren Arm weg. »Das hat weh getan, Alex! Ich kann doch tanzen, mit wem ich will.«

Auf der Tanzfläche schmiegte sich Shana dicht an Norman, weil sie sich freute, dass es ihm ganz offensichtlich gutging. »Wenn du aus dem Krankenhaus kommst, musst du unbedingt mit deiner Frau mal tanzen gehen.«

Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, doch Alex war verschwunden. Ihr war nicht klar, was mit ihm los war, und ihr Arm schmerzte immer noch ein bisschen von seinem harten Griff. Es war kein Versehen gewesen. Sie war sich so gut wie sicher, dass er ihr absichtlich weh getan hatte.

Nach dem Tanz mit Norman erblickte sie Milton und zog ihn auf die Tanzfläche. Milton tanzte wie ein durchgedrehter Teenager, seine überbordende Energie leistete ihm hier gute Dienste. Danach tanzte sie mit David und sogar mit dem Pfarrer. Die Füße taten ihr höllisch weh, aber sie konnte nicht aufhören. Wann immer ein Lied vorbei war, kam jemand auf sie zu, und sie fühlte sich verpflichtet, weiterzumachen.

Als sie endlich Alex entdeckte, setzte sie sich neben ihn. »Wow«, sagte sie und merkte, wie verschwitzt sie war. »Das war’s für mich.«

»Du meinst, deine Tanzkarte ist voll?«

»Nein, meine Zehen tun weh. Deine Schuhe sind wirklich sehr schön, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie die richtige Größe haben.« Sie zog einen der weißen Satinpumps aus und massierte den schmerzenden Fuß. »Alle Leute haben so viel Spaß, Alex, wegen dir. Du bist ein sehr großzügiger Mann.« Dann sah sie auf die rote Stelle an ihrem Unterarm. »Vorhin hast du mir fast den Arm abgerissen. Was sollte das denn?«

Alex ging nicht darauf ein, sondern streckte ihr ein Glas mit kaltem Fruchtsaft hin. »Ich habe dir was zu trinken mitgebracht. Du siehst aus, als könntest du’s gebrauchen.«

»Du bist immer so aufmerksam, Alex. Deswegen verstehe …«

»Wir können jetzt gehen. Morrow hat dich hochgestuft, du kannst jederzeit hier weg.«

Shana unterdrückte ein Gähnen. Die Extradosis Valium und die körperliche Anstrengung machten sie müde. »Sollten wir nicht auf die anderen warten?«

Ein ungemütliches Schweigen trat ein. »Ich wollte dir nicht weh tun, Shana. Ich wollte nur hier weg. Ich bekomme Kopfweh von der Musik.«

Shana wollte es dabei belassen. Ganz offensichtlich hatte er ihr nichts antun wollen. Er war stark, so etwas passierte Männern immer wieder. Sie hatte einmal einen Footballspieler zum Freund gehabt, der ihr beinahe die Knochen gebrochen hätte, als er sie umarmte. Männern war oft nicht klar, wie stark sie waren. Sie wollte weg hier und mit Alex allein sein.

George sperrte ihnen die Tür auf, und sie beide winkten den anderen zu, die immer noch tanzten und sich unterhielten. Sie schwenkte ihre Schuhe in der Hand und lief barfuß über den Weg.

Alex stellte sich ihr in den Weg. »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen, wenn du mich nur lässt. Wir müssen auch nicht hier in San Francisco bleiben, meinetwegen ziehen wir nach Bora Bora.«

Shana packte ihn am Kragen und zog ihn in den Schatten. »Ich verliebe mich auch gerade in dich, Alex.«

Er führte sie zu einer Mauernische, wo keiner sie entdecken würde. Er küsste sie auf die Stirn, dann nahm er ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie leidenschaftlich auf die Lippen. »Ich will dich so sehr, Shana. Vom ersten Tag an habe ich dich gewollt.«

Bevor sie etwas sagen konnte, kniete er sich auf den Asphalt und vergrub sein Gesicht zwischen ihren Beinen. Mit der Zunge schob er ihr Höschen auf die Seite. Sie wollte ihn aufhalten, aber sie konnte nicht. Sie war derart erregt, und seine forschende Zunge war so wunderbar und aufregend. Sie erlebte einen heftigen Orgasmus. »Oh, Alex«, keuchte sie und machte sich daran, seinen Reißverschluss aufzuziehen. Sie wollte ihn spüren, mehr als sie jemals zuvor einen Mann hatte spüren wollen. In dem Moment, als ihre Hand seinen erigierten Penis aus der Hose zog, hörten sie Gelächter und Stimmen.

Alex stöhnte. »Verdammt, die anderen kommen von der Disco.«

Doch Shana war nicht mehr zu bremsen. Sie wollte ihn vögeln, bis die Sonne aufging. »Sie können uns nicht sehen. Wir sind hier doch ganz gut versteckt.«

Schnell zog Alex seine Hose hoch. »Wenn wir nicht mit hineingehen, dann wird George nach uns suchen. Die Erinnerung an unser erstes Mal sollte besser nicht George einschließen, oder?«

Sie lachte, packte seine Hand und schob sie sich zwischen die Beine. Wie war es möglich, dass sie schon wieder erregt war? Sie hatte doch eben erst einen Orgasmus gehabt. »Meinetwegen kann George uns zuschauen. Ich will nicht aufhören. Ich will dich mehr als alles andere. Du bist ein unglaublicher Liebhaber.«

Als die Schritte der anderen näher kamen, sagte er schnell: »Ich glaube, sie haben deine Zimmergenossin entlassen. Ich komme nach dem letzten Kontrollgang zu dir.«

Der Augenblick war vorbei. Shana rückte ihr bauschiges Kleid zurecht. »Wie kommst du darauf, dass sie Michaela entlassen haben? Wenn irgendjemand hierhergehört, dann sie. Ich habe panische Angst davor, dass sie mich mit einem Kissen erstickt.«

»Wir haben den gleichen Psychiater, und er hat erwähnt, dass sie nach Hause geht.«

»Aber ihre Sachen waren noch im Zimmer.«

»Irgendwelche Sachen von Wert?«

»Eigentlich nicht, nur ein muffiger Morgenmantel und ein Paar Hausschuhe.«

»Komm zu mir ins Zimmer, ich bin allein dort.«

Als die anderen Patienten an ihnen vorübergingen, zog Alex Shana aus ihrem Versteck, und sie schlossen sich der Gruppe an. May bemerkte sie und lächelte. Auf Alex’ Gesicht waren Lippenstiftspuren, und auf einer Seite hing ihm das Hemd aus der Hose.

»Wir müssen ja noch nicht mit hinein«, flüsterte er. »Wir sollten nur darauf achten, dass George uns sieht.«

»Aber ich will mich duschen, damit ich ganz makellos für dich bin.«

»Du bist makellos.« Die anderen waren im Haus, und Alex pflückte eine Gardenienblüte. »Genau so duftest du.« Er schnupperte an ihrem Hals. »Und du schmeckst nach Honig.«

Die Luft war erfüllt von dem köstlichen Duft des Gardenienstrauchs neben ihnen. »Zeigst du mir deine Narbe?«, platzte es aus ihm heraus. »Die auf dem Bein.«

Shana hatte sich beim Skifahren das Bein gebrochen, und die Ärzte hatten eine Platte und fünf Schrauben eingesetzt. Sie fragte sich, woher Alex davon wusste, aber vermutlich hatte er die Narbe vorhin gespürt. »Warum willst du sie sehen? Ich kenne eine Menge Kerle, die meine Titten sehen wollten, aber noch nie wollte einer meine Narbe sehen.«

»Als ich vierundzwanzig Jahre alt war, hat man einen bösartigen Tumor an meinem Bein entdeckt. Sie haben ihn herausgeschnitten, aber ich war mir sicher, dass er wiederkommt und man mir das Bein amputieren müsste.« Er trat neben die Tür, so dass man ihn von innen nicht sehen konnte, öffnete den Gürtel und den Reißverschluss und zog die Hose bis zum Oberschenkel hinunter. Er nahm Shanas Hand und legte sie auf sein linkes Bein, so dass sie die vernarbte Haut spüren konnte. Gleich darauf zog er sich wieder an.

Shana fiel aus allen Wolken. Seine Narbe fühlte sich exakt so an wie ihre eigene. Sie war am gleichen Bein, etwa zwanzig Zentimeter oberhalb des Knies, und schien die gleiche Größe zu haben. »Ich hatte mit siebzehn Jahren einen Skiunfall.« Sie hatte angenommen, dass Alex ein paar Jahre jünger sei als sie, aber sie hatte ihn nie danach gefragt. »Wie alt bist du?«

»Fünfunddreißig.«

»Was?«, sagte Shana erschrocken. »Du siehst so jung aus. Ursprünglich dachte ich, dass du vielleicht Anfang zwanzig bist. Dann muss mein Unfall ungefähr zu der Zeit passiert sein, als man deinen Krebs entdeckt hat. Ich bin achtundzwanzig.«

»Es muss im gleichen Jahr passiert sein, vor elf Jahren.«

Sie rechnete nach, er hatte recht. Als sie siebzehn war, war Alex vierundzwanzig. »Verrückt.«

»In welchem Monat?«, fragte Alex aufgeregt.

»Dezember.«

»Man hat meinen Tumor im Dezember operiert.«

»Wie wahrscheinlich ist es, dass so etwas passiert?«

»So was ist praktisch unmöglich«, erwiderte er. »Verstehst du denn nicht, Shana?«

»Nein, eigentlich nicht«, sagte sie und strich sich das Haar hinters Ohr. Was wollte er beweisen? Es war ein Zufall, wenngleich ein ungewöhnlicher. Glaubte er, dass die übereinstimmenden Narben irgendeine Seelenverwandtschaft belegten? »Dass wir beide Narben haben, bedeutet doch nichts. Viele Leute haben welche.«

Alex küsste sie auf den Mund. »Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, sich zur selben Zeit an einem Ort wie diesem zu begegnen? Vielleicht wollte Gott uns eine neue Richtung weisen. Er wollte, dass wir zusammen sind, verstehst du? Deswegen sind wir beide hier in Whitehall.«

Shanas Wangen glühten. Er glaubte an Gott. Meistens wurde sie deswegen ausgelacht, vor allem, wenn sie erzählte, dass sie Katholikin war. Diejenigen, denen sie in Stanford begegnet war und die zugaben, an Gott zu glauben, konnte man an einer Hand abzählen. Auch das war immer ein Grund gewesen, warum sie nicht dazugehörte.

Zugegeben, manches von dem, was Alex sagte, ergab durchaus Sinn. In seiner Nähe fühlte sie sich wie berauscht, beinahe hypnotisiert. So musste es sein, wenn man sich verliebte. Vielleicht waren sie tatsächlich dazu bestimmt, sich gemeinsam von der Erde ins Universum zu stürzen. Sie stellte sich vor, wie sie hinunterfielen, Hand in Hand wie zwei Fallschirmspringer, durch ihre identischen Narben miteinander verschmolzen. Sie waren Zwillinge im Kosmos. Shana drückte ihren Finger auf den Summer und sah Betsy zur Tür kommen. »Es ist also unsere Bestimmung?«

»Ja, unsere Bestimmung«, bestätigte Alex lächelnd.

Sie war Alex so verfallen, dass es ihr schwerfiel, sich auch nur für einen kurzen Augenblick von ihm zu trennen. »Ich komme zu dir. Wie lange sollte ich warten?«

»Komm, sobald du kannst, aber sei vorsichtig. Sex unter den Patienten gilt hier als so ziemlich das schlimmste Vergehen.«

»Sprechen wir von der Gummizelle?«

»Darauf kannst du Gift nehmen.«

Shana verkrampfte sich, doch dann lächelte sie. Sie schwebte über allen Wolken, nichts konnte sie hinunterziehen. »Umso spannender. Außerdem gibt es hier nur eine Gummizelle, und die habe ich ziemlich zerstört. Sie müssten uns gemeinsam einsperren.«

Alex zog eine Augenbraue hoch. »Da gibt es immer noch die Zwangsjacke.«

»Nett, dass du mich daran erinnerst.« Sie legte ihre Hand auf seine Brust. »Ich liebe dich, Alex.«

»Ich liebe dich noch mehr, viel mehr.«

»Warum?«

»Weil ich dich vom ersten Augenblick an geliebt habe«, erklärte Alex. »Du wusstest bis heute Abend nicht, was du von mir halten sollst.«

»Egal«, sagte Shana und küsste ihn flüchtig auf die Wange, bevor sie noch einmal auf den Summer drückte.