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Dienstag, 19. Januar
Ventura, Kalifornien

Wenn Chris und Lily zum Essen zu Hause waren, dann kochten sie gemeinsam. Heute gab es Fisch, eine von Lilys Spezialitäten. Während Chris das Gemüse für den Salat klein schnitt, kümmerte sich Lily um den Barsch, die Ofenkartoffeln und den Spargel. Auf dem Tisch stand eine offene Flasche Sauvignon Blanc.

»Es wäre mir lieb, wenn du heute Abend anrufst und versuchst, Shana ans Telefon zu bekommen«, sagte Lily und goss die Zitronenbuttersoße, die sie vorbereitet hatte, über den Fisch.

»Das ist doch Blödsinn. Warum sollte sie mit mir reden? Wir sind uns noch nie begegnet.« Chris nahm eine Flasche Honigsenfsoße aus dem Kühlschrank, schüttelte sie und tröpfelte etwas davon über den Salat.

»Du musst so tun, als wärst du Brett.« Lily schob den Fisch in den Ofen und trat an die Spüle, um ihre Hände zu waschen. »Ihn wird sie nicht abweisen.«

»Das ist grausam, Lily.« Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an. »Du willst doch, dass ich eine gute Beziehung zu Shana aufbaue. Wenn ich tu, was du verlangst, dann vergebe ich jede Chance auf eine Freundschaft. Man kann doch eine Beziehung nicht mit einer Lüge beginnen.«

»Was soll ich denn sonst machen?« Lily trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie nahm einen Schluck Wein und fügte dann hinzu: »Vielleicht ist sie krank. Ich habe seit ihrer Aufnahme nicht mit ihr gesprochen.«

»Ich weiß ja, dass du dir Sorgen machst, aber immerhin hast du sie dort hingeschafft. Ich an ihrer Stelle würde mich auch weigern, mit dir zu reden.« Er sah, wie Lily sich abwandte, trat zu ihr und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. »Schau mich an, Liebes. Ich will dich nicht kritisieren. Wenn jemand dich versteht, dann bin ich es. Mit Sherry habe ich es nicht anders gemacht. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Shana etwas Ernsthaftes fehlt. Es klingt, als sei sie eine gesunde junge Frau. Lass uns jetzt hinsetzen und zu Abend essen. Der Fisch duftet ganz wunderbar.«

»Ich habe keinen Hunger«, schniefte Lily.

»Na komm schon«, erwiderte er. »Du hast heute nicht einmal Zeit zum Mittagessen gehabt, du musst doch halb verhungert sein. Du wirst noch krank, wenn du so wenig isst. Ganz abgesehen davon mag ich es nicht, wenn meine Frau nur Haut und Knochen ist.« Er vermischte den Salat und trug ihn zum Tisch, dann holte er den Wein.

Die Mahlzeit über war Lily schweigsam. Die Feststellung von Chris, dass man eine Beziehung nicht mit einer Lüge beginnen sollte, hatte ins Schwarze getroffen. Als sie die Küche aufgeräumt hatte, bat sie ihn auf den Balkon. Der Abend war kühl, vom Meer her wehte ein frischer Wind. Von Süden zog ein Sturm auf, und am Horizont ballten sich schwere Wolken zusammen. Sie ging ins Schlafzimmer, um sich einen Pullover zu holen, und brachte auch für Chris einen mit.

Ihr Gespräch mit Dr. Morrow hatte sie davon überzeugt, dass Shana in guten Händen war und bald wieder auf den Beinen sein würde, doch sobald sie mit Chris allein war, wurde Lily nervös. Das, was er über seine Frau erzählt hatte, war, gelinde gesagt, beunruhigend gewesen, aber hier ging es um mehr. Sie musste ihm die Wahrheit sagen. Es hatte sie unglücklich gemacht, Bryce die Wahrheit vorzuenthalten. Selbst ein Gauner hatte das Recht zu wissen, mit wem er sein Leben teilte.

»Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, dass ich etwas Schreckliches getan habe?« Der Wind fegte ihr die Haare aus dem Gesicht.

»Ja, aber Lily …«

»Ich muss es dir sagen, Chris. Es geht hier nicht um Ladendiebstahl. Ich habe jemanden getötet.«

Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, so, als brauche er Zeit, um zu verstehen, was sie gesagt hatte. Nach einer Weile platzte er heraus: »Wen, in Gottes Namen, hast du getötet?«

Ihre Stimme war brüchig. »Als der Vergewaltiger flüchtete, konnte ich ihn kurz in dem Licht sehen, das vom Badezimmer hereinfiel. Eine Polizeisirene hatte ihn aufgeschreckt. Leider hatte niemand die Polizei gerufen, obwohl Shana und ich um Hilfe geschrien hatten. Wie dem auch sei, irgendwie war er mir bekannt vorgekommen. Ich dachte, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte, wusste aber nicht, wo. Nachdem John Shana mit nach Hause genommen hatte, fiel es mir wieder ein. Ich war mir sicher, dass es der Vergewaltiger war, den Silverstein angeklagt hatte. Weil das Opfer bei der Anhörung nicht aufgetaucht war, mussten wir die Anklage fallenlassen und ihn auf freien Fuß setzen.«

Lily verstummte und massierte sich den Nacken. Der Schmerz hatte in dem Augenblick zu pulsieren begonnen, als sie die Erinnerung an diese Nacht wachgerufen hatte. Chris saß ihr in gespannter Aufmerksamkeit gegenüber, und ihr war klar, dass sie fortfahren musste. »Der Verdächtige war an dem Tag freigelassen worden, an dem wir überfallen wurden. Ich malte mir aus, wie er mich vom Fenster des Gefängnisses aus auf dem Parkplatz beobachtet hatte und mir dann nach Hause gefolgt war. Ich hatte den Bericht mit dem Fahndungsfoto in der Aktentasche. Ich zog es heraus und war mir sicher, dass er es war. Er trug das gleiche rote Sweatshirt, und an seinem Hals hing das gleiche goldene Kruzifix. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Also holte ich das Gewehr meines Vaters aus der Garage und fuhr zu der Adresse aus dem Polizeibericht. Ich habe sogar mein Nummernschild mit einem Stift verfälscht.« Sie legte die Hände aufs Gesicht. »Dann habe ich auf ihn gewartet. Ich saß die ganze Nacht da und wartete darauf, dass er herauskäme, damit ich ihn erschießen könnte. Und als er am nächsten Morgen das Haus verließ, tat ich genau das. Ich habe ihn umgenietet.«

»Und du hast den Falschen getötet? Ist es das?« Chris griff nach Lilys Hand, doch die Geste wirkte unaufrichtig, als ob er gar nicht darüber nachdachte.

Lily blickte ihm fest in die Augen. »Ich habe Bobby Hernandez umgebracht. Hast du schon mal von dem Lopez/McDonald-Fall gehört? Es war einer der grausamsten Morde, die jemals in Ventura begangen wurden. Wahrscheinlich weißt du nichts davon, denn das war, bevor du nach Ventura gekommen bist.« Er schüttelte den Kopf, und sie fuhr fort: »Die Opfer waren Teenager, ein Pärchen. Der Junge wurde niedergeknüppelt, das Mädchen vergewaltigt und verstümmelt. Die Mörder waren fünf Kerle von einer hispanoamerikanischen Gang. Sie haben Zielschießen auf die Brust des Mädchens geübt. In ihre Vagina haben sie einen Ast geschoben. Bobby Hernandez war der Rädelsführer. Das ist der Mann, den ich getötet habe, Chris.«

»Ich muss was trinken«, sagte Chris, stand auf und ging ins Haus.

Lily blieb draußen und fragte sich, ob er zurückkommen würde. Das Meer schien ihre Gefühle widerzuspiegeln, denn eine riesige Welle krachte auf das Ufer direkt unter ihr. Er würde sie verlassen. Plötzlich schmerzte ihr Rücken nicht mehr. Endlich war das schreckliche Geheimnis draußen, das sie so lange mit sich herumgeschleppt hatte. Es gab keine Verjährungsfrist für Mord. Die Minuten vergingen. Was würde Chris tun?

Schließlich kam er wieder auf den Balkon heraus. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Lily. Ich bin gegen jede Selbstjustiz, und das, was du mir erzählst, ist das beste Beispiel dafür, warum die Menschen das Gesetz nicht in die eigenen Hände nehmen sollten. Ich werde dich nicht anzeigen, falls du das befürchtest. Niemand kann sagen, wie er oder sie in einer solchen Situation reagieren würde. Wenigstens hast du keinen Unschuldigen getötet. Vielleicht hast du einem Mörder seine gerechte Strafe erteilt. Bist du ganz sicher, dass Bobby Hernandez mit den Morden an den beiden Teenagern zu tun hatte?«

»Es gab Augenzeugen«, antwortete Lily. »Außerdem hat einer von der Gang Hernandez angeschwärzt und erzählt, dass er der Rädelsführer war. Leider konnte man damals noch keine DNA-Analyse machen. Aber nach seinem Tod hat die Polizei das Haus von Hernandez durchsucht. Sie haben dort die Halskette des Mädchens gefunden und noch andere Beweisstücke, die von dem Verbrechen stammten.«

»Der Kerl war ein Ungeheuer«, entfuhr es Chris. »Ich verstehe nicht, wie Menschen zu so einer Brutalität fähig sind. Woher kommt das? Wie konnten sie ein junges Mädchen derart verletzen? Es macht mich krank, es ist die Personifizierung des Bösen.«

»Das war noch nicht alles.« Chris sah Lily überrascht an. »Die versuchte Vergewaltigung, die Silverstein auf dem Tisch hatte und die wir fallenlassen mussten, stellte sich als Mord heraus. Das Opfer ist deshalb nicht zur Anhörung erschienen, weil Hernandez sie umgebracht hatte.«

»Hör zu«, sprach Chris gegen den heulenden Wind an. »Das Biest, das du getötet hast, hatte nichts Menschliches an sich. Wahrscheinlich hältst du mich für einen religiösen Fanatiker, aber ich weiß: Das Böse existiert. Du und Shana, ihr habt ein ungeheures Opfer gebracht für das übergeordnete Wohl. Gott hat euch erwählt, Lily. Er hat dich erwählt, um für das Gute zu kämpfen. Es war eine Ehre, verstehst du? Niemand als Gott selbst kann das so geplant und all die Einzelteile zusammengefügt haben.«

»Aber Shana …«

»Vielleicht ist das schwer vorstellbar« – Chris musste gegen den Wind anschreien –, »aber sowohl du als auch Shana werdet belohnt werden für den Schmerz und die Demütigung, die ihr erfahren habt. Vielleicht nicht heute oder morgen, vielleicht nicht einmal hier auf Erden, doch Gott weiß, was ihr erlitten habt, und er wird es euch nicht vergessen.« Er machte eine kurze Pause und lächelte sie an. »Allerdings würde ich nicht noch einmal jemanden umbringen. Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass du von Gott ein zweites Mal zu so etwas auserkoren wirst.«

Unglaubliche Erleichterung überschwemmte Lily. Endlich kannte jemand die Wahrheit und verstand sie sogar. Als Chris Lily an sich zog und in die Arme nahm, rannen ihr Freudentränen über das Gesicht. Vor sich sah sie all die zerbrochenen und oft auch zerstörerischen Beziehungen, die sie in ihrem Leben eingegangen war und die jetzt von den sich zurückziehenden Wellen aufs Meer hinausgetragen wurden. Endlich hatte sie eine verwandte Seele gefunden. Der Himmel öffnete seine Schleusen, und der Regen platzte herunter, doch keiner der beiden machte Anstalten, ins Haus zu gehen. Seite an Seite wandten sie sich dem aufgewühlten Ozean zu und ließen sich von den Regenfluten überspülen.

Mittwoch, 20. Januar
San Francisco, Kalifornien

»Kommst du heute Abend zur Disco?«, fragte Alex Shana auf dem Weg zum Mittagessen. »Sie findet in der Turnhalle statt. Eigentlich ist es für die Jugendlichen, aber manchmal gehen wir alle hin.«

»Eine Disco?«, fragte sie ungläubig zurück. »Die veranstalten hier tatsächlich eine Disco?«

Alex zog erst eine Augenbraue hoch, dann die andere und machte komische Grimassen, um Shana zum Lachen zu bringen. Shana hatte den ganzen Tag Trübsal geblasen und mit niemandem reden wollen. Am Nachmittag hatte sie vor dem Fernseher gesessen und war hin und wieder eingeschlafen.

»Schmeiß dich in deine Abendrobe«, scherzte Alex. »Das ist eine wichtige Geschichte. Angeblich ist deine Versicherung zehntausend Dollar wert.«

»Da könntest du recht haben.« Endlich gelang Shana ein kleines Lächeln, auch wenn sich nur ein Mundwinkel dabei hob. »Gehst du hin?«

»Klar«, sagte er, »das will ich auf keinen Fall verpassen.«

Beim Mittagessen trug Alex ihre Teller zum Tisch, während Shana sich um die Fruchtsäfte, die Servietten und das Besteck kümmerte. Sie setzte sich auf den üblichen Platz neben Alex. Der Stuhl, auf dem Norman normalerweise saß, war leer. Shana sah sich um, ob sie ihn in der Warteschlange vor der Essensausgabe entdecken konnte, aber da war er nicht. »Wo ist Norman?«

»Er hat eine Sitzung mit seinem Psychiater«, erklärte Alex. »Norman überlegt, nach Hause zu gehen. Er ist freiwillig hier, also kann er jederzeit weg.«

»Ich weiß nicht, ob er wirklich schon so weit ist«, erwiderte Shana mit besorgtem Blick. »Er hat heute so deprimiert gewirkt, beinahe feindselig. Ich hätte nicht nach dem Unfall fragen sollen.«

»Es geht ihm gut«, schaltete Karen sich ein. »Norman kann bestimmt nach Hause. Ich habe auch schon mit ihm über das Feuer geredet, und es hat ihm nichts ausgemacht. Wahrscheinlich hatte er heute einfach Schmerzen. Ich glaube, er hat bald noch eine Operation.«

Im Verlauf des Gesprächs über Shanas und Normans Entlassung verkündete May, dass auch sie in der nächsten Woche die Klinik verlassen würde. Niemand sprach von Alex’ Entlassung, also sagte auch Shana nichts dazu. »Hast du Familie, May?«

»Sie sind alle tot.« Sie machte ein trauriges Gesicht, doch einen Augenblick später hellte es sich auf, und sie lächelte. »Ich habe einen Job in L.A. in Aussicht. Die Firma bietet einen telefonischen Hellseher-Service an. Sie zahlen gut. Anscheinend rufen dauernd irgendwelche Hollywood-Stars an. Ich kann dort bis zu fünfzig Dollar die Stunde verdienen und muss dafür nichts anderes tun, als mit ein paar einsamen Menschen zu telefonieren.«

Die Patienten am Tisch kicherten bei der Vorstellung von May als telefonseelsorgerische Hellseherin. »Klingt, als gehst du in die Unterhaltungsindustrie«, sagte Shana. Sie zwang sich, eine Gabel voll Reis hinunterzuschlucken. Sie hatte überhaupt keinen Appetit. Vermutlich kam es von den Medikamenten.

»Ich werde die Leute nicht betrügen, sondern alles ganz richtig machen. Ich kann das übers Telefon, ich hab’s schon probiert.«

»He, ich mach mich nicht lustig über dich, May, ich hab es ja selbst erlebt. Wahrscheinlich geh ich nach Ventura, das ist nicht so weit weg von Los Angeles. Wir müssen Kontakt halten, vielleicht gehen wir mal zusammen Mittag essen.«

Mit einem lauten Klirren ließ Alex gleichzeitig Messer und Gabel auf den Teller fallen. »Entschuldigt mich«, sagte er und stand auf. »Ich brauche ein bisschen frische Luft.«

Shana versuchte, ihn zu ignorieren und weiterzuessen. Sie stocherte in ihrem Hühnchen herum, bis lauter kleine Brocken auf dem Teller lagen.

»Alex will nicht, dass du gehst«, erklärte Karen, drehte den Kopf zur Seite und murmelte: »Scheiße, verdammt, verfickt.« Sie beruhigte sich wieder und fuhr fort: »Er findet, du solltest nicht hier in der Gegend bleiben, wegen deinem Freund. Er hat dir weh getan, oder? Es gibt so viele gewalttätige Männer da draußen. Da bin ich richtig froh, ein Single zu sein.«

»Brett hat mich nicht geschlagen«, widersprach Shana und fragte sich, was Alex den anderen erzählt hatte.

Karen und May hörten zu essen auf und starrten sie mit einem ungläubigen Blick an. Shana machte sich auf die Suche nach Alex. Er saß auf einem Stuhl im Hof und rauchte. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.

»Zigarette?«

»Nein danke«, sagte sie. »Das Letzte, was ich brauchen kann, ist, wieder das Rauchen anzufangen.«

Alex steckte die Packung zurück in die Hosentasche und blies eine dünne Rauchsäule aus seinem Mundwinkel. »Was könnte dich hier halten?«

»Meinst du in San Francisco?«

»Nein«, erwiderte Alex, »ich meine hier im Krankenhaus. Was bräuchtest du, um hier glücklich zu sein?«

Shana erschrak. »Du meinst für immer?« Das war völlig absurd. Warum, in aller Welt, stellte er eine so verrückte Frage? Sie zählte die Stunden bis zu ihrer Entlassung, und Alex bat sie, für immer in Whitehall zu bleiben.

Er lehnte sich auf dem Plastiklehnstuhl zurück, bis seine Füße vom Boden abhoben, und klopfte die Zigarettenasche im Gras ab. »Eigentlich ist Whitehall doch gar nicht so schlecht. Man bekommt drei Mahlzeiten am Tag und hat ein Dach über dem Kopf. Dein Zimmer wird geputzt, deine Wäsche gewaschen, und du wirst von niemandem belästigt. Wenn du wirklich darüber nachdenkst, was brauchst du denn tatsächlich im Leben? Brauchen wir all die Autos und Häuser und Kleider und Besitztümer? Wenn du einen Computer haben willst, können wir dir einen besorgen. Brauchst du Bücher, dann musst du nur die Titel aufschreiben, und die Pfleger bringen sie dir kostenlos aus der Bücherei. Musst du wirklich so viele Dinge besitzen, so viel Zeug um dich haben? Die Wirtschaft ist doch eine Katastrophe. Wir haben die Erde zerstört. Bald gibt es kein Öl und kein Wasser mehr.« Er hielt inne, zog noch einmal an seiner Zigarette und drückte sie dann aus. »Jetzt, wo Morrow dich hochgestuft hat, können wir jeden Abend einen Spaziergang im Hof machen.« Er lachte. »Und denk daran, keiner kann dir vorhalten, dass du Drogen nimmst.«

»Sehr witzig«, sagte Shana, die sich nicht sicher war, ob er es ernst meinte oder nur ein interessantes Gesprächsthema suchte. »Hier kannst du nicht kommen und gehen, wann du willst, du kannst nicht für dich selbst entscheiden, dauerhafte Beziehungen eingehen oder auch nur etwas anderes tun, als den ganzen Tag herumzusitzen. Das Leben besteht doch aus mehr als drei Mahlzeiten am Tag und etwas Unterhaltung. Es stimmt schon, es ist nicht immer alles nur schön da draußen. Doch genau das macht das Leben zu einer Herausforderung, wenn man darum ringen muss, die diversen Hürden zu überwinden. Und du übersiehst auch die Verantwortung, die wir haben. Stell dir vor, jeder schmeißt seinen Job hin und verschwindet. Wer würde die Zeitungen austragen, die Lebensmittelregale auffüllen, unsere Äcker bestellen und unsere Kinder ausbilden? Und was wäre mit den Ärzten? Wenn alle Ärzte einfach aussteigen würden?«

»Ich habe dich nicht um eine Ansprache gebeten«, sagte Alex, »sondern nur um die Antwort auf eine rein theoretische Frage.«

Als sie sich selbst so zuhörte, wurde Shana klar, wie sehr sie sich in der kurzen Zeit in Whitehall entwickelt hatte. Was hatte sie sich nur gedacht? Sie war nie jemand gewesen, der aufgab. Bretts Noten waren schlechter als ihre, kein Wunder also, dass er so beunruhigt wegen des Examens war. Es war das genaue Gegenteil von dem, was Brett am Telefon gesagt hatte: Er hatte sie hinuntergezogen und in Panik versetzt. Wenn man jemandem nahestand, dann eignete man sich oft die Probleme und Sorgen des anderen an.

Shana fand, sie hätte ihr Argument vorgebracht, aber Alex erwartete offenbar eine konkretere Antwort. »Hier gibt es zu viele Regeln und Vorschriften. Die Angestellten haben zu viel Macht über die Patienten.«

»Gibt es nicht genauso viele Regeln in der Welt da draußen?«, widersprach Alex. »Schau dir die Gesetze an.«

»In dem Punkt geb ich dir recht. Die Regeln in Whitehall ähneln Gesetzen. Allerdings gibt es keine Gerichte und keine Richter. Whitehall ist undemokratisch. Hier herrscht eine Diktatur, es ist ein besseres Gefängnis.«

Alex blieb beharrlich. »Hier wird kein Druck ausgeübt, keiner muss sich beweisen oder hervortun. Man kann nicht versagen, man wird nicht abgelehnt, muss keine Fristen einhalten. Drei Jahre in Whitehall können dir nicht mehr anhaben als drei Monate draußen. Nach zehn Jahren hier drin wirst du kaum anders aussehen als heute.«

Sie schwiegen, als sich die Türen zur Kantine öffneten und die Patienten herauskamen. »Ich weiß, das ist eine rein hypothetische Unterhaltung, Alex«, warf Shana ein, »aber ich könnte niemals in Whitehall bleiben. Ich habe beschlossen, mein Studium zu beenden und das Juraexamen zu machen.«

»Glaubst du ernsthaft, dass du jemals von Bedeutung sein wirst im großen Ganzen? Denk daran, du bist ein Nichts. Der einzige Wert, der zählt, ist, ob man der Menschheit Gutes tut. Was aber kann ein Jurist schon ausrichten?« Alex stand auf und gesellte sich zu der Gruppe, die auf dem Weg ins Hauptgebäude war.

Shana blieb sitzen, bis alle hineingegangen waren. Er hatte unrecht. Wenn sie ihr Examen machte, könnte sie vielleicht so korrupten Einrichtungen wie Whitehall das Handwerk legen oder Menschen wie Karen helfen, die unter einer seltenen Krankheit litten und nicht an Medikamente herankamen, weil für die Pharmafirmen zu wenig heraussprang. Eine andere Möglichkeit wäre eine Stelle im öffentlichen Dienst oder gar in der Politik. Ihr war klar, dass sie eine gewisse Menge Geld verdienen musste, aber sie hatte sich nie wirklich um materielle Güter geschert. Vielleicht könnte sie Anwältin für psychisch Kranke werden. Die Möglichkeiten waren unbegrenzt.

Als alle Patienten im Haupthaus verschwunden waren, sah Shana George auf sich zukommen. »Fehlalarm«, sagte sie und stand auf. »Ich klettere schon nicht über die Mauer, George. Sie können die Hunde zurückpfeifen.«