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Mittwoch, 3. Februar
Ventura, Kalifornien

Nachdem Chris das Haus verlassen hatte, versuchte Lily, im Bett zu lesen, doch immer wieder döste sie ein. Sie sagte sich, dass Chris jeden Augenblick mit Shana im Schlepptau hereinkommen würde. Vielleicht lag es an Shanas Schlaflosigkeit. Nachdem die Klinik Shana keine Medikamente mitgegeben hatte, sollte sie mit ihr zum Hausarzt gehen und sich eines der neuen Schlafmittel verschreiben lassen. Lily hatte jahrelang unter Schlaflosigkeit gelitten, bis sie Chris kennengelernt hatte. Er hatte ihre Dämonen vertrieben, und nun, da die Vergangenheit sie nicht mehr heimsuchte, schlief sie ohne Probleme die Nächte durch.

Sie rief Chris auf seinem Handy an und wurde unruhig, als er nicht abnahm. Doch dann nahm sie ein Klingeln aus dem Badezimmer wahr. Er hatte sein Handy vergessen. Da ohnehin jemand im Haus bleiben musste, für den Fall, dass Shana zurückkehrte, löschte sie schließlich das Licht und schlief ein.

Als sie einige Zeit später aufwachte, spürte sie Chris, der sich an sie schmiegte. Er musste Shana gefunden haben, dachte sie, und augenblicklich entspannte sie sich. Wegen der dicken Vorhänge vor den Schlafzimmerfenstern konnte sie nicht erkennen, ob es draußen noch dunkel oder schon Morgen war. Alles musste in Ordnung sein, sonst wäre Chris nicht nach Hause gekommen. Ihr war heiß, und sie schob die Decke von sich herab. Chris war erhitzt, und sie fragte sich, ob er womöglich krank wurde. Der Arme, dachte sie, nun war er mit ihrem Leben verwoben, und dieses Leben war immer kompliziert gewesen. Sie legte ihren Arm um seine Schulter und tastete nach seiner Stirn, die warm und feucht war.

Plötzlich nahm sie einen widerlichen Gestank wahr. War es sein Körpergeruch? So hatte er in der ganzen Zeit, die sie sich kannten, noch nie gerochen. Er achtete geradezu peinlich auf Sauberkeit.

»Chris«, flüsterte sie, besorgt, dass er tatsächlich krank war. Ein schlechter Körpergeruch konnte ein Zeichen für eine ernste Erkrankung sein. Er stöhnte, doch er sprach und rührte sich nicht. Vorsichtig tippte sie ihm an die Schulter. »Schatz, ist alles in Ordnung?«

Er drehte sich um, sein Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt, und sein Atem roch ebenso abstoßend wie sein Körper. Im Dunkeln konnte sie nur vage seine Umrisse erkennen. »Was fehlt dir, mein Lieber? Musstest du Shana hinterherjagen, oder was?«

Sie hörte nichts als seinen schweren, mühsamen Atem.

Plötzlich schien ein riesiges Untier ihre Organe zu zerquetschen. In ihrer Kehle stieg Gallenflüssigkeit auf, und überzeugt, dass es nicht ihr Geliebter war, schob sie den Mann von sich.

»Lily«, sagte eine sanfte Stimme. »Es wird Zeit. Alles ist bereit.«

Das war nicht die Stimme von Chris. Sie kreischte, rollte sich, so schnell sie konnte, vom Bett und suchte verzweifelt nach dem Zeitungsständer, in dem sie einen Revolver versteckt hatte. Das musste der Mann sein, der Shana verfolgt hatte, Alex, der Mann, der angeblich tot war. Ganz offensichtlich war er kein Geist. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, und sie musste dringend die Pistole finden, um sich zu verteidigen.

Innerhalb eines Wimpernschlags hatte er sich auf sie geworfen. Mit seinem nackten Körper presste er sich an sie und drückte sie an den Boden. Die Waffe war ganz in ihrer Nähe, nur eine Handbreit entfernt. Sie stemmte sich gegen ihn und trat mit aller Kraft um sich, doch er war zu stark.

»Hör auf, dich zu wehren«, sagte er. »Ich will dich beschützen. Niemand wird dir jemals wieder weh tun. Shana ist schon bei mir. Sie erwartet uns. Ihr beide seid so wunderschön, ihr müsst Engel sein.«

Lily kämpfte weiter, doch seine übermenschliche Kraft wurde vom Wahnsinn befeuert. Er stand auf, und sie stürzte sich auf den Zeitungsständer. Noch bevor sie ihn erreichen konnte, hatte er seinen Fuß auf ihren Nacken gestellt.

Er würde sie töten.

Sie keuchte und krallte sich mit den Fingernägeln in den Teppich. Er hob seine Kleider auf und zog sich an, immer einen Fuß auf ihrem Hals, in so schnellem Wechsel, dass sie keine Gelegenheit hatte zu fliehen.

Er hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter. Als er das Zimmer verließ, griff sie nach dem Türrahmen, doch er ging einfach weiter, und sie musste loslassen. Er trug sie durch das Wohnzimmer und zur offenstehenden Haustür hinaus.

Panisch begann Lily zu schreien. »Hilfe! Ruft die Polizei! Helft mir! Er will mich umbringen!«

Sie waren im Vorgarten, und Alex warf sie auf den Rasen und stürzte sich auf sie. Mit seiner verschwitzten Hand drückte er ihr den Mund zu. Im Licht vom Nachbarhaus konnte sie ihn nun deutlich erkennen. Er sah furchterregend aus. In seinen Augen blitzte der Wahnsinn. Er war unrasiert, sein Haar war schmutzig und zerzaust.

»Warum wehrst du dich?«, fragte er. »Ich habe seit Jahren auf diesen Moment gewartet. Überall habe ich nach Shana gesucht. Wir wollen es beide, Shana und ich. Sie wollte ihre Mutter dabeihaben, deshalb habe ich dich geholt. Du willst doch nicht allein zurückbleiben, oder?«

Den Griff fest um ihren Hals geschlossen, zog er sich das T-Shirt aus und stopfte es ihr als Knebel in den Mund. Dann warf er sie sich erneut über die Schulter und setzte seinen Weg über das taubenetzte Gras fort. Der Himmel war hellgrau und bedeckt, die Morgendämmerung brach an. Lilys Rücken schmerzte so sehr, dass sie glaubte, er sei gebrochen.

Schnell bewegte sich Alex zwischen den Häusern hindurch, ohne das Gebell der Hunde wahrzunehmen. Als sie an einem erleuchteten Fenster vorbeikamen, sah Lily einen Mann mit einer Tasse Kaffee am Tisch sitzen. Sie trat um sich und versuchte, trotz des Knebels zu schreien. Ihr Kopf hing herab, und durch die Todesangst, die in ihrem Körper tobte, erbrach sie sich in den T-Shirt-Stoff. Sie schmeckte den bitteren Magensaft.

Sie durchquerten einen Garten. Wie war das möglich? Wie konnte es sein, dass sie wie ein toter Sack durch eine dichtbesiedelte Gegend geschleppt wurde, ohne dass jemand ihr zu Hilfe kam?

Alex überquerte eine weitere Straße. Lily sah auf den Asphalt hinunter. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie einen Jungen auf einem Fahrrad mit einem Korb voller Zeitungen. Er blickte sie geradewegs an. Er musste sehen, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Er fuhr direkt an ihnen vorbei und sah noch einmal über seine Schulter zurück auf das merkwürdige Bild, das sich ihm bot, dann bog er um die Ecke und war verschwunden.

Überall erwachte das Leben: Autos, Fernseher, Kinderlachen. Jemand musste sie doch bemerken. Alex lief über den Parkplatz eines Wohnblocks, blieb dann stehen und setzte sie neben einem Müllcontainer ab. Er griff in die Tasche und zog eine Spritze heraus. Verzweifelt bemühte sie sich, ihren Hals von seinem Griff zu befreien. »Jetzt kommt das Beste, es wird dir gefallen. Shana findet es wunderbar. Das wirst du sehen, wenn wir in unserem vorübergehenden Zuhause sind.«

Shana? O Gott, er hatte wirklich Shana!

Bislang hatte sie gehofft, dass er sie in die Irre führen wollte und Shana in Sicherheit war, dass sie vielleicht mit Chris bei Denny’s frühstückte. Sie fixierte Alex mit ihrem Blick und tastete am Boden nach einem Gegenstand, den sie als Waffe benutzen konnte, vielleicht ein Stein, eine Flasche oder ein Kleiderbügel. Alex kniete sich auf ihren Unterarm und steckte ihr die Nadel in die Vene. Durch den Nebel ihrer Betäubung beobachtete sie, wie er sich im Anschluss daran die Nadel in den eigenen Arm stach. Kurz darauf entfernte er den Knebel aus ihrem Mund, vollgesogen mit ihrem Erbrochenen, und lehnte sie wie eine Stoffpuppe an den Metallcontainer.

Irgendwo in der Ferne hörte Lily Stimmen. Alex sprach mit einer älteren Dame, die mit einem schweren Müllbeutel zur Mülltonne kam. »Warten Sie, ich übernehme das«, sagte er und nahm ihr den Beutel aus der Hand, um ihn in den Container zu werfen.

»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.« Die Frau betrachtete Lily und wandte sich an Alex. »Oje, ist etwas passiert? Hat sie sich verletzt?«

»Sie ist drogensüchtig«, erklärte Alex mit fester Stimme. Er griff in seine Hosentasche und zog eine Plastikhülle mit einer Dienstmarke heraus, die er der Frau vor das Gesicht hielt. »Ich bin verdeckter Ermittler der Polizei. Vielleicht sollten Sie jetzt besser gehen, weil wir eine größere Drogenrazzia planen und ich nicht möchte, dass Sie zu Schaden kommen.«

»Diese Drogentypen«, sagte die Frau mit einem angewiderten Blick auf Lily. »Überall sind die heutzutage. Vielen Dank, Officer.«

»Einen schönen Tag«, rief Alex der Frau hinterher.

Durch den Nebel bemühte sich Lily, konzentriert und wach zu bleiben. Die Droge zog sie in die Tiefe, ihr war klar, dass sie bald das Bewusstsein verlieren würde. Mühsam kam ein jämmerliches Flehen heraus, ein Flüstern nur. »Hilfe … bitte … helfen Sie.«

Sobald die Frau außer Sicht war, zog Alex Lily auf die Beine und zerrte sie hinter sich her wie ein ungezogenes Kind. Ihr Nachthemd war zerrissen und schmutzig, und durch den dünnen Stoff zeichneten sich im Sonnenlicht ihre Brüste, Beine und ihre Scham ab. Sie stolperte, fiel hin, doch Alex zog sie wieder nach oben. Rechtzeitig, bevor sie ohnmächtig wurde, fing er sie in seinen Armen auf.

 

 

Als Chris endlich nach Hause kam, war die Sonne bereits aufgegangen und die Haustür stand weit offen. »Um Gottes willen«, rief er, eilte ins Haus und geradewegs die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.

Lily war nicht da, und die Bettdecke lag am Boden. Er rannte hinunter ins Gästezimmer. Dann sah er in der Garage nach, ob Lily ebenfalls auf die Suche nach Shana gegangen war, doch der Volvo stand noch da. Chris packte das Entsetzen. Als er an der Alarmanlage vorbeikam, wusste er, dass es seine Schuld war. Lily hatte ihm davon erzählen wollen, aber er hatte sie nicht ernst genommen.

Er schnappte sich das Telefon in der Küche, wählte den Notruf und erklärte der Telefonistin, dass seine Verlobte und deren Tochter entführt worden waren. Kurz darauf fiel ihm ein, dass Lily sich vor wenigen Tagen zum Mittagessen mit einer FBI-Agentin namens Mary Stevens getroffen hatte und dass die versprochen hatte, den Vorgängen in Whitehall nachzugehen. Hektisch ging er auf die Suche nach Lilys Adressbuch, riss Schubladen heraus und warf alles auf den Boden. »Ich Idiot«, sagte er, als ihm einfiel, dass sie ihre Adressen im iPhone archivierte. Er entdeckte Stevens Privatnummer und rief sofort dort an.

»Stevens«, meldete sich eine Frau mit verschlafener Stimme. »Ich hoffe, das hier hat einen guten Grund.«

Chris erzählte ihr von den Geschehnissen und seinen Vermutungen.

»Ich sage das nicht gern«, erwiderte Mary, »aber Lily und Shana sind in großer Gefahr. Ich bin gerade erst von der psychiatrischen Klinik Whitehall in San Francisco nach Hause zurückgekehrt. Wir glauben, dass der Mann, der sich Alex nannte, ein Serienmörder ist. Die einzige gute Nachricht ist, dass die beiden dem Profil seiner bisherigen Opfer nicht entsprechen. Geben Sie mir Ihre Adresse, mein Kollege und ich sind in fünf Minuten bei Ihnen.« Sie notierte die Adresse und fügte hinzu: »Verlassen Sie das Haus nicht. Bleiben Sie, wo Sie sind, und unterstützen Sie die Polizeibeamten. Ich werde nachprüfen, ob die Fingerabdrücke, die Shana uns zugeschickt hat, in unserer Datei sind. Wir brauchen schnellstens ein Foto von diesem Kerl.«

Chris suchte Halt an der Tür. »Sagen Sie mir, was ich tun kann. Das alles ist meine Schuld. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich habe Lily allein gelassen, ohne die Alarmanlage einzuschalten. Ich habe nicht einmal beachtet, dass die Haustür ordentlich abgesperrt war, als ich auf die Suche nach Shana gegangen bin.«

»Ersparen Sie mir die Details«, erwiderte Mary. »Reden wird uns hier nicht weiterhelfen. Ich werde bei Ihnen vorbeikommen.«

Chris legte auf, stützte den Kopf in die Hände und weinte. Wieder einmal hatte er einen Fehler begangen. Nun konnte er nichts tun, als darum zu beten, dass sein Versäumnis, Lily und Shana zu glauben, nicht zu ihrem Tod führen würde.

 

 

Der Polizeieinsatz war beeindruckend. In der schmalen Straße, an der Lily und Chris wohnten, stauten sich die schwarz-weißen Einsatzfahrzeuge, dazu die Bezirkspolizei, zwei Hundestaffeln und drei Beamte auf Motorrädern.

Chris stapelte alle Fotos, die er von Shana und Lily finden konnte, auf dem Esstisch. Ein Beamter fertigte Kopien an, die an das Fahndungsteam ausgehändigt werden sollten.

Nachdem die Polizei von Agent Stevens aufgeklärt worden war, wurde entschieden, dass man es mit einem gefährlichen Täter zu tun hatte, und zog jeden greifbaren Beamten heran. Der Polizeihubschrauber kreiste am Himmel. Die Beamten klopften an Türen und befragten so viele Menschen wie möglich.

Als die Nacht anbrach, hatten sie noch immer nichts herausgefunden.

 

 

Mary Stevens stand mit Chris und einem der Detectives von der Dienststelle in Ventura, Hank Sawyer, in der Küche und trank Kaffee. Sie erzählte Chris, dass Hank ihr Vorgesetzter gewesen war, bevor sie zum FBI gewechselt hatte.

Die Hände von Chris zitterten, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. »Sie ist tot, nicht wahr? Man wird sie nicht finden. Sie sind beide tot.« Ihm war bewusst, dass manche Menschen Monatelang warteten, nur um dann festzustellen, dass ihre Angehörigen ermordet worden waren. Er hatte bereits ein Mal seine Frau und seine Tochter verloren. Warum schon wieder?

Stevens lehnte am Küchentresen. »Lily ist zäh. Sie wird es schaffen. Ich weiß, das tröstet Sie jetzt nicht, aber diese Dinge brauchen einfach Zeit.«

Chris sah zu, wie ein Technikerteam im Wohnzimmer Kabel und Drähte verlegte, um eine Kommandozentrale einzurichten. »Glauben Sie, dass er ein Lösegeld verlangen wird?«

»Wir wollen uns für alle Möglichkeiten rüsten«, antwortete Mary und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.

»Haben Sie denn irgendeine Ahnung?«

»Wir wissen, dass Shana sich das alles nicht eingebildet hat. Wir haben die Fingerabdrücke, die sie uns geschickt hat, abgeglichen. Ich muss sagen, der Kerl ist gruselig.« Mary warf die Styroportasse in den Abfall und trat dann an das Waschbecken und wusch sich das Gesicht. »Eigentlich heißt er Adam Pounder, und außer Alex Purcell, dem Namen, unter dem er in Whitehall war, hat er drei weitere Pseudonyme. Um Verwirrungen zu vermeiden, läuft er bei uns unter Alex. Das erste Mal landete er in der Psychiatrie, weil er einem jungen Mädchen Säure ins Gesicht geschüttet hatte.« Sie unterbrach sich und trocknete sich das Gesicht mit einem Papierhandtuch ab. »Ein Tag, nachdem man ihn aus dem Krankenhaus von Camarillo entlassen hatte, ermordete er ein weiteres Mädchen. Anscheinend ist er Mitglied in einem Selbstmordklub, dem das FBI und einige andere Behörden schon auf der Spur waren. Fünf Menschen sind tot, und wir glauben, dass Alex sie umgebracht hat. Wir sind darauf gestoßen, weil ein Selbstmordklub der ideale Ort für einen Serienmörder ist, um an seine Opfer heranzukommen. Die Leute wollen sterben, und Alex ist gerne bereit, ihnen diesen Gefallen zu erweisen. Außerdem wird er verdächtigt, einen Mord in Oklahoma verübt zu haben.«

»Ein Serienmörder?« Chris sackte auf einen Stuhl. »Sie sagen, der Mann, der Lily und Shana entführt hat, ist ein Serienmörder?«

Ohne ein Wort verließ Mary die Küche, stieg über die Kabel und trat auf die Straße. Chris folgte ihr mit dem Blick, bis sie sich ins Auto setzte und davonfuhr.

 

 

Der kleine Raum war dunkel, nur aus dem Bad fiel ein wenig Licht herein. Die Fensterläden waren geschlossen, und die Luft im Zimmer schien knapp zu werden. Shana hörte den Schlüssel im Schloss und erstarrte.

Als sie Alex sah, durchzuckte sie neue Panik. Sein dunkelblauer Blazer war zerknittert und fleckig, und das weiße T-Shirt, das er zuvor getragen hatte, fehlte. Auf dem Gesicht zeichnete sich sein innerer Aufruhr ab, tief lagen die Augen in ihren Höhlen. Er war nicht mehr der Mann, den sie gekannt hatte. Die letzte Spritze hatte sie vor Stunden, vielleicht Tagen erhalten; Shana hatte jedes Zeitgefühl verloren. Im Zimmer türmten sich die Fastfood-Verpackungen, aus den Aschenbechern quollen Zigarettenstummel. Der Gestank war unerträglich.

»So hatte es nicht sein sollen. Nichts stimmt mehr. Schau dich um, das hier ist widerlich.« Alex spie die Worte in fieberhaftem Tempo aus. »Deine Mutter ist in einer anderen Wohnung, aber die sind jetzt da draußen. Überall ist Polizei. Hubschrauber, Hunde. Wir müssen zu dem Teich gelangen.« Unruhig lief er hin und her, dann blieb er plötzlich stehen und sah Shana ins Gesicht. Sein Blick wurde etwas weicher, doch er hatte die Beherrschung über sich verloren, so dass er nicht ruhig bleiben konnte.

»Bald ist es so weit«, sagte Alex, trat an die Wand und schlug dagegen. »Morrow hat gesagt, dass unsere Sternkonstellation perfekt sein wird. Das Universum erwartet uns. Wir müssen jetzt gehen, verdammt.« Er blickte Shana anklagend an. »Es ist deine Schuld. Wenn du im Krankenhaus geblieben wärst, dann wäre alles wunderbar gewesen. Wir hätten gemeinsam mit Norman auf die Reise gehen können.«

»Warte, Alex …«

»Halt das Maul. Alex ist tot. Wir alle sind tot. Das Leben ist ein Trugbild. Meine Mutter hätte Jennifers Eltern nicht sagen dürfen, dass sie sie aus der Klinik holen müssen. Wir haben uns geliebt. Sie war genau wie ich. Wir sind anders als der Rest. Die Leute verstehen uns nicht. Als sie unser Baby getötet hat, musste ich ihr helfen zu fliehen.«

»Alex, bitte, hör mir zu«, bat Shana. »Du musst hier raus. Hier drinnen drehst du noch durch. Lass uns rausgehen. Wir holen uns was zu essen, machen einen Ausflug.«

Alex blieb stehen und setzte sich auf den Stuhl.

»Wir könnten Achterbahn fahren, wenn du Lust hast«, fuhr Shana fort, die sich, während sie sprach, verzweifelt irgendwelche Dinge ausdachte, auf die er positiv reagieren könnte. »Du hast gesagt, dass du noch nie Achterbahn gefahren bist. Wir könnten ins Disneyland fahren oder zu Knott’s Berry Farm. Das ist gar nicht so weit weg, Alex. Es wäre bestimmt lustig.«

»Wir müssen bald los.« Alex stand auf und löste die Befestigungen der Plane. »Wir haben keine Zeit für Vergnügungsparks.«

Shana setzte sich im Bett auf und rieb sich die Handgelenke, dann beugte sie sich hinunter und massierte ihre Beine, die so taub waren, dass sie nicht sicher war, ob sie laufen könnte.

Alex war im hinteren Teil des Zimmers. Shana bemerkte ihn erst, als seine Hände sich um ihre Kehle schlossen. Sie hörte das Krachen, als ihr Schädel auf dem hölzernen Kopfende auftraf. Um sie herum wurde es schwarz, und ihr lebloser Körper fiel schlaff auf den Boden.

 

 

Sonnenlicht durchflutete das Zimmer. Lily öffnete die Augen und blickte in die überraschende Helligkeit; vor ihr tanzte der Staub in der Luft. Ihre Zunge war schwer und taub, und im Rücken pulsierte der Schmerz. Sie konnte sich an nichts erinnern, als an das vage Gefühl, dass etwas fehlte. In diesem Moment erblickte sie Shana.

Shana lag neben ihr auf einem schmalen Bett. Von einem weißen Laken abgesehen, das ihre untere Körperhälfte bedeckte, war sie nackt. Ihre Augen waren geschlossen, die Arme waren über der Brust gekreuzt. Es sah aus, als läge sie auf dem Seziertisch. In dem Augenblick, in dem man sein Kind mit den sichtbaren Zeichen des Todes vor sich sah, wusste man, was es bedeutete, wenn einem das Herz brach.

Alex kauerte in einer Ecke des Zimmers, in seiner Hand baumelte ein großkalibriger Revolver. Fast beiläufig richtete er ihn auf Lily. »Keine Bewegung, sonst schieß ich.«

Lily war es egal, ob er sie tötete. »Du hast meine Tochter ermordet! Erschieß mich, Scheißkerl. Los. Dafür wirst du in der Hölle schmoren. Ich würde dich selbst töten, wenn ich könnte, da kannst du dir sicher sein. Ich werde dich erwischen und dir deinen beschissenen Kopf wegblasen. Ich habe es schon mal getan, und ich werde es wieder tun.«

Statt auf sie zu schießen, stieß Alex sie ganz einfach mit dem Arm zu Boden. Es schien ihr, als habe nicht ein Mensch, sondern eine Maschine sie getroffen. Sie traf auf dem Boden auf und verlor das Bewusstsein. Kurz darauf kam sie wieder auf die Beine und stürzte sich auf ihn. Sie schlug ihm die Fingernägel in die Wangen, doch er trat zurück und stellte dann seinen Fuß mitten auf ihre Brust.

»Hör auf damit«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich hätte nie gedacht, dass du so was machst. Du bist dumm, Shana ist nicht tot. Sie schläft nur.« Sein Blick wanderte nach unten, und er fischte eine Zigarette aus seiner Hosentasche.

Lily wandte den Kopf zu Shana. Sie musste tot sein. Sie war viel zu reglos, um noch am Leben zu sein. Tränen liefen an ihren Wangen herab, und im Geiste sah sie Shana vor sich, die ihr mit einem entzückenden Lächeln aus dem Laufstall entgegengluckste. Dann sah sie sie in ihrer Softball-Teamkleidung auf dem Sportplatz. Es waren nur Erinnerungen, etwas anderes würde Alex ihr nicht übrig lassen. Sie könnte nicht weiterleben, wenn ihre Tochter tot war. Sie könnte unmöglich Chris’ Frau werden oder weiterhin als Richterin arbeiten. Ihr Leben war vorbei.

»Töte mich«, forderte sie Alex auf. Ihr Gesichtsausdruck war kaum weniger wild als seiner. »Mach schon. Ich will nicht leben. Erschieß mich. Los.«

Etwas veränderte sich in seinen Augen. Er bückte sich und hob sie in seine Arme, dann trug er sie zum Bett. Sie konnte die Waffe nicht sehen, wusste aber, dass er sie in der Hand hielt. Er kniete sich neben dem Bett hin und beugte sein Gesicht ganz nah an ihres.

»Ich bin verrückt«, begann er sein erbärmliches Geständnis. »Ich kann mich nicht beherrschen. Und ich kann nichts gegen den Lärm in meinem Kopf tun.«

»Ich weiß«, sagte Lily und bemühte sich um eine ruhige Stimme. Verzweifelt versuchte sie, sich einen Plan zurechtzulegen. Was, wenn Shana tatsächlich noch am Leben war? Wenn es so war, dann musste sie sie retten.

»Ich ertrage den Schmerz nicht länger. Verstehst du denn nicht? Ich ertrage den Schmerz und die Einsamkeit nicht. Diesmal werfen sie mich ins Gefängnis, wenn sie mich erwischen. Das Gefängnis werde ich nicht überleben. Ich bin zu schwach und zu verrückt. Die Häftlinge werden mich töten.«

»Ich weiß … ich verstehe dich … Komm zu mir, Alex. Lass dich in die Arme nehmen. Du bist mir nicht egal. Wirklich.«

»Nein.« Seine Augen wurden wieder düster. »Du willst mich hereinlegen. Ich bin nicht blöd.« Zögernd streckte er eine Hand aus und berührte Lilys Haar.

»Ich weiß, dass du ein Genie bist«, sagte Lily. »Und du täuschst dich, Alex. Ich würde dich niemals hereinlegen. Was hast du mit Shana gemacht? Was fehlt ihr?«

»Ich habe es dir doch gesagt, sie schläft.«

Lily betete, flehte Gott um Hilfe an, und hoffte wider besseres Wissen, dass Shana am Leben war. Sie erinnerte sich an den Tag, als Shana ihren Abschluss von der Highschool gefeiert hatte, wie schön sie gewesen war, mindestens einen Kopf größer als ihre Klassenkameraden. So durfte es nicht enden, er durfte dieses junge Leben, ihre Zukunft, nicht stehlen. »Alex, komm zu mir, Baby. Komm zu mir ins Bett und halte mich fest. Ich habe Angst.«

»Ich muss jetzt alles fertig machen«, sagte er und griff nach ihrem Nachthemd. »Wir müssen zum Teich aufbrechen. Wenn wir es wegen der Polizei nicht bis zum Teich schaffen, dann müssen wir es hier machen.«

Er zog ihr das Hemd über den Kopf und legte es auf das Nachtkästchen. Sie rührte sich nicht, wehrte sich nicht. Starr behielt sie die Waffe im Auge, verfolgte sie wie ein Jäger sein Ziel, wartete auf den richtigen Augenblick. Sie musste sich gedulden, die Kontrolle behalten, nichts sagen oder tun, das ihn aufregen könnte.

Alex nahm einen feuchten Waschlappen aus einer Wasserschüssel neben dem Bett und fing an, langsam ihre Brust und ihren Bauch zu waschen. Er wischte ihr die Tränen vom Gesicht, dann hob er einen Fuß nach dem anderen an und wusch ihn. »Auch die Bestatter waschen die Toten. Shana habe ich schon hergerichtet.«

Lily hatte die Angst hinter sich gelassen. In ihr herrschte nur mehr Entschlossenheit. Doch selbst als er mit dem Waschlappen über ihren Körper fuhr, hatte er die Waffe dicht bei sich.

Jetzt, sagte sie sich. Tu’s jetzt. Er war abwesend, gedankenverloren. Gerade wollte sie nach dem Revolver greifen, da trat er einen Schritt zurück. Die Gelegenheit war verpasst. Er zog etwas aus seiner Tasche.

»Setz dich auf, damit ich dir die Halskette anlegen kann. Auf unserer Reise sollst du aussehen wie eine Königin. Meine Prinzessin habe ich schon, aber ich brauche auch eine Königin.«

Noch immer wusste sie nicht, wie sie an die Pistole gelangen sollte, also saß sie da wie ein Mannequin, während er ihr die Halskette umlegte, einen Armreif und schließlich einen Diamantring an ihrer linken Hand überstreifte. Der Schmuck konnte unmöglich echt sein, die Steine waren zu groß und hätten ein Vermögen gekostet. Trotzdem konnte sie den Ring vielleicht als Waffe benutzen. Ihr Anblick war makaber, als Alex fertig war. Sie war völlig nackt, mit Juwelen behängt, und nur eine Armlänge entfernt lag der entblößte Körper ihrer Tochter.

Es war nur ein Traum, sagte sie sich, ein Alptraum. Jeden Augenblick würde sie aufwachen und sich neben Chris im Bett wiederfinden. Sie hatte schon immer unter Alpträumen gelitten, wenn sie gestresst war.

Alex streifte noch einen Ring über ihren Finger und schob ihn über den Knöchel. Er kniete neben dem Bett. Sie wollte sich hinlegen, um leichter an die Pistole zu kommen, doch er legte ihr eine Hand in den Rücken und schob sie wieder nach oben.

Er stellte sich hin und richtete die Mündung auf sie. »Nie hatte ich eine Braut, eine Hochzeit oder meine eigene Familie. Shana wird jetzt meine Braut sein, und du kannst meine zweite Braut sein. Im Paradies kann man so viele Frauen haben, wie man will.«

»Wir können das alles tun, Alex. Ich kann Chris verlassen und dich heiraten. Wir werden eine Familie sein. Wir werden zusammen weggehen, dorthin, wo niemand uns findet. Alle glauben, dass du tot bist, also wird niemand nach dir suchen.«

»Nein«, sagte er, »du lügst. Ich bin dir egal. Wir müssen gehen, bevor uns die Polizei findet.«

Lily bekreuzigte sich und schloss fest die Augen. »Und wenn ich auch wanderte im finsteren Todestal, so fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab, die trösten mich.«

Sie wartete darauf, dass sich die Kugel in ihren Körper bohrte, dass die Dunkelheit sie umfing, und hoffte, dass Shana sie auf der anderen Seite empfinge.

Doch nichts passierte. Sie öffnete die Augen.

Die Hand von Alex zitterte. Auf seine Stirn traten Schweißperlen. Sie dachte an den Zeitungsartikel, den Shana ihr gezeigt hatte, und an Alex’ Aussage gegenüber der Polizei, dass er nicht in der Lage gewesen war, sich selbst umzubringen. »Gib mir die Pistole«, sagte sie mit fester Stimme. »Du kannst das nicht. Du hast es damals nicht geschafft, dich selbst zu töten, und du wirst es auch diesmal nicht schaffen. Du musst das mit Jennifer wiedergutmachen und zuerst gehen.«

Er starrte Lily an, und die Waffe in seiner Hand zitterte.

Wenn Shana tatsächlich lebte, dann gab es nur einen Weg, um sie zu retten. Sie musste Alex dazu überreden, sich selbst zu töten. Wenn ihr das nicht gelang, musste sie zumindest versuchen, dass Shana als Letzte übrig blieb. Solange Shana eine Chance hatte, zu überleben, würde sie bereitwillig sterben. Doch ihr eigentliches Ziel war, Alex zum Selbstmord zu bewegen.

»Du hast Jennifer im Stich gelassen, Alex. Du hast sie erschossen und dann dein Wort nicht gehalten. Mich oder Shana zu töten wird dich von dieser Schuld nicht freisprechen. Ich bin Katholikin, ich kenne mich mit diesen Dingen aus. Du wirst es noch nicht einmal ins Fegefeuer schaffen, geschweige denn ins Paradies.« Er lauschte ihren Worten. Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit. »Weißt du, was die Hölle ist? Die Hölle bedeutet die endlose Wiederholung des immer Gleichen. Willst du wirklich bis in alle Ewigkeit die schlimmsten Tage deines Lebens wieder und wieder erleben? Vielleicht ist es genau das, was du die ganze Zeit getan hast. Der Grund, warum du immer wieder zu diesem einen Tag mit Jennifer zurückkehrst, ist, weil du sie ermordet hast. Weil du deinen Teil der Abmachung nicht erfüllt hast, wurde deine Tat der Barmherzigkeit gegenüber Jennifer zum Mord. Vor Gott ist Mord eine schwere Sünde, eine Sünde, die mit der ewigen Verdammnis bestraft wird.«

»Ich muss also zuerst sterben?«, fragte er und blinzelte nervös. »Aber ich will, dass wir gemeinsam gehen. Ich will nicht allein sterben. Sobald ich tot bin, wirst du die Polizei rufen.«

»Das stimmt nicht, Alex«, erklärte sie ihm mit sanfter, tröstender Stimme. »Ich habe Angst, dass mich die Polizei zurück ins Gefängnis schicken wird. Ich war schon einmal im Gefängnis, weil ich einen Mann getötet habe. Shana hat dir das natürlich nie erzählt, aber es ist wahr. Ich bin diejenige, die nach Whitehall hätte gehen müssen, nicht Shana. Alle halten mich für verrückt, sogar Shana tut das. Ich litt unter Wahnvorstellungen, als ich Shana dort eingeliefert habe. Verstehst du? Ich bin schizophren. Ich höre Stimmen. Genau wie du will ich nichts als sterben.«

»Wirst du mich festhalten?«

»Ja.« Aus Lilys Augen quollen Tränen. »Das verspreche ich dir, Alex.« Von Trauer überwältigt, konnte sie nicht anders, als ihn für sein Leben voller Qualen zu bemitleiden. Kurz wanderte ihr Blick zu Shana. Falls sie nicht mehr lebte, würde Alex’ Tod sie ihr nicht zurückbringen. Mit diesen Überlegungen konnte sie sich jetzt jedoch nicht auseinandersetzen. Wenn Alex sich tötete, würde sein Tod für den Rest ihrer Tage auf ihrem Gewissen lasten, genau wie der von Bobby Hernandez. Vielleicht sollte sie abwarten, ihn hinhalten, vielleicht würde die Polizei sie rechtzeitig finden und ihn festnehmen. Aber sie durfte dieses Risiko nicht eingehen, nicht, wenn das Leben ihrer Tochter auf dem Spiel stand.

Alex wandte sich um und ging durch das Zimmer. Sie beobachtete, wie er eine Spritze nahm und mit der gleichen Droge befüllte wie das letzte Mal. War sie für Shana oder sie selbst gedacht? Sollte sie losrennen, flüchten? Dann sah sie, wie er sich die Nadel in die Vene stach. Er füllte neue Flüssigkeit in die Spritze und injizierte sie ein weiteres Mal. Über die Schulter warf er Lily ein schwaches Lächeln zu. Er setzte sich eine Spritze nach der anderen, bis die Ampulle leer war. Ungeschickt griff er nach einer weiteren kleinen Flasche auf der Kommode und wiederholte den Vorgang, bis auch sie leer war.

Sein linker Arm war blutverschmiert. Die Augen waren schmale Schlitze, und er torkelte und strauchelte auf das Bett zu, doch auf dem Weg stürzte er. »Halt mich fest. Bitte, halt mich fest. Es wird schnell gehen.«

Lily stand vom Bett auf, legte ihre Hand unter seinen Kopf und zog ihn an die Brust. Jetzt konnte er ihr nichts mehr tun. Sie wollte aufstehen und nach Shana sehen, doch etwas hielt sie zurück. Es war, als sei sie in seinen Geist geschlüpft, als sei sie ein Teil von ihm geworden. Stille hüllte sie beide ein.

Die Zeit stand still.

Sie hielt ihn fest, streichelte sein Haar und sah ihm ins Gesicht. Sie bewegte sich nicht, sagte kein Wort. Sie war ganz auf den Augenblick konzentriert. Als seine Hand schlaff wurde und die Pistole auf den Boden glitt, machte sie keine Anstrengungen, sie zu fassen zu kriegen.

»Bitte«, flüsterte er kaum hörbar, »sag mir, dass du mich liebst.«

»Ich liebe dich, Alex.« Flüchtig sah sie zu Shana hinüber, dann blickte sie wieder auf Alex. Nie zuvor hatte sie solchen Schmerz, solch schwere Gefühle erlebt, und diese Gefühle galten nicht nur Shana, sondern auch dem Mann in ihren Armen.

Seine Augen schlossen sich. Aus seinem Gesicht verschwand das Leid, und er sah ganz friedlich aus. Sie wiegte ihn in den Armen, bis es vorbei war, bis sein Körper sich nicht mehr regte und er nicht mehr atmete.

Plötzlich tauchte vor Lilys Augen ein Lichtblitz auf, der so hell war, dass er ihr den Atem nahm. Ruhe und das Gefühl von Schönheit überfluteten sie. So schnell, wie es gekommen war, verschwand es wieder. Sie wickelte sich ein Laken um den Körper und eilte ans Bett ihrer Tochter.

 

 

Als Shana ihre Augen öffnete, sah sie über sich das Gesicht ihrer Mutter und das Zimmer voller Leute: Polizeibeamte, Sanitäter, zwei FBI-Agenten und mehrere Detectives, erkennbar an den Abzeichen am Gürtel.

Lily war nicht dazu gekommen, den Notruf zu alarmieren, weil in diesem Augenblick die Polizei mit gezogenen Waffen das Zimmer gestürmt hatte. Der Versuch, Alex wiederzubeleben, war erfolglos geblieben. Die Droge hatte seine Lungenfunktion unterdrückt, und er wurde noch am Tatort für tot erklärt.

Die Sanitäter hatten Shana eine Adrenalinspritze gegeben, um der durch das Betäubungsmittel verursachten Starre entgegenzuwirken. »Mom«, sagte sie mit schwacher Stimme und sah sich um. »Wo bin ich?«

»Du bist in Sicherheit, mein Liebling.« Lily trug das Nachthemd und eine Jacke, die Chris ihr gegeben hatte. Um ihre Hüfte hatte sie ein Laken gewickelt. »Es ist vorbei. Wir sind in einer Wohnung nicht weit von zu Hause. Alex ist fort. Ich hatte solche Angst, du kannst dir das nicht vorstellen.«

Shana versuchte, sich aufzusetzen, doch einer der Sanitäter beharrte darauf, dass sie liegen bleiben sollte. »Ruhen Sie sich aus«, sagte er. »Sie haben Schweres durchgemacht.« Der Mann wandte sich an Lily. »Ich glaube, sie hat eine leichte Gehirnerschütterung, an ihrem Hinterkopf ist eine Schürfwunde. Den Spuren am Arm nach zu urteilen, hat der Täter ihr entweder das Demerol oder das Morphium, das wir gefunden haben, verabreicht. Wir müssen sie in die Notaufnahme bringen und untersuchen, aber sie wird schon wieder.«

Chris sah Shana an und streichelte sie am Arm. »Jeder einzelne Polizist von L.A. hat nach dir und deiner Mutter gesucht. Ich bin so froh, dass es dir gutgeht. Ich hatte schreckliche Angst um euch.«

»Wo ist Alex?« Shana blickte sich im Zimmer um.

»Er ist weg, Schatz«, sagte Lily mit einem Blick auf Chris. »Er wird dir nie wieder etwas zuleide tun.«

»Er ist tot, oder?«

»Ja, doch er wollte es so. Er hat nicht gelitten.«

Shana wandte sich ab. Lily trat auf die andere Seite des Bettes und sah, dass Shana weinte. »Ich … weiß … das ist dumm von mir«, stotterte sie. »Keine Ahnung, warum ich weine. Es ist so traurig, verstehst du? Er war kein schlechter Mensch. In Whitehall hat er sich um mich gekümmert, ohne ihn wäre ich durchgedreht. Er war einfach völlig fertig, Mom. Wahrscheinlich haben ihn die Drogen total verkorkst.«

»Ich weiß.« Lily beugte sich ganz dicht zu ihr herunter. »Es ist traurig, aber Alex hat viele Menschen verletzt. Die Drogen waren nur ein kleiner Teil des Problems. Er wollte dich töten, er wollte uns beide töten. Er wäre nie gesund geworden und hätte den Rest seines Lebens im Gefängnis verbracht.« Sie nahm Shanas Hand und küsste sie zärtlich, während sie sich bemühte, die Tränen zurückzuhalten. »Ich hätte es nicht ertragen, wenn er dir etwas angetan hätte. Gott sei Dank bist du gesund.«

Auch Shana kämpfte gegen die Tränen an. »Ich will nach Hause. Ich will nicht ins Krankenhaus. Können wir nicht nach Hause gehen?«

»Erst müssen sie dich gründlich untersuchen.« Lily drehte sich zu Chris um, und er trat zu ihr und legte seinen Arm um ihre Taille. »Von nun an wird alles gut. Chris und ich werden an deiner Seite sein und dir helfen, dein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.«

»Ich bin dabei, meine Liebe«, sagte Chris. »Aber wenn du dich noch einmal allein aus dem Haus schleichst, kriegst du Prügel.«

Lily blitzte ihn wütend an, aber Shana lächelte. »Machst du Witze? Ganz bestimmt gehe ich nie wieder nachts allein raus. Du brauchst mir nicht zu drohen. Ich war ein Dummkopf. Das nächste Mal, wenn ich nicht einschlafen kann, lese ich ein Buch oder so. Ich habe mir vor Angst fast in die Hose gemacht.«

Die Polizisten machten Platz, damit die Sanitäter Shana auf eine Bahre legen konnten, um sie zum Krankenwagen zu tragen. Als sie auf der Transportliege festgegurtet war, bat sie ihre Mutter mit einem Wink, näher zu kommen. »Du hast mich wieder einmal gerettet, nicht wahr? Du brauchst es nicht abzustreiten, ich weiß es genau. Auch wenn ich mich nicht rühren konnte, bin ich gegen Ende doch immer wieder kurz zu mir gekommen, und ich habe gehört, was passiert ist. Du hast Alex dazu überredet, sich umzubringen. Er hat bekommen, was er wollte. Denk an all die Menschenleben, die du gerettet hast. Wenn es einen Preis für die beste Mutter gäbe, so hättest du ihn zweifellos verdient.«

»Du hast dir das eingebildet, so war es nicht«, log Lily. »Alles, was jetzt zählt, ist, dass es dir gutgeht.« Sie beugte sich vor und flüsterte Shana etwas ins Ohr. Shana warf einen Blick auf den Sanitäter und lächelte, dann sagte sie zu Lily: »Du hast recht. Ich werde mich gleich darum kümmern.«

Als Shana im Krankenwagen lag, fragte Chris: »Was hast du zu ihr gesagt?«

»Ich habe sie darauf aufmerksam gemacht, wie umwerfend der Sanitäter aussieht, und ihr geraten, ihm ihre Telefonnummer zu geben. Sie hat mir zugestimmt. Wenn ich es mir recht überlege, könnte sie sich als Anwältin dann ja auf Unfallmandate spezialisieren.«

Sie lachten beide, und Chris nahm sie in die Arme und hob sie hoch. »Selbst nach alldem hier bringst du mich noch zum Lachen. Du bist unglaublich, Lily.«

»Natürlich bin ich das«, antwortete sie. »Andernfalls hätte ich dich kaum an die Angel gekriegt.«

Lily trat an das offen stehende Fenster und blickte auf das Meer hinaus. Es war windstill, und die Wasseroberfläche war glatt und glänzte im morgendlichen Sonnenschein. Alex hatte vom Paradies gesprochen. Wie die meisten Menschen, auch wenn sie es nicht immer zugaben, wollte Lily ebenso wie Alex an eine zweite Chance glauben, an ein Paradies, das sie auf der anderen Seite erwartete. Vielleicht hatte er es ja dorthin geschafft, dachte sie, und stand in diesem Augenblick in einem grünen, himmlischen Garten, mit Jennifer, dem einzigen Menschen, den er je geliebt hatte.

»Lily«, rief Chris von der Tür. »Wir müssen los. Wir haben Shana doch versprochen, sie im Krankenhaus zu treffen. Wenn wir uns nicht beeilen, lässt sie sich noch von einem Hackebeilmörder mitnehmen.«

Obwohl sie ihn gehört hatte, konnte Lily sich nicht vom Fenster losreißen. Sie sah auf das Wasser hinaus und beobachtete, wie sich weit draußen eine große Welle auftürmte und Richtung Ufer rollte. Über dem Strand kreisten ein paar Möwen und landeten schließlich. Während die meisten den Sand nach Essensresten absuchten, ergriff eine Möwe die Flucht und stieg rasch in die Höhe auf. Lily beobachtete sie, bis sie am Horizont verschwunden war.

»Ich musste an Alex denken«, sagte sie und ging auf Chris zu. »Wahrscheinlich war sein Tod das Einfachste, was er je getan hat, und gleichzeitig auch seine größte Leistung.«

Chris ließ Lily den Vortritt und folgte ihr dann. »So, wie ich das sehe, hat dieser Wahnsinnige den Preis für seine Taten bezahlt. Ich bin nur froh, dass es vorbei ist und dass du und Shana in Sicherheit seid.«

»Er hat an das Paradies geglaubt.« Lily blieb stehen und sah noch einmal zu der Wohnung zurück. »Einen winzigen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, selbst dort zu sein.«

»Wo?«, fragte er nach.

»Auf der anderen Seite.«

Draußen atmete Lily tief die frische Luft ein. Chris küsste sie auf den Kopf. Eine Weile standen sie da und genossen die warmen Sonnenstrahlen, dann machten sie sich auf den Weg zum Auto.