24
San Francisco, Kalifornien
Mittags, als sie auf dem Weg in die Kantine waren, war der Himmel bewölkt und die Luft feucht und schwer. Shana vermutete, dass ein Sturm aufzog. Auch wenn sie die vergangenen Tage in einem klimatisierten Krankenhaus zugebracht hatte, war ihr nicht entgangen, dass es für die Jahreszeit viel zu warm gewesen war. Wahrscheinlich hatte es mit der Klimaerwärmung zu tun. Der Regen wäre immerhin eine kleine Atempause in dieser ungewöhnlichen Hitze.
Unter den Patienten herrschte Niedergeschlagenheit. Der Zauber der vergangenen Nacht war von der Wirklichkeit des neuen Tages zerstört worden. »Willst du wirklich zurück nach Ventura gehen?«, fragte Karen, als wüsste sie, was in der Nacht in Alex’ Zimmer geschehen war. »Warum bleibst du nicht hier bei Alex?«
»Ach, Karen«, seufzte Shana. »Du weißt, dass ich nicht hier bleiben kann.«
»Alex liebt dich«, wandte Karen ein. »Ihr seid ein perfektes Paar. Und er ist ein wichtiger Mann, er hat sogar gesagt, dass ich für ihn arbeiten kann, wenn ich rauskomme.«
»Das freut mich für dich.« Shana legte einen Arm um Karens Schulter. »Du wirst die perfekte Mitarbeiterin sein.«
In der Kantine trug Shana heute ihr Tablett selbst an den Tisch. Alex war nicht zu sehen gewesen, als sie zum Mittagessen aufgebrochen waren, und Shana vermutete, dass sich die Sitzung mit seinem Psychiater länger hingezogen hatte. Sie nahm ein paar Bissen von ihrem Truthahnsandwich, doch dann legte sie es auf den Teller zurück, weil sie Norman vermisste. Sie wartete ab, bis Karen und May ihre Unterhaltung über Frisuren und Schminktechniken beendet hatten, und fragte dann: »Wo ist Norman?«
»Weiß nicht«, sagte Karen. »Ich habe ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen. Vielleicht ist er im Bett, es ist gestern ja ziemlich spät geworden.«
Auch Shana fühlte sich nicht recht wohl und beschloss, auf das Mittagessen zu verzichten und in ihr Zimmer zu gehen. Doch als sie aufstand, begann sich der Raum zu drehen, und sie musste sich wieder hinsetzen.
Alex tauchte neben ihr auf und stellte ein Glas Orangensaft vor sie hin. »Trink«, sagte er. »Das hebt den Blutzuckerspiegel.«
»Geht’s dir nicht gut, Schätzchen?«, fragte May, als sie den Schweiß auf Shanas Stirn bemerkte.
»Keine Ahnung«, erwiderte Shana. Karen sah noch immer genauso hübsch aus wie am Abend zuvor, doch plötzlich hatte sie vier Augen, zwei Münder und zwei Nasen. Shana kicherte. David kam an ihren Tisch und fing an, Papierservietten und Stücke seines Brötchens auf Shana zu werfen.
Energisch schlug Alex mit der Hand auf den Tisch. »Hör auf, David. Du benimmst dich wie ein Baby. Wenn du schon mit uns Erwachsenen essen möchtest, musst du dich entsprechend verhalten.«
»Es ist meine Schuld«, warf Shana ein. »Schimpf ihn nicht. David hat gedacht, dass ich auf Blödsinn aus bin, weil ich gelacht habe.«
Mit einem wütenden Blick auf Alex schob David seinen Stuhl zurück und stürmte aus der Kantine.
»Ich rede mit ihm«, sagte Shana und legte ihre Serviette auf den Tisch.
Alex’ dunkle Augen blitzten zornig. Er griff an die Rückenlehne von Shanas Stuhl und schob ihn dichter an den Tisch heran. »Du sollst essen.« Sein Mundwinkel zuckte. »Bemutter ihn nicht. Er hat sich blöd benommen.«
»Vielleicht ist er ja deswegen hier.« Shana versuchte erneut, aufzustehen, aber ihre Arme hingen in der Luft wie zwei Flügel. Karen ruckte mit dem Kopf und bellte. Daraufhin entfuhr Shana ein schrilles Kichern. Besorgt, Karens Gefühle zu verletzen, legte sie sich die Hand auf den Mund. »Ich lache dich nicht aus, Karen. Ehrlich.«
Karen spielte mit einer Haarsträhne. »Es macht mir nichts aus. Ich bin es gewohnt, dass sich die Leute über mich lustig machen.« Dann platzte sie heraus: »Scheiße, verdammt, Arsch.«
»Nimm’s mir bitte nicht übel.« Shana hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie eine Attacke ausgelöst hatte. »Dr. Morrow hat mir irgendein neues Medikament gegeben, das muss der Grund sein, dass ich so lache. Außerdem ist es normal, Schimpfwörter zu benutzen, wenn man sauer oder frustriert ist. Diese Wörter stecken doch in uns allen drin. Vielleicht ginge es uns ja besser, wenn wir die Wut auch mal rauslassen könnten.«
Karen wandte sich wieder dem Mittagessen zu, als Shana erneut einen Lachanfall bekam. Karen beugte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Es muss die Medizin sein. Schau«, sagte sie und nahm eine Gabel voll Kartoffelbrei. »Du musst was essen, Shana. Dadurch lässt die Wirkung des Medikaments nach.«
»Ich … kann … nicht«, platzte Shana zwischen den Lachanfällen heraus. »Sonst … erstick … ich.«
Am Tisch fingen ein paar Leute zu kichern an. »Hört auf«, rief Karen. »Das ist nicht lustig. Es kommt von dem Medikament. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, sich nicht unter Kontrolle zu haben. Lass uns hier abhauen, Shana.« Sie stand auf, nahm Shana an der Hand und führte sie vom Tisch weg.
Auf dem Weg zum Innenhof musste Shana so heftig lachen, dass sie sich in die Hose nässte. Karens Unruhe wuchs. Im Aufenthaltsraum stürzte sie geradewegs auf den Stationstresen zu, wo Peggy gerade in einer Ausgabe des National Enquirer blätterte.
»Sie müssen Shana etwas gegen das andere Medikament geben«, forderte Karen. »Sie kann nicht aufhören zu lachen. Sie ist nicht einmal in der Lage zu essen.«
Shana kicherte wieder.
»Das ist keine Nebenwirkung«, sagte Peggy. »Von keinem der Medikamente bekommt man Lachanfälle. Wir geben doch kein Lachgas aus oder LSD.«
»Sie und dieser verdammte Morrow machen mich ganz krank«, schrie Karen und gestikulierte heftig mit den Armen. »Wenn Sie nicht augenblicklich jemanden herbeirufen, dann komm ich zu ihnen rüber und erwürge Sie eigenhändig.«
Plötzlich hörte Shana zu lachen auf. Sie hatte Karen noch niemals wütend erlebt. Um sicherzugehen, wartete sie einen Augenblick ab, dann sagte sie: »Ich glaube, es ist vorüber, Karen.«
»Bist du sicher? Andernfalls lass ich erst locker, wenn die etwas unternehmen.«
Shana löste sich aus Karens Griff. »Ich geh in mein Zimmer. Ich bin dir sehr dankbar. Es verlangt ganz schön viel Mut, um sich mit Peggy anzulegen.«
Karen blickte errötend auf ihre Schuhe hinunter. »Das war doch nichts Besonderes. Du bist so nett zu uns allen. Das hier war die Hölle, bevor du aufgekreuzt bist.« Sie hob die Hand. »Keine Sorge, ich bitte dich nicht, zu bleiben. Wir wissen doch alle, dass du nicht hierhergehörst.«
»Danke«, sagte Shana.