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Montag, 18. Januar
Ventura, Kalifornien

Lily wartete in ihrem Büro auf Richard Fowler. Sie hatte ihn während der Verhandlung an die Richterbank gebeten und ihm zugeflüstert, dass sie ihn in der Verhandlungspause sprechen wolle. Richard musste annehmen, dass es etwas mit dem Prozess zu tun hatte, und schien sich Zeit zu lassen, um sie zu ärgern.

»Mr. Fowler ist hier für Sie«, sagte Jeannie über die Gegensprechanlage.

»Schicken Sie ihn herein.«

»Was habe ich angestellt, Frau Vorsitzende?« Er schlenderte ins Zimmer und ließ sich auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. »Silverstein hat in seinem Eröffnungsplädoyer die Sache eindeutig überzogen, und du weißt das. Er hat meine Mandantin mit seinen ungeheuerlichen Anschuldigungen und Mutmaßungen praktisch schon verurteilt, und du bist dagesessen und hast ihn machen lassen.«

»Deine Mandantin ist schuldig«, sagte Lily. »Und halt mir keinen Vortrag über Verfahrensregeln. Ich habe dich nicht hergebeten, um mit dir über den Fall zu sprechen. Shana ist in der Psychiatrie.«

Fowler sah sie erschrocken an. »Was ist passiert?«

»Sie hat nicht mehr auf meine Anrufe reagiert, also bin ich Freitagabend hingeflogen. Sie erzählte mir, dass sie nicht mehr schläft, dass ein Mädchen in ihrem Wohnblock vergewaltigt wurde und dass sie ihr Studium abbrechen will. Ach, und sie hat gesagt, dass sie doch nicht Anwältin werden will.«

»Was den letzten Punkt angeht, da kann ich ihr nur beipflichten«, warf Fowler ein. »Ich hasse diesen Job. Hätte ich auf dem Aktienmarkt nicht eine Menge Geld verloren, würde ich mir etwas anderes suchen, um Geld zu verdienen. Es macht nicht wirklich Spaß, seine Zeit damit zuzubringen, Scheißkerle zu verteidigen.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Ist Shana nicht in Stanford?«

»Ja, sie ist im letzten Studienjahr. Zumindest wäre es ihr letztes Jahr gewesen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Rich. Sie ist … oh, mein Gott, ich kann’s einfach nicht glauben. Sie ist methamphetaminabhängig.«

Vor Überraschung blieb Richard der Mund offen stehen. »Das ist eine verdammt fiese Droge für so ein kluges Mädchen.«

»Sie hat am ganzen Körper Wunden.« Lily hielt mit Mühe die Tränen zurück. »Ich konnte es nicht fassen, als ich das Foto sah.«

»Was für ein Foto?«

»Sie hat sich selbst eingewiesen, Richard. Sie war dünn, das war klar, als ich sie wiedersah, aber ohne Kleider war sie geradezu ausgemergelt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Hatte Greg jemals Drogenprobleme?«

»Er ist ein Surfer, alles klar? Sowie er aus dem Bett kriecht, steckt er sich einen Joint an. Er sagt, er braucht das, um wach zu werden. Es hat ihm allerdings nie Probleme bei der Arbeit gemacht. Er ist Meeresbiologe und führt irgendwelche aufregenden Forschungsarbeiten durch.« Fowler hob eine Hand. »Aber lass uns noch mal an den Anfang zurückkehren. Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Wer hat dir das Foto von Shana gezeigt?«

»Die Klinikverwalterin.«

»Um welches Krankenhaus handelt es sich? Ist es hier in Ventura?«

»Nein«, antwortete Lily. »Es ist etwa zwanzig Meilen von Palo Alto entfernt, am Stadtrand von San Francisco. Ich habe es im Internet gefunden, und es sah ganz in Ordnung aus. Sie haben mir gesagt, dass Shana mich nicht sprechen oder sehen will. Sie war blind vor Wut, dass ich sie dorthin gebracht habe. Ich hatte so getan, als würden wir zu einem Restaurant fahren.«

»Augenblick. Hast du nicht gesagt, dass sie sich selbst eingewiesen hat?«

»Ja. Das hat sie später gemacht, als sie schon im Krankenhaus war. Sie war völlig durchgedreht, Richard. Ihre Wohnung war ein Schweinestall, und sie hat nichts als Fast Food gegessen. Als ein Mädchen im Haus vergewaltigt wurde, hat sie Panik gehabt, dass sie sein nächstes Opfer sein würde.«

»Das wundert mich nicht, nach allem, was sie erlebt hat.«

»Das ist mir schon klar.« Lilys Stimme wurde lauter. »Aber sie schlief nicht. Sie ist nicht einmal mehr ins Bett gegangen. Sie saß die ganze Nacht auf der Couch und starrte auf die Wohnungstür. Unter den Kissen hatte sie einen Hammer versteckt, um dem Vergewaltiger damit den Kopf einzuschlagen.«

Fowler überkreuzte seine langen Beine. »Ich will nichts Falsches sagen, aber für mich klingt nichts davon verrückt. Diese Sache mit dem Meth, klar, das ist ernst. Es überrascht mich, dass sie freiwillig in die Klinik gegangen ist. Die meisten Drogenabhängigen würden lieber sterben, als sich bewusst irgendwohin zu begeben, wo sie nicht an Drogen drankommen können.«

»Ich glaube nicht, dass sie schon so weit gesunken war«, sagte Lily und betete, dass sie recht hatte. »Vielleicht hat sie Hilfe gesucht. Ihr Freund hat sich von ihr getrennt, das hat sie völlig umgehauen. Sie glaubte, dass er sie trotzdem noch heiraten würde. Dabei musste sie zugeben, dass er sie seit drei Wochen weder angerufen noch besucht hatte.«

»Langsam«, sagte er mit sorgenvoller Miene. »Bei deinem Tempo komme ich nicht mehr mit. Warum hat er sie verlassen?«

»Es war wegen einer anderen.« Sie hielt inne und atmete tief ein. »Ich denke mal, er schlief mit ihr. Du weißt schon … mit dem neuen Mädchen. Shana meinte, dass sein Betrug nichts bedeute und es nichts als eine Bettgeschichte sei.«

»Wahrscheinlich hatte sie recht.«

Lily zog die Stirn kraus. »Nun, du musst es ja wissen.«

»Du hast dich nicht verändert.«

»Nun, du anscheinend auch nicht.«

Fowler stand auf. »Wenn du mich herbestellt hast, um mit mir zu streiten, dann geh ich besser.«

»Es tut mir leid, okay? Ich steh gerade ziemlich unter Stress.« Sie legte sich die Hand auf die Brust. In ihrer Kehle stieg Säure auf, und der unangenehme Geschmack füllte ihren Mund. »Wie dem auch sei, jetzt, wo ich von den Drogen weiß, frage ich mich, ob ihr Freund die Drogen für sie beschafft hat.«

»Hör zu, Lily«, wandte Richard ein. »Shana ist ein tolles Mädchen. Sie hat viel Schreckliches durchgemacht. Und das Jurastudium ist härter, als man denkt, zumal an einer so anspruchsvollen Uni wie Stanford. Drogen kann man an jedem College dieses Landes bekommen. Die Dealer verklickern das Zeug heutzutage sogar an den Grundschulen. Shana hat mit dem Entzug die richtige Entscheidung getroffen. Menschen werden nun mal krank. Ich bezweifle, dass es in ihren Akten auftauchen wird, wenn du eine Krankschreibung beschaffen kannst. Und dass sie sich freiwillig in die Klinik begibt, heißt, dass sie clean werden will. Was bedeutet da schon ein Semester? Sie kann das alles ein Jahr später nachholen.«

»Ich weiß nicht, ob sie das will«, sagte Lily und ließ den Kopf in die Hände sinken.

»Das kommt von den Drogen, dass sie so daherredet.« Er verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Neben Kindsmördern vertrete ich auch Drogendealer, also muss ich’s wissen. Ich weigere mich, sie aufzusuchen, bevor sie clean sind. Ich weiß, wie unglücklich und enttäuscht du sein musst, aber es wird schon alles gutgehen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Zurück an die Arbeit, Lily. Meine reizende Mandantin wird sich schon fragen, wo ich bleibe.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Ich wundere mich nur, warum du damit zu mir kommst. Man munkelt, dass du mit Christopher Rendell liiert bist. Es heißt, er kann wunderbar zuhören. Warum diskutierst du das nicht mit ihm?«

»Weißt du, Greg und Shana haben sich damals nahegestanden.« Sie schrieb die Nummer von Whitehall auf einen Notizzettel. »Vielleicht kann er ja anrufen und herausfinden, wie es ihr geht. Nicht heute, natürlich, sie wird noch im Entzug sein. Bitte ihn doch, sie gegen Ende der Woche mal anzurufen. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert, bis das Zeug aus ihrem Körper draußen ist.«

»Greg wird sich bestimmt bei ihr melden«, sagte Richard, trat an den Schreibtisch und nahm den Zettel an sich. Dort blieb er einfach stehen und starrte sie mit sehnsüchtigem Blick an. »Ich liebe dich noch immer, weißt du, ich werde das immer tun. Und du bist noch immer wunderschön. Du bist nicht einen Tag gealtert, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

Lily errötete peinlich berührt. »Wenn du glaubst, dass ich dich hergebeten habe, um mit dir was anzufangen, Richard, dann täuschst du dich. Ich liebe Chris, wir verstehen uns prächtig. Von Shana abgesehen, bin ich richtig glücklich. Er hat mich gebeten, seine Frau zu werden, und ich habe ja gesagt.«

Fowler fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar, das mittlerweile von grauen Strähnen durchzogen war. »Du liebe Güte, du willst schon wieder heiraten? Ich dachte, diesmal bleibst du für eine Weile Single, hast ein bißchen Spaß, genießt die Unabhängigkeit.«

»Du hast doch selbst geheiratet«, entgegnete sie schnippisch. »Nicht dass dir die Ehe heilig wäre. Ich vermute, die kleine blonde Verteidigerin ist deine jüngste Eroberung? Wie alt ist sie? Sie sieht jung genug aus, um deine Tochter zu sein.«

»Vor ein paar Jahren hatte ich tatsächlich vor zu heiraten, aber ich sah ein, dass sie nicht die Richtige war, und habe gekniffen. Und was Beth Wiseman angeht, sie ist die Tochter meines Kanzleipartners. Ich bräuchte sie nur schief anzusehen, und Mike würde mir den Kopf abreißen. Ich lasse mich nicht mehr mit jungen Frauen ein, Lily. Ich weiß nichts mit ihnen anzufangen.«

»Ich bin spät dran.« Sie stand auf und warf sich die Robe über. Wenn sie nicht aufpasste, würde Hennessey von ihrer Verspätung erfahren.

Fowler stand an der Tür und versperrte ihr den Weg. »Ich habe nicht geheiratet, weil ich gehofft habe, dass wir beide eines Tages wieder zusammenkommen. Warum hast du dich nie gemeldet?«

»Es ist vorbei, Richard. Lass mich hinaus. Ich müsste in diesem Augenblick auf der Richterbank sitzen. Du hast mich betrogen, falls du das vergessen hast. Wahrscheinlich war es nur eine Bettgeschichte, richtig?«

»Es ist nur ein einziges Mal passiert, und da war ich betrunken, Lily. Das Mädchen hat mich angebaggert. Du weißt, wie der Alkohol auf mich wirkt. Ich habe seit fünf Jahren keinen mehr angerührt. Außerdem bin ich älter geworden, ich habe keine Frauengeschichten mehr. Können wir nicht wenigstens mal zusammen zu Mittag essen oder uns nach der Arbeit auf einen Kaffee treffen?«

Richard wusste alles. Wenn er wollte, könnte er sie erpressen. Doch sie wusste, dass er sich niemals zu so etwas herablassen würde. Zumal er selbst wegen Beihilfe angeklagt werden könnte, wenn er erst jetzt mit seinem Wissen herausrückte. Dass Lily ihn in diese Lage gebracht hatte, war auch ein Grund gewesen, warum ihre Beziehung gescheitert war.

Obwohl sie es sich selbst nicht eingestehen wollte, fühlte sich ein Teil von ihr noch immer zu ihm hingezogen. Richard hatte ihr beigebracht, was es bedeutete, jemanden aufrichtig zu lieben. Und der Sex mit ihm war großartig gewesen. »Ich kann mich nicht heimlich mit dir treffen, Richard«, sagte sie und schob ihn sanft beiseite. »Ich lebe jetzt mit Chris zusammen, und auch, wenn es nicht so wäre, würde ich mich nie mehr mit dir einlassen. Bitte schau einfach, was Greg über Shana herausfinden kann. Ach, und danke fürs Zuhören.«

 

 

Am dritten Tag durfte Shana aus der Isolierstation und sich unter das allgemeine Volk mischen. Der Aufenthaltsraum hatte die Größe der Lobby eines Fünfsternehotels, in dem mehrere Sitzgruppen mit großen runden Tischen verteilt waren. Ein Bereich, in dem Plastikstühle im Halbkreis um einen Fernseher herumstanden, erinnerte sie an die Leseecke in der Grundschule.

Am neugierigsten war sie auf die Menschen. Es war ihr längst egal, wer sie waren, solange sie lebendig waren. Hinter dem Tresen saßen Peggy und Lee. Shana blickte sich um. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie etwas Grünes. Es war ein Mann, der eilig an ihr vorbeilief. Sie beobachtete ihn neugierig, wie er in einem großen Kreis den Raum durchmaß, als wäre er auf einem Joggingpfad. Außerdem fiel ihr auf, dass er, von ihr selbst abgesehen, als Einziger den grünen Schlafanzug trug. Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, gesellte sie sich zu ihm und ging neben ihm her. Er blickte sie nicht an, begann jedoch augenblicklich ein Gespräch.

»Ich habe festgestellt, dass mich das Gehen beruhigt«, sagte er. »Es ist, als hätte ich zu viel Energie, und das macht mich gereizt, und wenn ich gereizt bin, sind die anderen sauer auf mich. Weißt du, das Gehen beruhigt mich. Wenn ich ruhig bin, dann …«

Man lernt nie aus, dachte Shana, blieb stehen und überließ den Mann sich selbst. Das Gehen mochte ihn beruhigen, aber sie selbst wurde davon nicht ruhiger. Da sie beide die Einzigen in den schmucken grünen Schlafanzügen waren, schlussfolgerte sie, dass sie das Kennzeichen für die besonders schweren Fälle waren. Na prima, witzelte sie grimmig. Als sie eine Gruppe von Leuten an einem der runden Tische bemerkte, die einigermaßen zurechnungsfähig aussahen, ging sie hinüber.

In diesem Augenblick entdeckte sie ihn.

Sofern sie nicht halluzinierte, stand mitten unter den Patienten der absolut großartigste Typ, den man sich vorstellen konnte. Es wäre eine Untertreibung, zu sagen, dass er aussah, als sei er direkt einer Calvin-Klein-Reklame entstiegen. Sein dunkles Haar hatte genau den richtigen Schwung, und seine Haut war glatt und ohne den geringsten Makel. Sein umwerfender Körper war nicht zu kräftig wie sooft bei Männern, sondern muskulös und gleichzeitig sehr schlank. Und sein verschmitztes Grinsen sagte ihr, dass er genau wusste, was sie über ihn dachte.

Er wippte auf seinen Füßen vor und zurück, weshalb es schwer war, seine Größe einzuschätzen, doch er musste mindestens eins fünfundachtzig groß sein, ein Leckerbissen für eine hochgewachsene Frau. Sein weißes T-Shirt spannte über dem flachen Bauch, und die Jeans saß perfekt auf seinen Hüftknochen, tief und sexy. Er hatte einen klassischen Haarschnitt, den Shana erfrischend fand. Seine Nase war wohlgeformt, seine Lippen schmal, doch sie passten zu seinem Gesicht. Er wirkte durchtrainiert, ohne jedoch den Körper eines Sportlers oder Bodybuilders zu haben. Womöglich hatte er einfach gute Gene und würde immer so aussehen, egal, ob er jemals den Fuß über die Schwelle eines Fitnessstudios setzte. Sie stellte sich vor, dass andere Männer und sogar manche Frauen ernsthaft neidisch auf ihn waren.

Shana atmete tief ein. Während sie auf ihn zuging, veränderte sich ihre Wahrnehmung des Mannes. Sie musste an die klassischen Filmstars denken wie Marlon Brando oder Jack Nicholson. Obwohl er jung war, vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig, strahlte er eine reife Männlichkeit aus.

»Das ist unser Walking Man«, sagte er mit einer Kopfbewegung auf den Mann im grünen Schlafanzug. »Eigentlich heißt er Milton, doch es dürfte nicht schwer zu erraten sein, warum wir ihn so genannt haben.«

»Entschuldigung«, sagte Shana, »kennen wir uns?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er mit einem neckischen Lächeln. »Sag du es mir.«

Der Mann wirkte normal und bei klarem Verstand. Shana war sich fast sicher, dass er mit ihr flirtete. Beschämt blickte sie an sich hinunter. Eigentlich musste man sich in einer Irrenanstalt nicht wirklich über fehlendes Modebewusstsein Sorgen machen. »Verzeihung«, erwiderte sie und blinzelte nervös. »Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht.«

Am Tisch hinter ihm war eine schwarze Frau mit strahlenden Augen und einem hübschen Gesicht damit beschäftigt, sich die Nägel zu lackieren. Sie waren mindestens fünf Zentimenter lang, Krallen, die sich an den Enden nach unten bogen. Jeder Nagel hatte eine andere Farbe. »Das hier ist May«, erklärte er. »Sag mir deinen Namen, dann stell ich dich meinen Freunden vor.«

»Shana«, sagte sie und wäre beinahe mit ihrem Nachnamen herausgeplatzt, bevor sie sich entsann, wo sie sich befand. Sie hatte angenommen, dass Whitehall eine Entzugsklinik war, aber sie konnte niemanden entdecken, der aussah wie ein Drogenabhängiger oder ein harter Alkoholiker. Von den Leuten am Tisch abgesehen, wirkten alle psychisch krank.

Sie konnte ihren Blick nicht von Mays Fingernägeln abwenden. Die Frau sah zu ihr auf und lächelte, während sie auf einen grünen Nagel blies, damit die Farbe trocknete.

»May hat übersinnliche Kräfte.« In der Stimme des Mannes lag nur ein Hauch von Sarkasmus. »Sie wird dir weissagen, wenn du das möchtest.«

Shana wollte ihn gerade nach seinem Namen fragen, als der Patient, der neben May saß, sich umdrehte. Shana rang nach Luft. Jeder Zentimeter seiner Haut war verbrannt und miteinander verschmolzen. In seiner Hand hielt er einen kleinen tragbaren Ventilator.

»Norman, das hier ist Shana«, sagte der junge Mann. »Nur dass du es weißt, Norman hat sich selbst angezündet.« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Der Ventilator lindert die Schmerzen.«

Mit einem bedauernswerten Blick nahm Norman sie zur Kenntnis. Seine Augen lagen unter der Halloween-Maske, zu der sein Gesicht erstarrt war, verborgen. Shana drehte sich um und begab sich an das andere Ende des Raums. Ihr Magen revoltierte.

»Ich heiße Alex.« Sie schrak zusammen, als der junge Mann hinter ihr auftauchte.

»Warum bist du hier?«

»Warum bist du hier?«

»Ich habe zuerst gefragt«, sagte Shana mit einem schwachen Lächeln.

»Weil meine Familie mich hierhergebracht hat«, erwiderte Alex. »Sie haben geglaubt, dass ich mich umbringen würde.«

»Und, hättest du?«

»Möglich«, sagte er. »Und du?«

»Angeblich bin ich drogensüchtig.« Shana war überrascht, dass sie eine derart beschämende Äußerung gegenüber einem Fremden machte. Doch wie sehnlichst sie sich auch wünschte, dieser Hölle zu entfliehen, so nahm ihr neuer Freund ihrer Lage ein wenig den Stachel – sie erschien ihr beinahe komisch. Sie hatte nicht etwa an einer Straßenecke gestanden und mit einem Megaphon vom Weltuntergang gepredigt, und sie hatte auch kein Essen aus Mülltonnen gefischt, und dennoch hatte ihr ein Psychiater geradewegs ins Gesicht gesagt, dass sie unter einer Psychose litt. »Ich will ja nicht unhöflich sein«, fuhr sie fort, »aber hast du eine Idee, wie ich hier rauskomme?«

Alex zuckte die Schultern.

Shana blickte zurück zu Norman. Sie war neugierig, mehr über all die Patienten zu erfahren, doch dies war nicht der Ort und die richtige Zeit, um derartige Fragen zu stellen.

»Bist du diejenige, die in der Notaufnahme ›Amazing Grace‹ gesungen hat?«

»Nein, wie kommst du darauf?«

Alex lächelte. »Ich habe nur von ihr gehört, sie aber noch nicht gesehen. Vielleicht ist sie noch auf der Isolierstation.«

»Da komm ich gerade erst her, und ich habe niemanden gesehen.«

Plötzlich fiel Shana ein, an wen Alex sie erinnerte. Im zweiten Jahr am College hatte sie sich in einen Jungen verliebt. Mark Summerfield hatte die gleichen dunklen Augen, und sein Gesicht war ganz ähnlich geschnitten, er hatte das gleiche dichte Haar und die gleiche typisch irische Nase. Und da war die Art, wie Alex seine Zigarette hielt, wie er den Rauch aus dem Mundwinkel ausatmete. Auch Mark war Raucher gewesen, und Shana hatte, als sie ein Paar gewesen waren, ebenfalls zu rauchen begonnen. Wenige Monate nach ihrer Trennung hatte sie aufgehört, doch bis heute sehnte sie sich manchmal nach einer Zigarette. Nichts schien so süchtig zu machen wie Nikotin. »Seltsam, dass sie einem hier drinnen das Rauchen erlauben. Heutzutage ist es doch fast überall verboten. Nicht einmal im Gefängnis darf man noch rauchen.«

»Vielleicht ist Whitehall ja deswegen so erfolgreich.«

Shana erwiderte nichts darauf. Sie sann darüber nach, dass die größte Ähnlichkeit zwischen Mark und Alex in den Augen lag. Es war der Blick, der die Menschen voneinander unterschied. Genau genommen waren die Gesichtszüge gar nicht so einzigartig. Als Kind hatte ihr die Großmutter erklärt, dass Gott nur eine begrenzte Zahl an Mustern hatte. In den Augen von Alex blitzte messerscharfe Intelligenz, die dich sekundenschnell zur Strecke brachte, genau wie bei Shanas erster großer Liebe.

Mark hatte im Hauptfach Englisch belegt und Journalist werden wollen. Außerdem strebte er danach, Schriftsteller zu sein. Es war merkwürdig, wie manche Menschen, die augenscheinlich etwas Besonderes waren, sich schließlich als völlig durchschnittlich erwiesen. So war es auch bei Mark gewesen. Er hatte unermüdlich an seinem Roman geschrieben, und das, zusammen mit seiner Abschlussarbeit, hatte ihm keine Zeit für Shana gelassen.

»Möchtest du Tischtennis spielen?« Alex drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus.

Shana blickte sich um, bis sie die Tischtennisplatte entdeckte. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn Pingpong spielen. Alles, was sie wollte, war, diesem fiesen Lügner Morrow die Fresse einzuschlagen. Vorausgesetzt, sie erinnerte sich daran, wie er aussah, wo sie war und wie sie hieß, all diese unbedeutenden Details eben. »Ich kann nicht« – sie starrte auf den Boden –, »die Medikamente …«

»Natürlich kannst du«, widersprach Alex. »Komm schon, du musst was tun.«

An der Rückwand war ein schwarzes Münztelefon. Daneben hing eine Tafel mit Kreide und Schwamm in der Rinne am unteren Rand. War es tatsächlich ein Telefon? Es würde sie nicht wundern, wenn es sich als eine Attrappe erwies. Alles schien so unwirklich. Sie konnte sich vorstellen, dass Morrow ein Spielzeugtelefon an der Wand anbrachte, um bei den Patienten falsche Hoffnungen zu wecken. In dem Moment, in dem sie den Hörer aufnahmen, würde eine Stimme sagen: »Hab ich dich, du Trottel.«

Allerdings war es angenehm, nicht ununterbrochen von der Kakophonie klingelnder Handys umgeben zu sein. Es war, als habe sie einen Zeitsprung in die Vergangenheit gemacht.

Sie machte sich auf den Weg zu dem Telefonapparat; ihr Herz klopfte schwer gegen die Medikamente an. Sie wollte Brett anrufen, aber er sollte nicht wissen, dass sie in einer psychiatrischen Klinik war. Also beschloss sie, Julie, ihre ehemalige Mitbewohnerin, anzurufen. Sie nahm den Hörer ab; es schien immerhin ein echtes Telefon zu sein, doch sie brauchte Geld. Sie wandte sich an Alex, um sich eine Vierteldollarmünze zu leihen. Aber nicht jetzt, entschied sie. Sie hatte den Typen gerade erst kennengelernt. Ein Vierteldollar musste hier drin ein echter Hauptgewinn sein.

»Ich würde ja spielen«, sagte sie zu ihm, »aber meine Hosenbeine sind zu lang. Ich würde stolpern und hinfallen.« Sie war fast eins achtundsiebzig groß, es war seltsam, dass die Hose so lang war. Selbst wenn sie ihr einen Männerpyjama gegeben hatten, dürfte die Hose doch eigentlich nicht am Boden schleifen. Vermutlich hatten sie eine Einheitsgröße für Männer und Frauen, und weil sie dünn war, hing der Stoff so weit herunter. In dieser Hinsicht war auch sie genetisch begünstigt, denn sie hatte ihre Größe von der Mutter geerbt und konnte Berge von Essen verdrücken, ohne ein Gramm zuzunehmen. Für diese Eigenschaft wurde sie von vielen Mädchen beneidet.

Sie sah auf ihre Füße hinunter und bemerkte, dass sie Flipflops trug, und zwar die billige Sorte, die man bei der Fußpflege bekam. Sie hatte drei Tage lang nicht auf ihre Füße geschaut. »Und meine Schuhe, in denen kann ich unmöglich Tischtennis spielen. Bestimmt würde es mich hinhauen.«

»Sieh her«, sagte Alex, legte ganz unverfroren seine Hände an ihre Hüfte und rollte die Hose am Gummibund auf. »Damit hätten wir ein Problem gelöst. Und was die Schuhe angeht, spiel einfach barfuß.«

Shana kniff die Augen zusammen. Sie brauchte die Vierteldollarmünze. Irgendjemand musste ihr hier raushelfen. Zumindest könnte Julie ihr ein paar Kleider bringen. Sie musste sich konzentrieren. Die Medikamente hatten sie in einen Zustand kindlicher Einfalt versetzt.

Alle außer dem »Walking Man« trugen gewöhnliche Kleidung. Einige der Frauen hatten sogar Make-up aufgelegt. In gewisser Hinsicht hatte das Krankenhaus etwas von einem Wellness-Hotel. Manche der Leute wirkten etwas seltsam, das war schon wahr, so wie May mit ihren langen vielfarbigen Fingernägeln, die sich wie die Klauen eines Kondors bogen, und der tragisch verunstaltete Norman, andere aber schienen völlig normal, beinahe so, als würden sie hier eine Art Urlaub verbringen. »In Ordnung, ich spiel mit.«

Alex lächelte wie ein kleiner Junge und ging zur Tischtennisplatte. Sie schlurfte hinter ihm her, und beide nahmen an gegenüberliegenden Seiten des Tisches ihre Plätze ein. Eine kleine Gruppe Zuschauer versammelte sich um sie. Nach gerade einmal einer Stunde im »großen Saal«, wie ihn die Patienten offenbar nannten, hatte sie die Rolle einer Unterhalterin angenommen. Hier stand sie, in grünem Pyjama, ohne Schuhe und ohne Unterwäsche, und spielte mit dem Doppelgänger ihres Ex-Freundes Pingpong in einer Irrenanstalt.

Im Dunstschleier aus namenlosen Gesichtern kristallisierte sich das von Norman heraus. Da wusste sie, dass ihre ursprüngliche Einschätzung stimmte. Sie befand sich in Dantes Kahn und steuerte durch die feurigen Fluten der Hölle, an ihrer Seite der bemitleidenswerte Norman.

»Spielen wir?«, fragte Alex und nahm einen Schläger in die Hand. »Oder sollen uns die Eingeborenen für den Rest des Tages begaffen?«

Shana hob die Hände. »Warum ich?«

»Warum nicht?« Er nahm den zweiten Schläger und wedelte damit in der Luft herum. »Wenn du noch mehr dumme Fragen stellst, such ich mir einen anderen Spielpartner.«

Alex machte den Aufschlag. Shana traf den Ball, der zwar nicht im Netz hängen blieb, doch auf der anderen Seite direkt auf den Boden fiel. Alex machte eine Pause, um sich eine neue Zigarette anzuzünden, die er zwischen die Lippen klemmte, während er den Ball vom Boden aufhob und ihn zurück über das Netz schlug.

»Solltest du nicht mit dem Rauchen aufhören, Alex? Der Grund, warum man in den meisten Gefängnissen nicht rauchen darf, ist der, dass man den Steuerzahlern nicht auch noch die Kosten für die Krebserkrankung der Insassen aufbürden will.«

»Halt den Mund und spiel.« Er schlug einen weiteren Ball übers Netz. »Gefängnisinsassen zahlen nicht einen Haufen Geld dafür, dass man sie einsperrt. Das ist ein großer Unterschied, meinst du nicht?«

Nach etwa zehn Minuten merkte Shana, dass sie Feuer fing. Eigentlich spielte sie gar nicht so schlecht. Sie fokussierte den Ball und hielt ihn mit ihrem Blick fest, als würde sie ihn durch ein Teleskop betrachten. Sie traf den Ball, verfolgte seinen Weg über das Netz und seinen Aufprall auf Alex’ Schläger. In ihrer Vorstellung war er riesig, ein glühender weißer Himmelskörper, den sie auf seinem Zeitlupenflug unmöglich verfehlen konnte.

Die Medikamente hatten die Welt verändert.

Unvermittelt wurde Shana bewusst, dass sie Spaß hatte. Ihr Haar war zerzaust, sie trug kein Make-up, ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen und die Pyjamahose verdreckt. Dennoch lachte sie und amüsierte sich mehr, als sie es je in Stanford getan hatte. Sie sprang von links nach rechts, verpasste keinen Ball und schlug ihn so, dass Alex kaum Chancen hatte, ihn zu erwischen. Sie war am Gewinnen und wurde von den Zuschauern angefeuert.

Als sie ihr drittes Spiel begannen, kamen mehrere jüngere Patienten in den großen Saal. Ein etwa achtzehnjähriger Junge trat hinter Alex, schlug ihm auf den Rücken und ließ ein hektisches Kichern hören. Er ging auf Krücken. Shana konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Wer auch immer er war, er war wunderschön. Sein Haar hatte ein goldenes Blond, und seine Haut war zart und hellbraun. Er trug Shorts, so dass man seine muskulösen Waden sah. Sie musste an Michelangelos David denken.

Eigentlich hatte Shana immer Kunstgeschichte studieren wollen. Sie war eher der kreative Typ, ganz anders als ihre Mutter. Seit Jahren schon hatte sie Lily sagen wollen, wie sehr sie die Starrheit der Rechtswissenschaften verabscheute, doch sie hatte sich zurückgehalten, um ihre Mutter nicht zu enttäuschen. Mit dieser Geschichte hatte sie jedenfalls ausgepackt, an dem Abend, als ihre Mutter sie nach Whitehall gebracht hatte. Sie war froh, dass sie es endlich losgeworden war. Ein anderer Grund für ihre Entfremdung war gewesen, dass Lily Shanas Vater nie wirklich geliebt hatte. Wohl hatte er vieles im Leben falsch gemacht, aber Shana hatte keinen Augenblick an seiner Liebe zu ihr gezweifelt. Er hatte sie nicht nur geliebt, er hatte sie geradezu angebetet.

Alex ließ den Schläger auf die Tischtennisplatte fallen und tippte die Asche seiner Zigarette in einen Aschenbecher. »David, alter Freund«, sagte er und wandte sich dem Jungen zu.

Shana war sprachlos und fragte sich, ob Alex auf irgendeine Weise ihre Gedanken gelesen hatte. Sie wusste, das Spiel war beendet, genauso, wie sie den Namen des Jungen gewusst hatte. Das Gefühl, alles zu wissen, verflog allerdings in dem Augenblick, in dem Alex seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenkte. Ihre Gedanken kehrten zurück zu dem Telefonapparat an der Wand. Sie musste an diese Vierteldollarmünze kommen. »Alex, ich brauche …«

»David, das ist Shana.«

Der Junge richtete seine blauen, mit langen Wimpern umkränzten Augen auf sie, und über sein Gesicht zog sich ein breites Grinsen. Statt Shana direkt anzusprechen, wandte er sich an Alex und begann, wie ein Maschinengewehr Fragen auf ihn abzufeuern. »Wirst du sie heiraten? Wirst du? Wirst du? Sag’s mir. Sag’s mir. Bestimmt wirst du sie heiraten.«

Alex lachte und blickte mit hochgezogener Augenbraue zu Shana, als wolle er sagen: Sieh her, vergiss nicht, wo du bist, der Schein kann trügen.

Sie begaben sich zum Sofa, und mehr und mehr Leute gesellten sich hinzu. Diejenigen, die keinen Platz zum Sitzen fanden, stellten sich in größtmögliche Nähe zu Alex. Neben David saß eine rothaarige Frau, die Anfang oder Mitte dreißig zu sein schien. Sie wirkte weder attraktiv noch unattraktiv, und es war nicht klar, warum. Sie hatte schönes Haar, fand Shana, auch wenn es wie ihr eigenes rot war und Shana sich immer blondes Haar gewünscht hatte. Es fiel in einer natürlichen Welle knapp über die Ohren. Ihre Augen waren grün, die Haut sehr hell und Nase und Wangen voller Sommersprossen. Während Shana sie betrachtete, ruckte der Kopf der jungen Frau mehrmals nach rechts, und sie stieß einen merkwürdigen Laut wie das Bellen eines kleinen Hundes aus. Die anderen Patienten ließen sich nichts anmerken, und die Frau selbst ließ sich in der Unterhaltung davon nicht ablenken.

Alex machte Späße mit David, um dessen Nacken er einen Arm gelegt hatte.

»Wollen wir Volleyball spielen?«, fragte die Rothaarige. »Es fängt in fünf« – ihr Kopf zuckte, und wieder entfuhr ihr das kurze Bellen – »Minuten an.«

»Das ist Karen«, sagte Alex. »Karen, das ist Shana. Karen leidet unter dem Tourette-Syndrom. Falls du noch nie davon gehört hast, kannst du es in der Klinikbibliothek nachlesen.« Liebevoll blickte er auf Karen. »Shana hat mir noch nicht gesagt, warum sie hier ist, aber wir werden die Wahrheit bestimmt irgendwann erfahren.«

Niemanden schien es zu stören oder peinlich zu sein, dass Alex sich über ihre Eigenarten oder Krankheiten ausließ. Manche wirkten erleichtert, dass er klare Verhältnisse schuf und keinen Raum für Mutmaßungen ließ. Shana vermutete, dass Karen mit ihrem Tourette-Syndrom unter den Patienten in einer anderen Liga spielte. Es war immer noch leichter, unter einer »gewöhnlichen« Krankheit zu leiden, und sei sie noch so selten, als zuzugeben, dass man sich selbst angezündet hatte wie Norman.

Sie dachte über den letzten Teil von Alex’ Feststellung nach. Was würde sich als die Wahrheit erweisen? Hatte Lily ein falsches Alter angegeben, damit sie Shana einweisen konnte? Es schien absurd, da ihre Mutter doch so dahinterher war, dass sie ihren Abschluss machte. Morrow und die Frau, die aussah wie eine Bankangestellte, mussten im Irrtum sein. Die beiden hatten behauptet, dass sie drogensüchtig war und am ganzen Körper Wunden hatte.

Allerdings durfte laut Gesetz ein Mensch für zweiundsiebzig Stunden in einer psychiatrischen Klinik festgehalten werden, wenn er für sich selbst oder andere eine Gefahr darstellte. Sie hatte ihrer Mutter den Hammer gezeigt, vielleicht hatte sie Sorge gehabt, dass Shana jemandem den Kopf damit einschlagen und man sie verklagen würde.

Ihr schwirrte der Kopf von all den Namen und Krankheiten der Patienten. Sie stellte sich eine Denkaufgabe: Alex war suizidgefährdet oder es zumindest mal gewesen. May war sicher nicht wegen ihrer verrückten Fingernägel und ihrer übersinnlichen Kräfte hier, da gab es also noch ein Geheimnis zu lüften. Was Karen anging, war Whitehall womöglich ein Ort, an dem sie vor der Gefühllosigkeit ihrer Umwelt Zuflucht finden konnte. Über David wusste sie gar nichts. Alex hatte kein weiteres Wort über ihn verloren.

Als Alex aufstand, dauerte es keine Minute, bis sich ihm die ganze Gruppe anschloss und ihm zu einer Tür am anderen Ende des Raums folgte. Er war auf halbem Weg dorthin, als er sich umdrehte und sah, dass Shana noch immer auf dem Sofa saß. Er kehrte um, um sie zu holen. »Volleyball«, sagte er, und es war eher eine Ankündigung als eine Einladung.

»Ich kann nicht Volleyball spielen.«

»Komm mir nicht schon wieder damit«, sagte Alex und zerrte sie hoch.

Shana blitzte ihn wütend an und zog ihre Hand weg. Für wen hielt er sich eigentlich? War er der Kapitän auf diesem Narrenschiff? Das hier war eine Klapsmühle, ein Irrenhaus. Womöglich war der Kerl gefährlich.

Das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch. »Wie du willst«, sagte er. »Der Tag wird sich ewig hinziehen, wenn du nur herumsitzt und dich in Selbstmitleid suhlst. Und auf den Tag folgt die Nacht, falls du das vergessen hast. Morgen geht das Ganze wieder von vorn los.«

»Ich werde hier rauskommen«, sagte Shana mit trotzigem Gesicht. »Mein Freund ist Anwalt. Ich werde ein R-Gespräch anmelden.«

»Ferngespräche funktionieren hier nicht. Von hier aus kannst du nur Ortsgespräche führen.«

Brett war vermutlich in Berkeley bei seiner neuen Freundin, ihn konnte sie also von der Liste streichen. Richard Fowler fiel ihr ein, der Ex-Freund ihrer Mutter, aber sie hatte keine Ahnung, ob der noch in Ventura war.

Alex ging zurück zu der Tür, vor der sich etwa zehn Patienten scharten. Sie war geschlossen, und die Gruppe stand dort, als warte sie vor einem Kaufhaus darauf, dass sich die Türen öffneten.

Shana blickte auf die Uhr; es war erst zehn. Die Zeit dehnte sich an diesem Ort, dachte sie, wurde auseinandergezogen, bis sie dünn wie ein Gummiband war. Und es gab nichts, was sie zurückschnappen ließ und dem Ticken der Uhr Dringlichkeit verlieh. Sie sah sich um. Immer mehr Patienten gingen zu der Tür. Sie führte nach draußen. Vielleicht könnte sie fliehen.

Sie hievte sich aus dem Sofa und gesellte sich in dem Moment zu der Gruppe, als ein muskelbepackter Mann auftauchte und einen Schlüssel von einem großen Ring an seinem Gürtel abnahm. Die Gruppe marschierte über einen Hof zur Turnhalle. Jetzt fiel Shana ein, woher sie den Angestellten kannte. Es war George, der Gorilla vom ersten Tag, der sie auf das Sofa geworfen und ihr die Hose heruntergerissen hatte, um ihr die Spritze zu geben.

Shana musterte die Gebäude; mehrere Türen führten auf den Hof, hinter denen verschiedene Büros zu sein schienen. Von vorn mochte Whitehall wie eine herrschaftliche Villa aussehen, innen allerdings wirkte es eher wie ein Bürogebäude. Sie blieb hinter den anderen zurück und drehte an einigen Türgriffen. Soweit sie den Überblick hatte, waren diese Büros der einzige Weg nach draußen. Gerade wollte sie nach einer weiteren Klinke greifen, da umfasste sie ein Arm an der Hüfte und hob sie in die Luft.

»Lassen Sie mich sofort herunter.« Shana versuchte, sich Georges Griff zu entwinden, doch der warf sie sich über die Schulter und trug sie wie einen Sack Zement bis ans vordere Ende der Gruppe. »Für wen halten Sie sich?« Sie schrie und hieb mit ihren Fäusten auf den Rücken des Mannes. Ohne Zweifel konnte George problemlos das Doppelte ihres Gewichts tragen. »Ich habe doch gar nichts gemacht. Bitte« – sie wandte sich hilfesuchend an die anderen Patienten – »kann mir denn niemand helfen?«

Alex trat zögernd vor. »George.« Seine Stimme war fest und leise. »Lassen Sie doch bitte die junge Dame herunter. Sie ist neu hier. Sie hatte keine bösen Absichten. Kommen Sie, lassen Sie sie gehen und sperren Sie uns die Turnhalle auf.«

Sobald George Shana abgesetzt hatte, riss sie sich das grüne Oberteil hinunter, um ihren entblößten Bauch zu bedecken. »Danke«, sagte sie zu Alex. »Womit füttern sie diesen Kerl? Mit Anabolikasandwiches?«

»An deiner Stelle würde ich mich nicht mehr an den Türen zu schaffen machen.« Alex presste seine schmalen Lippen zusammen. »George war früher Boxer. Sein Gehirn ist nur mehr Matsch. Ich glaube nicht, dass du es mit ihm aufnehmen kannst. Verstehst du, was ich meine?«

Als sie in der Turnhalle waren, setzte George sich auf den Boden, um die Tür zu bewachen, und massierte sich mit seiner massigen Pranke eine seiner kräftigen Waden. Shana machte einen großen Bogen um ihn, doch seine Augen waren starr nach vorn gerichtet. Sie war nicht ganz davon überzeugt, dass er ein ehemaliger Boxer war. Verstohlen blickte sie auf seine Stirn, in Erwartung, die Narbe von einer Lobotomie zu sehen. Der Kerl war ein Tier.

Einige junge Leute kamen herein, die sich lärmend voreinander aufspielten. Das Spiel begann. Shana hielt sich am Rande des Spielfelds und beobachtete David, wie er auf seinen Krücken herumhumpelte. Plötzlich warf er eine der Krücken auf den Boden und schlug den Ball kraftvoll über das Netz. Was hatte es mit seinen Krücken auf sich? Ohnehin waren sie viel zu kurz. Ein Fuß war dick in einen Socken gewickelt, dennoch bemerkte sie, wie David mehrmals sein ganzes Gewicht darauf verlagerte.

Shana begann, sich für das Spiel zu begeistern. Sie bewegte sich etwas unbeholfen, aber es gefiel ihr sehr, wieder einmal Sport zu treiben. Nach der Vergewaltigung hatte sie aufgehört, Softball zu spielen, und hatte jedes Interesse an Sport verloren. Sie drängte sich immer mehr ins Geschehen auf dem Spielfeld.

In der Pause setzte sie sich neben David auf den Boden. »Was ist mit deinem Bein passiert?«

Davids unglaubliche Augen verloren etwas von ihrem Glanz. »Bänderriss. Mann, das tut echt weh. Gerade jetzt ist es richtig schlimm.«

»Es tut mir leid.« Shana streichelte seine Hand. »Vielleicht solltest du besser nicht Volleyball spielen. Ich kann dir auch deine Krücken besser anpassen. Sie sollten bis unter die Achseln reichen. So, wie sie jetzt sind, musst du dich ständig bücken.«

Ohne ein Wort stand David auf und humpelte fort; er stellte sich neben George an die Tür. Alex schlenderte auf sie zu und lehnte sich neben Shana an die Wand. »Was ist mit David los?«, fragte sie ihn.

»Was ist mit uns allen los?« Alex seufzte. »Redest du von seinem Bein? Er täuscht das nur vor, David will nicht nach Hause, deshalb legt er sich jede Woche eine neue Krankheit zu. Letzte Woche hat er so getan, als ob er blind würde.«

Shana erschrak. »Du willst sagen, dass es Leute gibt, die wirklich hier bleiben wollen?«

»Es gibt schlimmere Orte.« Er beugte sich hinunter und zupfte an einer von Shanas Haarsträhnen.

Plötzlich fühlte Shana von irgendwoher neue Kraft in sich aufsteigen; vielleicht hatte Alex ja recht. Dadurch, dass sie nicht wie sonst unter ständigem Druck stand, fühlte sie sich wie ausgewechselt. Warum hatte sie so ein Theater darum gemacht, dass Brett sie verlassen hatte? Bestimmt hatte er gar nicht vor, sie zu heiraten. Das Ganze war nur ein dummes Hirngespinst.

Die Ermordung ihres Vaters und der erste Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hatte sie um mehrere Jahre zurückgeworfen. Shana ging auf die dreißig zu, und die meisten ihrer Freunde waren verheiratet oder verlobt. Manche hatten sogar schon Kinder.

Schon immer hatte Shana das gewollt, was sie nicht haben konnte, insbesondere wenn es ihrer Mutter gehörte. Sie erinnerte sich, wie sie regelmäßig den Kleiderschrank ihrer Mutter durchstöbert hatte, wobei sie mehr als genug eigene Kleider besaß. Und je mehr sich ihre Mutter darüber aufregte, desto öfter nahm sie deren Sachen. Oftmals trug sie die Kleider gar nicht, hin und wieder gab sie sie an Freundinnen weiter. Wenn ihre Mutter wütend wurde und Shana des Diebstahls bezichtigte, widersprach ihr Vater und konstatierte, dass es sich nicht um Diebstahl handelte, solange sie nur Sachen von den eigenen Familienmitgliedern nahm. Deshalb hatte sie ihren Vater so verehrt: Er liebte sie, egal, was sie tat, wohingegen ihre Mutter sie permament verändern wollte.

Brett hatte eine andere Freundin gehabt, als Shana ihn kennenlernte, was vermutlich der Grund gewesen war, warum sie ihn so sehr gewollt hatte. Als er sie nun gegen eine andere, in ihren Augen minderwertige, Frau ersetzt hatte, hatte sie völlig die Beherrschung verloren. Shana war bewusst, dass sie kein wirklich guter Mensch war, aber es war nicht so einfach, sich zu ändern.

Sie tauchte aus ihren Gedanken auf und überblickte den Raum. Von George, Morrow und Peggy abgesehen, wirkten die meisten Leute ganz angenehm. Die Patienten mochten ihre Probleme haben, aber in vielerlei Hinsicht waren sie leichter zu ertragen als die Leute, mit denen sie in Stanford zu tun hatte.

Kurz darauf fiel ihr auf, dass Whitehall sie nicht nur von der Außenwelt isolierte. Die Außenwelt schien gar nicht mehr zu existieren.

Sie ging ans andere Ende der Turnhalle und begann, eine Strickleiter hinaufzuklettern. Auf halbem Weg nach oben fing die Leiter an zu schaukeln, und Shana bekam Angst, herunterzufallen.

Alex wartete auf sie, als sie hinunterkletterte. Als sie auf der letzten Sprosse war, legte er seine Hände um ihre Hüfte und hob sie herunter. »Du willst dir doch nicht weh tun, oder?«

Das Wohlbefinden, das Shana gerade noch erlebt hatte, verschwand. Zum zweiten Mal an einem Tag hatte dieser Mann sie berührt. Sie konnte fremden Männern nicht gestatten, sie anzufassen, noch dazu in einer solchen Umgebung. Hatten die Medikamente sie schon völlig verblödet? Sie kletterte auf Strickleitern und spielte Volleyball, als stünde es ihr jederzeit frei, durch die Tür zu gehen und zu verschwinden.

»Du hast mir meine Frage nicht beantwortet«, sagte Shana mit ernster Miene. »Wie komm ich hier raus?«

»Hm«, erwiderte Alex und griff nach einer Zigarette, bis ihm einfiel, dass er in der Turnhalle nicht rauchen konnte. »Als Erstes musst du entscheiden, was du tun wirst, wenn es einmal so weit ist.«

Er wandte sich um, spazierte davon und ließ Shana zurück, um über diese Antwort nachzugrübeln.