1

Mittwoch, 13. Januar
Ventura, Kalifornien

Als die Geschworenen sich gesetzt hatten und die Angeklagte an ihren Platz neben dem Anwalt am Tisch der Verteidigung geführt worden war, trat der Gerichtsdiener vor den Richtertisch. »Erheben Sie sich«, ordnete Leonard Davis an. »Kammer siebenundvierzig des Superior Court von Ventura County ist hiermit zusammengekommen. Den Vorsitz hat Richterin Lillian Forrester.«

Eine große, schlanke Rothaarige trat durch die hintere Tür in den Gerichtssaal, und die schwarze Robe flatterte um ihre Beine, als sie die drei Stufen zur Richterbank hinaufstieg. Lilys Haare waren eines ihrer hervorstechendsten Merkmale, und sie trug sie etwas mehr als schulterlang. Heute hatte sie ihr Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein paar Strähnen hatten sich schon daraus gelöst und lockten sich auf ihrer Stirn und in ihrem Nacken. Ihre Haut war hell, mit vereinzelten Sommersprossen auf Nase und Wangen. Sie war eine außergewöhnliche Frau, mit einer natürlichen Schönheit und feinen Gesichtszügen.

Lily war bewusst, dass die Verfolgung von Straftätern ein Katz-und-Maus-Spiel war. In der Mehrheit der Fälle kam es nicht einmal zu einem Prozess. Wenn jeder Fall die Zeit und den Aufwand eines Geschworenengerichts beanspruchen würde, dann würde das Justizsystem kollabieren. Selbst in den grauenhaftesten Mordfällen wurde der Fall meist mit einer Einigung der Parteien vor der Verhandlung abgeschlossen. Aber in Fällen von dieser Größenordnung war ein Vergleich nicht so einfach zu erzielen. Das System glich einer Boa constrictor. Je länger ein Straftäter ausgequetscht wurde, desto mehr Fakten kamen ans Tageslicht und entsprechend williger wurde der Angeklagte, das angebotene Strafmaß anzunehmen. Das traf vor allem auf jene Fälle zu, in denen die Alternative der Tod war.

Der Gerichtssaal war überfüllt. Lily hatte verfügt, dass keine Fernsehaufnahmen gemacht wurden, und so waren die meisten Plätze von Presseleuten besetzt. Die Reporter machten Notizen oder gingen die Gänge auf und ab, um Fotos zu schießen. Der Fall war eine Sensation, eine, die den Mörder zu einer Berühmtheit machte. Die Angeklagte Noelle Lynn Reynolds war ein beliebtes Mädchen gewesen, eine ehemalige Cheerleaderin und die Abschlussballkönigin an der Ventura Highschool. Die zarte blonde Frau mit dem runden Gesicht und den taubenblauen Augen sah nicht viel älter aus als auf den Fotos ihres Highschool-Jahrbuchs, obwohl sie kurz vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag stand. Nichts an ihrem Äußeren hätte vermuten lassen, dass sie eine kaltblütige Mörderin war, die gefühllos genug war, ihr eigenes Kind um ihrer Freiheit willen zu töten.

Von ihren tiefen Dekolletés und den bauchfreien Tops, mit denen sich Reynolds in den Wochen nach dem Verschwinden ihres zweijährigen Sohnes so stolz in den unterschiedlichsten Nightclubs, Cafés und Strandbars gezeigt hatte, war nichts zu sehen. Sie trug ein konservatives Polyesterkostüm. Ihre großen Silikonbrüste hatte sie unter die beige Jacke gestopft. Sie hatte ihr Haar aus dem Gesicht gekämmt und trug kein Make-up. Das extravagante Partygirl hatte sich für die Geschworenenjury verkleidet.

Lilys Blick wanderte zu Clinton Silverstein, einem Bezirksstaatsanwalt, mit dem sie seit Beginn ihrer Karriere zusammenarbeitete. Einer der Richter ging in Ruhestand, und Clinton hoffte auf seinen Posten. Der vorliegende Fall konnte die Entscheidung bringen. Doch Lilys Meinung nach hatte der Staatsanwalt den falschen Weg gewählt. Er forderte die Todesstrafe. Lily jedoch hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass ein Geschworenengericht aus Venturas Mittelschicht eine junge Frau wie Noelle Reynolds zum Tode verurteilen würde, egal, wie grausam ihr Verbrechen gewesen war. Lily hatte Silverstein mehrfach in ihr Büro gerufen und versucht, ihn umzustimmen. In einem Fall dieser Größenordnung führten die Staatsanwälte gewöhnlich mehrere Anklagepunkte auf, beispielsweise einen Mord ohne Vorsatz oder Totschlag, gemeinsam mit anderen Straftaten, die als geringer eingestuft wurden oder darin bereits enthalten waren. Das bedeutete, dass die Geschworenen im Fall eines Schuldspruchs in einem Anklagepunkt den Angeklagten nicht notwendigerweise in sämtlichen Punkten schuldig sprechen mussten, sondern nur in einem. Der Vorzug dieser Form der Klage war, dass sie den Geschworenen eine Alternative zum Freispruch bot. Wenn eine besondere Schwere der Schuld angeführt wurde, die die Todesstrafe rechtfertigte, hatte sie oft den Zweck, den Angeklagten dazu zu drängen, die außergerichtliche Einigung anzunehmen.

Silverstein aber wollte Gerechtigkeit und hatte nicht die Absicht, Reynolds einen Deal anzubieten. Ein süßer kleiner Junge war unter entsetzlicher Angst und völlig alleingelassen gestorben, getötet von der einen Person, die ihn hätte lieben und beschützen müssen. Der Staatsanwalt argumentierte, dass es einer attraktiven, jungen und manipulativen Frau wie Noelle Reynolds im Gefängnis gut ergehen würde, auch wenn sie ein Kind getötet hatte. Ein Mann mochte der Rache der anderen Gefängnisinsassen ausgesetzt sein, denn selbst Kriminelle verachteten die Mörder von Kindern. Frauen hingegen waren weniger gewalttätig als männliche Straftäter und auch weniger schnell bereit, ihre Zukunft zu riskieren, nur um einem anderen Kriminellen die gerechte Strafe zukommen zu lassen.

Es war ein Teil der Tragödie, dass Noelle Reynolds nicht die einzige Kindsmörderin im Gefängnis sein würde. Wenn Frauen mordeten, dann oft jene Menschen, die sie einst geliebt hatten – ihre Ehemänner, Partner, Eltern oder Kinder.

Meist wurde den Angeklagten im Austausch für ihr Geständnis und das Geld, das sie dem Staat sparten, indem sie den Fall nicht vor Gericht brachten, lebenslange Haft ohne die Aussicht auf Entlassung angeboten oder aber mindestens fünfundzwanzig Jahre im staatlichen Gefängnis. Bei einer unbestimmten Haftdauer, wie etwa bei fünfundzwanzig Jahren bis lebenslänglich, hatte der Angeklagte nach ungefähr zwölf Jahren die Möglichkeit auf Haftentlassung.

Nachdem er Monate damit zugebracht hatte, Autopsiebilder eines Kleinkindes zu studieren, dessen verwesender Körper in eine Mülltüte gestopft und ins Meer geworfen worden war, hatte Silverstein aus diesem Fall seinen persönlichen Rachefeldzug gemacht. Noelle Reynolds hatte nicht gewusst, dass Leichen, die in Ventura im Meer landeten, an der Kläranlage von Oxnard ans Ufer gespült wurden, was dem verabscheuungswürdigen Verbrechen eine weitere abscheuliche Note hinzugefügt hatte.

Lily ließ ihren Blick langsam zum Anwalt der Verteidigung schweifen. Richard Fowler war ein ehemaliger Liebhaber, und sie hatte erwogen, Richter Hennessey, den Gerichtspräsidenten, zu bitten, jemand anderen einzusetzen, als sie gehört hatte, dass Fowler die Vertretung von Noelle Reynolds übernommen hatte. Aber der Fall war wichtig, und sie glaubte nicht, dass sie befangen war. Die Justiz in Ventura war eng verknüpft, jeder kannte jeden. Nicht nur, dass jeder jeden kannte, man hatte Sex untereinander, heiratete einander und ließ sich wieder scheiden.

Lily hatte Fowler seit Jahren nicht gesehen und war bestürzt darüber, wie sehr er gealtert war. Natürlich spielte auch die Tatsache, dass sie mit Christopher Rendell verlobt war, einem hervorragenden, attraktiven Richter, der einige Jahre jünger als Fowler war, eine nicht unbeträchtliche Rolle dabei, dass jegliche Anziehungskraft, die der Anwalt noch auf sie haben mochte, im Keim erstickt wurde.

Trotzdem kniff sie ihre Augen zusammen, als sie die junge Blondine begutachtete, die Fowlers Partnerin in der Verteidigung war, und sie fragte sich, ob es die Frau war, die er vor ein paar Jahren geheiratet hatte. Meine Güte, dachte sie, das Mädchen sieht nicht älter aus als fünfundzwanzig. Die war ja kaum aus den Windeln raus. Aber ungeachtet seiner grauen Haare und der Falten um Mund und Augen, war Richard Fowler noch immer ein gutaussehender und begehrenswerter Mann.

Lily nahm die Gerichtsakte entgegen, die Susan Martin, ihre Büroangestellte, ihr reichte, und ließ ihren durchdringenden Blick durch den Raum schweifen. »Der Staat gegen Noelle Lynn Reynolds, Rechtssache Nummer A367428912, Verletzung von Paragraph 187 des Strafgesetzbuchs von Kalifornien, vorsätzlicher Mord.« Es waren erschwerende Umstände geltend gemacht worden, doch über diese würde zu einem späteren Zeitpunkt der Verhandlung entschieden werden, wenn die Angeklagte schuldig gesprochen war. Und man würde sie schuldig sprechen. Die Beweislage war eindeutig.

Lily zog das kleine schwarze Mikrofon näher heran und blickte dann zum Staatsanwalt. »Mr. Silverstein, möchten Sie mit Ihrem Eröffnungsplädoyer beginnen?«

»Ja, Frau Vorsitzende«, antwortete er und stand schwerfällig auf. Der kleine, übergewichtige Endvierziger fuhr sich mit der Hand durch das buschige braune Haar. »Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen zeigen, dass Noelle Reynolds bewusst, vorsätzlich und in böswilliger Absicht ihren zweijährigen Sohn Brandon Lewis Reynolds ermordet hat.« Er machte eine Pause, um das Gewicht seiner Worte zu unterstreichen. »Welche Mutter bringt es fertig, ihrem eigenen Kind so etwas anzutun? Wie kam es zu dieser verwerflichen Tat? Machen Sie sich ein Bild von dieser Person. Noelle Reynolds hatte ein Leben voller Privilegien. Ihr Vater war Arzt und verdiente genug Geld, um seiner einzigen Tochter jeden Wunsch zu erfüllen. Sie war sechzehn, als er ihr einen Porsche kaufte und eine American-Express-Karte ohne Kreditlimit gab. Und wie wir alle wissen, machen Privilegien auch beliebt. Noelle war Teamcaptain der Cheerleader und Abschlussballkönigin an der Ventura Highschool. Sie hatte ausgezeichnete Noten, so gut, dass sie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles angenommen wurde.«

Er trat vor die Geschworenenbank. »Doch etwas ging schief, und zwar schnell. Noelle fiel in beinahe jedem Kurs durch. Noelles Mitbewohnerin an der Uni wird im Verlauf dieser Verhandlung bezeugen, dass Noelle sie dafür bezahlt hat, ihre Hausarbeiten zu schreiben. Andere ihre Arbeit erledigen zu lassen war eine lebenslange Angewohnheit der Angeklagten. Wir werden eine andere Zeugin hören, die bezeugen wird, dass sie ihre Haare blondierte, um Noelle ähnlicher zu sehen und an ihrer Stelle die Eingangsprüfungen abzulegen. Nur deswegen wurde Noelle an der UCLA angenommen. Frühere Klassenkameraden werden berichten, wie sie dafür bezahlt wurden, Noelles Arbeiten zu machen oder die Prüfungsfragen für sie zu stehlen.« Er drehte sich zu der jungen Frau um und wies anklagend mit dem Finger auf sie.

»Noelle Reynolds, die Frau, die hier, in einem bequemen, klimatisierten Gerichtssaal, vor Ihnen sitzt, nachdem sie ihren wunderbaren kleinen Jungen im Kofferraum ihres Autos grausam hat ersticken lassen, hat sich durch ihr ganzes Leben gelogen und sich auf Kosten anderer durchgeschnorrt. Nur das eine, was sie wirklich wollte, bekam sie nicht. Sie wollte Mark Stringer, einen Kommilitonen an der UCLA. Sie war so verzweifelt, dass sie alles daransetzte, von ihm schwanger zu werden, überzeugt, dass er sie daraufhin heiraten würde. Als das nicht sofort gelang, hatte sie wahllos Sex mit unzähligen Männern, so lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Weder Noelle noch Mark Stringer selbst war zu dem Zeitpunkt bewusst, dass er körperlich gar nicht in der Lage war, Vater zu werden. Mr. Stringer ist zeugungsunfähig. Erstmals in ihrem Leben musste Noelle erleben, zu scheitern und abgewiesen zu werden. Und nun hatte sie auch noch ein Baby, um das sie sich kümmern musste, wobei sie sich doch niemals für jemand oder etwas anderes als ihr eigenes Wohlergehen interessiert hatte. Als ihre Lügen nach und nach ans Licht kamen und ihr parasitäres Leben nicht weiterzuführen war, begann die Angeklagte Pläne zu schmieden, sich dessen zu entledigen, was sie nur als Bürde betrachtete – ihres eigen Fleisch und Bluts, ihres Sohnes, dem kleinen Brandon Reynolds.«

Auf dem Weg zurück zum Tisch der Staatsanwaltschaft blieb Silverstein mit versteinertem Gesicht neben einer großformatigen Fotografie von Brandon stehen, die auf einer Staffelei aufgestellt worden war. Der Junge hatte weißblondes Haar und riesige blaue Augen, und auf seinem Gesicht lag ein fröhliches Lächeln. »Sieht das hier für Sie wie eine Bürde aus, die man in eine Mülltüte stopfen und ins eisige Meer werfen musste, bis der kleine, geschundene Körper dort angeschwemmt wurde, wohin er nach Meinung seiner Mutter gehörte, nämlich zwischen den Fäkalien in der Kläranlage von Oxnard? Das glaube ich kaum.«

Mehreren der weiblichen Geschworenen liefen Tränen über die Wangen, und selbst einige Männer mussten im Angesicht solcher Verkommenheit mit den Tränen kämpfen. Silverstein beugte sich über den Tisch der Staatsanwaltschaft und beriet sich kurz mit seiner Rechtspflegerin Beth Sanders, einer Frau um die vierzig, mit braunem Haar und einer ausgeprägten Kieferpartie. »Als die Angeklagte zu ihrem Vater floh, weil sie erwartete, dass er sich wie immer um ihre Probleme kümmern würde, war Dr. Reynolds so aufgebracht, dass er sich weigerte, seine Tochter und ihr kleines Baby bei sich aufzunehmen. Außerdem strich er ihr die finanziellen Zuwendungen und zwang sie, sich einen Job zu suchen und sich und den kleinen Brandon selbst durchzubringen. Ms. Reynolds bat ihre Freunde in Ventura um Hilfe, doch mittlerweile hatten sie alle ihre eigenen Verpflichtungen.«

Immer wieder kam es vor, das Richter einschliefen, besonders in diesem Stadium der Verhandlung. Bevor ein Fall Lilys Gerichtssaal erreichte, gab es eine Anhörung im Municipal Court. Eine solche Vorverhandlung war eine Art Miniprozess ohne Geschworene. Das Municipal Court traf die Entscheidung, ob der Angeklagte sich vor dem übergeordneten Landgericht verantworten musste. Natürlich hatte Lily die Mitschrift der Vorverhandlung durchgelesen und kannte die Fakten des Falles genau. Sie war nie eingeschlafen, manchmal aber schweiften ihre Gedanken ab. Die Nähe zu Richard Fowler lenkte sie sehr ab. Sie versuchte, nicht zu ihm hinzusehen, aber sie war auch nur ein Mensch und konnte nicht umhin, sich an das erste Mal, das sie miteinander geschlafen hatten, zu erinnern.

Die Bezirksstaatsanwaltschaft hatte eine Party gegeben. Gewöhnlich mied sie solche Veranstaltungen, aber es war ihr Geburtstag gewesen und niemand außer ihrer Mutter hatte daran gedacht. Ihr Ehemann hatte es vergessen. Ihre Tochter hatte es vergessen. Und hätte ihre Mutter ihr keine Karte geschickt, hätte selbst Lily es vergessen. Diese Nacht aber würde sie nie vergessen. Sie hatte ungekannte Lust erlebt, hatte ihre Ehe mit Shanas Vater beendet, und eine Kette von Ereignissen war in Gang gesetzt worden, die möglicherweise einen Vergewaltiger an ihre Haustür geführt hatte und sie zu einer Mörderin hatte werden lassen.

 

Frühling 1993
Ventura, Kalifornien

 

Die Elephant Bar war bis auf den letzten Platz besetzt mit Anzugträgern sowohl der männlichen als auch der weiblichen Variante. Seitdem das neue Verwaltungszentrum fertiggestellt war, hatte die Juristengemeinde die Bar zu ihrem Sitz erklärt. In der Bar herrschte eine Casablanca-Atmosphäre, in das Jahr 1993 versetzt, mit weißgetünchten Wänden, Deckenventilatoren und einem schwarzen Pianisten, dessen Klavierspiel im Lärm unterging, wobei ohnehin alle viel zu beschäftigt waren, um ihm zuzuhören. Hier wurden Deals ausgehandelt, Vergleiche und Mauscheleien, bei denen die Tage im Leben eines Menschen wie Karten ausgespielt wurden. Die Anwälte brüsteten sich damit, einen Fall in Kammer 69 beizulegen, was so viel hieß wie bei einem Glas Wein in der Elephant Bar.

Die beiden Bezirksstaatsanwälte Clinton Silverstein und Marshall Duffy standen an einem Tisch in der Nähe des Eingangs, einer jener hohen Tische ohne Hocker, die von Etablissements wie der Elephant Bar genutzt wurden, um möglichst viele Leiber auf möglichst engem Raum unterzubringen. Silverstein fuhr mit seinem Finger über den Glasrand seines Gin Tonics, während Duffy sich aus einem Krug Bier nachschenkte. Duffy war ein gutaussehender Afroamerikaner und trug einen modischen Nadelstreifenanzug und ein weißes Hemd mit Krawatte. Er ragte hoch auf neben dem gedrungenen Silverstein. »Du bist ein echter Irrer, weißt du«, sagte er, »auch wenn du mein Freund bist.«

»Ich bin ein Irrer. Nun, immerhin trage ich keine gefärbten Kontaktlinsen. Weißt du eigentlich, wie merkwürdig du mit denen aussiehst?« Silverstein trat vom Tisch zurück und löste seine Krawatte, während er sein Gegenüber angrinste.

Duffy nahm einen Schluck und ließ das Bier die Kehle hinunterlaufen, bevor er antwortete. »Meine babyblauen Augen. Die Frauen lieben sie. Solange sie mir dabei helfen, Frauen flachzulegen, trag ich sie. Also, wie steht’s nun mit dieser Versetzung? Ich dachte, du hast dich darum beworben.«

»Vorher schon, ich hab mich beworben, als Fowler noch die Abteilung geleitet hat. Ich hab diese Verkehrsdelikte so satt. Verdammt, noch ein Fall von Alkohol am Steuer, und ich häng mich mit einer Bierflasche im Arsch auf.«

»Tu’s nicht. Du bist doch versetzt worden. Was hast du gegen die Forrester? Sie kann doch nicht so schlimm sein. Sie hat ’nen hübschen Arsch. Erinnert mich an meine Frau.« Duffy trat einen Schritt zurück und hätte dabei beinahe eine Plastikpalme umgeworfen.

»Mir ist egal, wie sie aussieht. Alles, was ich weiß, ist, sie ist verdammt angespannt. Die braucht ein gutes Beruhigungsmittel, einen ordentlichen Fick oder beides. Das ist meine Meinung. Sie wird die Abteilung mit eiserner Hand regieren.«

»Da schimpft ein Esel den anderen Langohr, mein Freund.« Duffys Blick wanderte zur Tür. »Nimm einen großen Schluck, Clinty. Dein neuer Boss ist gerade gekommen.«

»Lily«, rief ihr eine Männerstimme entgegen. »Hier drüben.«

Die Bar war schummrig und verraucht, und Lilys Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sie folgte der Stimme. »Hallo, Marshall. Scheint, als habe die Party ohne mich angefangen.« Sie war nervös und inspizierte den Raum. Es sah so aus, als sei die komplette Behörde und die Hälfte der selbständigen Anwälte der Gegend anwesend.

»He, wir warten alle auf dich. Du bist heute Ehrengast. Was willst du trinken?«

Sie war schon dabei, um ihr übliches Glas Weißwein zu bitten, überlegte es sich aber anders. »Vielleicht eine Margarita mit Salz.« Während Duffy die Kellnerin herbeiwinkte, fügte sie spontan hinzu: »Bestell mir einen Patrón Tequila dazu.« Wenn, dann richtig, dachte sie. So machten es die Männer nach einem schlechten Tag, sie kamen her und betranken sich. Bei ihnen schien es zu funktionieren. Vielleicht ja auch bei ihr. Heute war ein übler Tag gewesen, außerdem belastete sie die neue Aufgabe.

»Wow, ich bin beeindruckt. Eben noch haben Clinton und ich über dich geredet. Er hat mir erzählt, wie sehr er sich darauf freut, mit dir zu arbeiten.«

»Ich denke mal, so sehr freut er sich nicht. Er ist gerade weggegangen.« Lily lachte, aber es war nicht wirklich lustig. Staatsanwälte wie Silverstein waren ein weiteres Problem, das die Beförderung mit sich brachte. Sie war jetzt Vorgesetzte von anderen, und manche davon hatten wesentlich mehr Erfahrung und weit größere Egos als sie. Es würde nicht einfach werden. Ein harter Drink würde ihr guttun.

Duffy drehte sich überrascht um. Clinton stand ein paar Tische weiter und unterhielt sich mit Richard Fowler, dem Vorgänger von Lily.

Lily versuchte, in Duffys glasig-blaue Augen zu schauen, aber ihr Blick wanderte unwillkürlich zu Fowler. »Du hast dich zu den Tötungsdelikten versetzen lassen, stimmt’s? Auf meine Stelle?« Ihre Augen bohrten sich in Fowlers Rücken, versuchten, ihn dazu zu bringen, sich umzudrehen. Statt sich hinunterzubeugen und die Aktentasche und ihre Handtasche abzustellen, ließ sie beide mit einem dumpfen Schlag auf den Boden fallen. Der Aufprall wurde von den Geräuschen in der Bar verschluckt, und Fowler wandte sich noch immer nicht um. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. »Wo ist die Kellnerin?«, fragte sie Duffy und beschloss, doch nur ein Glas Wein zu bestellen. Sie wollte nicht, dass Fowler sah, wie sie Schnapsgläser voll Tequila hinunterstürzte wie ein Rockstar. Doch es war zu spät. Duffy hatte schon bestellt.

»Ich bin ein Opfer des großen, von Butler inszenierten Stühlerückens«, sagte Duffy und stützte seine Ellbogen auf den Tisch.

Seine Worte zogen an ihr vorbei, und wieder wanderten ihre Gedanken zu Fowler. In den vergangenen zwei Wochen hatte er mit ihr gearbeitet und sie auf den neuen Job vorbereitet, um die Umstellung vom einen zum anderen Vorgesetzten so reibungslos wie möglich zu machen. Er war groß, wohl mehr als eins neunzig, mit dem schlanken, zähen Körper eines Läufers. Seine Haare und die Augen waren dunkel und bildeten einen scharfen Kontrast zu seiner blassen Haut. Jede Bewegung seines langen Körpers und der langen Beine war lautlos, fließend und geschmeidig wie bei einer Raubkatze, die zum Sprung auf ihr ahnungsloses Opfer bereit war. Er bewegte sich so, wie Lily sich bewegen wollte. Und er bewegte Lily.

Er bemerkte sie und kam auf sie zu. Als die Kellnerin mit den Getränken auftauchte, nahm er die Margarita vom Tablett und sah Lily an. Sie nickte. Dann bemerkte er das Schnapsglas und blickte sie wieder an. »Deins?«, fragte er.

»Nein … doch … ich …« Sie errötete. Sie stammelte wie ein Idiot. Es war Fowler, der das verursachte. »Es war ein blöder Tag. Ich dachte, ich könnte ihn vielleicht runterspülen.«

Während er die beiden Gläser auf dem Tisch absetzte, rückte er nah an sie heran und stellte sich vor Duffy. Eine Wolke seines Rasierwassers zog ihr in die Nase, ein Hauch von Limette. Seit zwei Wochen schon atmete sie den Duft ein und hatte sogar festgestellt, dass er in ihren Kleidern hing wie Zigarettengeruch, wenn man mit einem Raucher zusammenarbeitete.

»Ein Schnaps?«, sagte er und hob einen Mundwinkel zu einem Lächeln. »War die Woche wirklich so schlimm?«

»Nein, du warst wunderbar, Richard. Ich habe dir doch von der Urteilsverkündung heute erzählt, oder? Du weißt schon, der Herzallerliebste, der meint, das Leben sei so etwas wie eine Armbanduhr.«

»Du meinst den mit der Tracht Prügel? Nun, irgendwie ist es ja süß, nicht? Der Kerl könnte Komiker werden, wenn er wieder draußen ist.«

Der Angeklagte, über den sie sprachen, hatte einem Fremden im Park sechs Kugeln verpasst. Als die Polizei ihn fragte, warum er immer weitergeschossen hatte, obwohl das Opfer offensichtlich längst tot gewesen war, hatte er geantwortet: »Er hat eine Tracht Prügel eingesteckt, aber er hat trotzdem weitergetickt.«

»Das ist ja das Problem«, sagte Lily. »Jemand verübt einen Mord und ist nach wenigen Jahren zurück auf der Straße, um es gleich noch mal zu tun. Es macht mich ganz krank. Daran kann man sich einfach nicht gewöhnen, egal, wie oft man es erlebt.« Sie erblickte die Kellnerin und beugte sich zu ihrer Handtasche hinunter, um nach dem Geldbeutel zu suchen. »Lass mich einen Drink ausgeben.«

»Die Kellnerin ist weg. Das nächste Mal, wenn du darauf bestehst.«

Er war ihr so nah, dass sich ihre Hüften berührten. Lily kippte das kleine Glas Tequila auf einmal hinunter, trank einen Schluck von der Margarita hinterher und leckte sich das Salz von den Lippen. Je näher er ihr kam, desto nervöser wurde sie. Sie klang wie ein Frischling, der noch nie einen Mord verhandelt hatte.

»Erinnerst du dich an die letzte Party, auf der wir beide waren? Ich tu’s«, sagte er. »Du hast dieses weiße rückenfreie Kleid getragen, und dein Haar war offen und bedeckte deinen ganzen Rücken. Du hast umwerfend ausgesehen.«

»Die letzte Party war ein Grillfest bei Dennis O’Connor und ist mehr als fünf Jahre her. Wenn ich mich nicht täusche, trugst du Jeans und einen blauen Pullover.«

Ihre Blicke trafen sich, und er weigerte sich wegzuschauen, forschend und neugierig auf Dinge, die ihn nichts angingen. Der Tequila brannte ihr in der Kehle, und sie fühlte sich unwohl. Sie nahm das kalte Glas und presste es an ihre Wange. »Ich muss mal telefonieren. Pass bitte auf meine Aktentasche auf, okay?« Sie wandte sich zum hinteren Teil der Bar und warf ihm mit einem Lächeln über ihre Schulter zu: »Ach, und, Richard, ich habe mein Leben lang kein weißes rückenfreies Kleid besessen.«

Es gab eine Menge Dinge, die Lily nie getan hatte, und sie waren weitaus bedeutender, als auf einer Party ein rückenfreies Sommerkleid zu tragen. Eines davon war, eine Affäre zu haben. Auch wenn John ihr seit Jahren vorwarf, ihn zu betrügen, war Lily ihm immer treu geblieben, ungeachtet der Anschuldigungen und der Tatsache, dass sie keinen Sex mehr hatten.

Als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, bemerkte sie Oberstaatsanwalt Paul Butler, der auf dem Weg zum Ausgang war. Er war ein kleiner, ernster Mann Mitte fünfzig, der sich selten unter das gemeine Volk mischte. »Paul«, sagte sie, »ich habe dich gar nicht gesehen, sonst wäre ich zu dir gekommen. Vermutlich hat dir deine Sekretärin ausgerichtet, dass wir morgen eine Sitzung zum Lopez/McDonald-Fall haben.« Der Tequila hatte sie hart erwischt auf den leeren Magen. Sie zwang sich, nüchtern zu wirken und deutlich zu sprechen.

»O ja«, sagte er mit leerem Blick. »Kannst du kurz mein Gedächtnis auffrischen?«

»Doppelmord, Teenager, ein Pärchen … der Junge wurde geschlagen und nierdergeknüppelt, das Mädchen vergewaltigt und verstümmelt. Fünf Verdächtige sind in U-Haft, allesamt Hispanoamerikaner. Wahrscheinlich eine Gang.« Es war der Aufmacher in den Zeitungen gewesen, ein spektakulärer Fall, beide Opfer waren im Hochbegabtenprogramm am College gewesen. »Du hast selbst um die Sitzung gebeten, Paul. Der Fall wurde mir noch vor meiner Beförderung zugewiesen, und ich habe schon die ganze Aufarbeitung gemacht. Erinnerst du dich nicht?« Sie bemühte sich, ungezwungen zu klingen und die Tatsache herunterzuspielen, dass er in einem Fall dieser Größenordnung nicht informiert war.

Butler sah auf den Boden und hustete. »Diese Woche muss der Haushalt geplant werden, der Bürgermeister liegt mir ständig in den Ohren.«

Als er an ihr vorüberging, nahm sie seine Hand und rückte noch näher, so dass sie seine persönliche Sphäre verletzte. »Ich wollte nur sagen, wie dankbar ich dir für die Beförderung bin. Ich weiß, dass da noch andere waren, die du berücksichtigen musstest.«

Selbst im Schummerlicht der Bar konnte sie erkennen, wie er, peinlich berührt, dunkelrot anlief. Sie war ihm viel zu nah gekommen, eine schlechte Angewohnheit, die von ihrer eitlen Weigerung, außerhalb des Büros eine Brille zu tragen, herrührte. Sie sah auf seinen Kopf hinunter und bemerkte sein schütteres Haar, das ihr so noch nie aufgefallen war. Er trat zurück, als wüsste er, was sie dachte.

»Sicher, sicher«, sagte er. »Nun, dann denke ich, werden wir morgen diesen Lopez/McDonald-Fall besprechen.«

Als er sich an ihr vorbeizwängte, wurde er an sie gedrückt, an ihre Brust, ihren Busen. Der erschrockene Blick in seinen Augen brachte sie beinahe zum Lachen. Glaubte er wirklich, dass sie mit ihm flirtete? Das war absurd. Wenn sie mit irgendjemandem flirtete, dann gewiss nicht mit Butler. Sie lehnte sich an das Messinggeländer der Bar und sah ihm zu, wie er auf seinen kurzen Beinen davoneilte, und dachte darüber nach, dass sie in einer Welt lebte, in der eine ernstgemeinte Dankbarkeitsäußerung so selten war, dass sie Argwohn weckte. Vielleicht war es Butler nicht einmal bewusst, dass er sie befördert hatte. Am Ende hatte seine Sekretärin wie bei der Lotterie einfach ihren Namen aus einem Hut gezogen.

Nein, Blödsinn, das war unmöglich. Er hatte Fowler in einem Wutanfall in sein Büro gerufen und ihn degradiert und Lily nur wenige Stunden später seine Stelle angeboten. Fowler war zwar weiterhin ein Dienstvorgesetzter, doch nur mehr im Municipal Court, was einen deutlichen Abstieg bedeutete. Gerüchteweise war er wegen eines milden Urteils im Fall eines besonders grausamen Sexualverbrechens so in Rage geraten, dass er unangekündigt in die Räumlichkeiten von Richter Raymond Fisher gestürmt war, geradewegs in dessen Badezimmer, wo er den vierzigjährigen Richter dabei antraf, wie er Kokain schnupfte. Das war genau der Grund, weshalb Lily auf die Richterbank wollte. Wie Öl, das auf dem Wasser schwimmt, hatten sich ein paar der größten Schleimer an die Spitze gearbeitet und trieben dort nun, unberührbar, während ihr Schatten wuchs und alles Leben, das unter ihnen war, erstickte. Richter Fisher wurde beim Kokainschnupfen erwischt, und Fowler wurde degradiert. Eine gerechte und unbefangene Entscheidung also.

Vor den Damentoiletten entdeckte Lily das Telefon. Zumindest glaubte sie, dass es die Damentoiletten waren, auch wenn sie das afrikanische Wort an der Tür nicht entziffern konnte. Sie war viele Male hier gewesen, aber niemals hatte sie Patrón Tequila getrunken. Der Alkohol in ihrem Körper brachte den Boden zum Schwanken wie ein Schiff auf hoher See. Sie suchte nach dem Strichmännchen mit Rock und fand keines. Was soll’s, dachte sie und rumpelte durch die Tür. Beinahe wäre sie mit Carol Abrams zusammengestoßen.

»Lily«, sagte die zierliche Blondine, »herzlichen Glückwunsch zu deiner Beförderung. Das war ja ein echter Coup.«

Sie klopfte Lily mit ihren anmutigen Händen und den knallrosa Fingernägeln auf beide Schultern. Durch die Bewegung schwang ihr gerade geschnittenes, glänzendes Haar nach vorn, und Lily beobachtete fasziniert, wie es in die exakt gleiche Position zurückfiel, jedes einzelne Haar auf Linie gebracht. Als sie sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn strich, bemerkte Lily den abgeblätterten Nagellack auf ihren eigenen Fingern und ließ schnell die Hände sinken.

»Ich will nicht behaupten, dass ich mir diese Beförderung nicht auch gewünscht hätte. Nein, das bestreite ich nicht. Aber ich bin froh, dass du es bist und nicht einer dieser Idioten, die den ganzen Tag im Büro sitzen und Papierflieger basteln. Du weißt, was ich meine.«

Lily ging in eine Kabine und schloss sorgfältig die Tür hinter sich ab. Andernfalls würde Carol Abrams ihr womöglich dorthin folgen oder die Tür öffnen und das Gespräch fortsetzen, während Lily mit heruntergelassener Hose auf der Klobrille saß. Abrams war hochintelligent und unermüdlich und für jede Abteilung ein Gewinn. Vor Gericht machte sie einfach alle mürbe: die Richter, die Geschworenen, die Verteidiger.

»Ich weiß nicht, was du von Fowler hältst, aber ich muss sagen, ich bin froh, dass er weg ist. Keine Frage, er ist ein Profi, aber in letzter Zeit hat er sich einfach nicht mehr unter Kontrolle. Man kann sich doch nicht wie ein Verrückter auf einen Richter stürzen. Mein Gott, ich vermute, er leidet unter Burn-out. Weißt du, was ich meine?« Sie machte eine Pause und atmete hörbar ein, offensichtlich bereit, ihren Redefluss fortzusetzen.

»Carol, mir wäre es lieber, wenn wir morgen darüber reden.« Als sie die Spülung drückte, wurde Lily bewusst, dass sie nicht aus der Kabine wollte, bevor Abrams weg war, und sie ärgerte sich, dass sie gespült hatte. Sie hatte nicht schlecht Lust, ihr ordentlich Bescheid zu sagen, die Tür zu öffnen und ihr ins Gesicht zu sagen, dass Fowler mehr von Recht verstand, als sie es in ihrem hyperaktiven Leben jemals tun würde, aber sie konnte keine Feinde gebrauchen.

Als sie die Tür öffnete, war die Frau weg. Gott hatte sich gnädig gezeigt. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, entfernte die Klammern aus dem lockeren Dutt und bürstete sich das rote Haar. Dann zog sie ihren Lippenstift nach, wischte über den verklumpten Lidschatten und ging zum Telefon, um ihre zwölfjährige Tochter anzurufen.

»Shana, ich bin’s.«

»Augenblick, Mom, ich hab Charlotte in der Leitung.«

Lily hielt es für verrückt, dass ein Kind in diesem Alter einen eigenen Telefonanschluss, noch dazu mit Warteschleifenfunktion hatte, aber ihr Vater …

»MOM, ich bin jetzt auf der anderen Leitung.« Shana schrie übertrieben laut, so wie es die Gäste in der Jerry Springer Show taten.

Lily riss die Augen auf und hielt den Hörer vom Ohr weg. Shana wurde täglich sarkastischer. Lily konnte sich daran erinnern, wie es war, die Pubertät durchzustehen, und sie bemühte sich, es zu ignorieren und als Entwicklungsphase abzutun. »Machst du auch deine Hausaufgaben, oder telefonierst du nur, Liebes? Wo ist dein Vater?«

»Charlotte hilft mir am Telefon. Dad schläft auf dem Sofa.«

Lily sah ihn vor sich, so wie jeden Abend, das Geschirr, das sich in der Spüle stapelte, der Fernseher auf voller Lautstärke und er selbst schnarchend auf dem Sofa. Er arbeitete in der Personalabteilung der Stadtverwaltung und kam jeden Tag um halb fünf nach Hause. Vor einem Jahr war seine Arbeitszeit verkürzt worden, und nun kam er nicht nur früh nach Hause, sondern arbeitete dienstags und donnerstags gar nicht. Statt sich einen anderen Job zu suchen, um das fehlende Einkommen zu ersetzen, vertrödelte er die Zeit im Haus oder schlief vor dem Fernsehen ein. Das war einer der Gründe, warum sie immer länger im Büro blieb. Da John vor dem Fernseher fläzte und Shana jeden Abend in ihrem Zimmer hinter verschlossener Tür am Telefon verbrachte, gab es keinen zwingenden Anlass, nach Hause zu gehen. »Sag ihm, dass ich in einer Sitzung stecke und in ein paar Stunden nach Hause komme.«

»Sag’s ihm doch selbst.«

»Ich hab dich lieb«, flüsterte Lily und hörte das Telefon klicken, als Shana in die andere Leitung wechselte. Sie hatte das bezaubernde Gesicht ihrer Tochter vor Augen und versuchte, es mit dem Tonfall ihrer Stimme in Einklang zu bringen. Ihr Kind, ihr wunderbares kleines Mädchen, wurde grob und unausstehlich. Sie hatte einfach aufgelegt. Vor ein paar Jahren noch hatte Shana stundenlang vor Lilys Füßen am Boden gesessen und hatte an ihren Lippen gehangen, mit strahlendem, fröhlichem Gesicht. Jetzt redete sie mit ihr wie mit einem Hund und legte einfach auf. Hätte Lily sich ihrem Vater gegenüber so verhalten, hätte er ihr eine ordentliche Backpfeife verpasst. John aber sagte, dass diese Zeiten vorbei waren und Kinder das Recht hatten, zu widersprechen. Und Shana vergötterte ihren Vater.

Lily war schon dabei, John anzurufen, entschied sich dann aber dagegen und schloss ihre Handtasche. Sie würde sich beklagen, dass Shana telefonierte statt ihre Hausaufgaben zu machen, sie würde sich nicht bremsen können. Sie konnte nicht anders. John würde auflegen, in Shanas Zimmer marschieren und ihr sagen, dass ihre Mutter meinte, sie solle aufhören zu telefonieren. Es sei aber okay, er würde nicht petzen. Womöglich würde er noch sagen, dass ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, das Zimmer aufzuräumen. Das käme ganz bestimmt gut an. Wenn das noch nicht ausreichte, um Shana gegen sie aufzubringen, könnte er sie daran erinnern, dass Lily einmal gesagt hatte, sie würde wohl als Kellnerin enden, weil sie viel zu faul war, um es jemals aufs College zu schaffen. Es war eine dieser spontanen Bemerkungen gewesen, die ein Elternteil dem anderen gegenüber äußerte, und nicht dazu gedacht, sie vor einem Kind zu wiederholen. Doch John hatte die Bemerkung wiederholt und eine Menge anderer Dinge gesagt, die rundweg gelogen waren.

Er war ein begnadeter Manipulator, dachte Lily auf dem Weg zurück in die lärmige Bar, während sie ihren Rock geradezog und ihren Büstenhalter nach oben schob. Er hätte Stafverteidiger werden sollen. Oder, noch besser, Scheidungsanwalt.

Am Tisch fand sie eine frische Margarita, einen weiteren Tequila und Richard Fowler vor. Sie kippte den Schnaps hinunter und nahm einen Schluck von ihrer Margarita, wobei sie ihr Haar verführerisch über ein Auge fallen ließ und Fowlers Gestalt von Kopf bis Fuß in sich aufnahm. Vor ihr stand ein entschlossener Mann, ein Mann mit Überzeugungen, ein Kämpfer. Kein Mann, der im Streit ein Kind als Schutzschild missbrauchte. Fowler würde sich nicht mit einem mittelmäßigen Verwaltungsjob zufriedengeben, wenn seine Arbeitszeit auf dreißig Wochenstunden reduziert worden wäre und seine Frau die ganze Verantwortung für die Familie tragen müsste, während er in der Küche herumhantierte. Er war kein Schlappschwanz wie John.

Silversteins New Yorker Akzent klang vom Nebentisch herüber, wo er händeweise Popcorn futterte und gleichzeitig zu sprechen versuchte. Er klagte über einen Fall, während einige Körner auf seinen Kleidern und dem Boden landeten. Duffy war offenbar gegangen.

»Dein Haar sieht fantastisch aus«, sagte Richard. »Ich wusste nicht, dass es noch immer so lang ist. Bei der Arbeit trägst du es nie offen.« Er streckte seine Hand aus und berührte eine Strähne, zwirbelte sie zwischen seinen Fingern.

»Ich weiß, es wirkt nicht so professionell. Keine Ahnung, warum ich es nicht abschneide. Vermutlich will ich einfach an meiner Jugend festhalten.« Er raubte ihr den Atem. Er war ihr so nah.

Fowler zog seine Hand zurück. Lily wollte nach ihr greifen und sie wieder auf ihr Haar legen, noch einmal die Spannung spüren, seine Finger auf ihrem Gesicht, ihrer Haut. Aber der Moment war vorbei. Sie bemerkten Lawrence Bodenham, einen Rechtsanwalt, am anderen Ende der Bar. Er steuerte auf Lily zu. Der letzte Schrei unter freiberuflichen Anwälten waren lange Haare, fast bis zur Schulter. Bodenhams Haare lockten sich an den Spitzen. Er erreichte den Tisch und streckte seine Hand aus.

»Lawrence Bodenham«, sagte er. »Sie sind Lily Forrester, nicht wahr?«

»Richtig«, antwortete sie und spürte den Tequila deutlich. Sie wünschte, der Mann würde weggehen und ihr fiele etwas Intelligentes und Verführerisches ein, das sie zu Fowler sagen könnte, zumal sie vom Alkohol ungewohnt ermutigt war. Sie machte keine Anstalten, Bodenhams Hand zu schütteln, und er zog sie wieder zurück.

»Ich vertrete Daniel Duthoy in der Sache mit Paragraph zweihundertachtundachtzig, und ich habe Probleme mit Carol Abrams hinsichtlich der Beweislage.«

Der Fall war Lily nur vage bekannt, aber Richard wusste offensichtlich Genaueres und wandte sich mit angewidertem Gesicht an den Anwalt. Der Paragraph, um den es ging, betraf sexuelle Gewalt gegen Minderjährige, und das Opfer war ein zehnjähriger Junge, der Angeklagte ein angesehener, einflussreicher Mann am Ort

»Merken Sie sich das«, schnauzte Richard ihn an. »Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, Bodenham, dann besprechen Sie die einfach mit dem Richter. Warum rufen Sie nicht gleich vom Autotelefon in Ihrem Porsche aus bei Butler zu Hause an? Er liebt Typen wie Sie, die über ’ne Million im Jahr damit verdienen, dass sie anständige Leute verteidigen, die gerne mal ’nen kleinen Jungen in den Arsch ficken.«

Bevor er darauf erwiderte, trat Bodenham ein paar Schritte zurück in Sicherheit. »Ich habe gehört, dass Sie wieder dafür zuständig sind, Fälle von Alkohol am Steuer und einfachem Diebstahl an junge Staatsanwälte zu verteilen, die ihren Arsch noch nicht von einem Loch im Boden unterscheiden können. Echter Karrieresprung, Fowler.« Sobald seine Worte verklungen waren, drehte der Anwalt sich um und verschwand in der Menge.

Richard stieß sich vom Tisch ab und schlug mit der Hand darauf. »Damit ist der Abend gelaufen. Wir sehen uns, Mädchen.«

Lily hielt ihn an seiner Jacke fest. »Du hast zu viel getrunken, Richard. Ich bring dich nach Hause.« Sie stand bereit, mit Handtasche und Aktenkoffer.

Es war das erste Mal an diesem Abend, dass er lächelte, breit, mit blitzenden weißen Zähnen. »Also gut. Wenn du mich retten willst, ist jetzt der richtige Augenblick. Wenn du aber glaubst, dass ich mich von einer Betrunkenen wie dir nach Hause fahren lasse, bist du übergeschnappt. Du hast mir diesen Drink nie spendiert, dafür kannst du mir jetzt einen Kaffee ausgeben.«

Kurz darauf saßen sie zwei Straßen weiter in einer Sitzecke bei Denny’s bei schwarzem Kaffee und Cheeseburgern. Sie lachten und wurden langsam wieder nüchtern. Lily aß den letzten Bissen ihres Burgers und wandte sich an Richard. »Jetzt sag mal, was genau war da mit Richter Fisher?«

»Ich habe ihn dabei ertappt, wie er Kokain geschnupft hat. Viel mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Woher aber nahm er die Unverfrorenheit, Butler zu rufen und sich zu beschweren? Machte er sich gar keine Sorgen?«

»Zum Teufel, nein, er sagte Butler nur, dass er mich niemals mehr in seiner Nähe sehen wolle.« Richard wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Ich muss allerdings zugeben, dass ich den Gang rauf- und runtergegangen bin und ein paar Leuten gesagt habe, dass sie sich beeilen sollten, wenn sie noch eine Line erstklassigen Koks abhaben wollten.«

»Was ist los mit dir?«, sagte Lily lachend. »Leidest du unter Todessehnsucht oder so? Ich dachte, du und Butler ihr versteht euch gut? Dass er dich für unfehlbar hielt? Warum hat er sich nicht hinter dich gestellt?«

»Oh, Butler ist okay. Er hat mir geglaubt. Er ist halt ein Feigling. Er meint, wenn man Schmutz aufwirbelt, werden wir alle darunter begraben. Ich glaube sogar, dass er ein schlechtes Gewissen wegen der Sache hat. Am Ende werde ich womöglich noch seinen Job übernehmen.«

Lily strich sich das Haar aus dem Gesicht. Die Kellnerin kam mit der Rechnung, und Lily schnappte sie sich und warf eine Zwanzigdollarnote auf den Tisch. »Ich weiß nicht, wie ich diesen neuen Job bewältigen werde. Ist es nicht schwer, sich in die Fälle einzuarbeiten und dann auf andere zu vertrauen, die sie verhandeln?«

»Genau darum geht es bei jeder Vorgesetztenstelle. Wenn du den Leuten nicht traust oder meinst, du musst jeden Schritt in der Abteilung überwachen, dann drehst du durch. Mecker nicht und sei kein Babysitter, Lily, sonst verfällst du in das alte Stereotyp der weiblichen Managerin.«

Lily sah in die Ferne und sann über seinen Rat nach.

Draußen in der kühlen Nachtluft stand er neben ihr. »Ich bring dich zu deinem Auto. Wo hast du geparkt?«

Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich durch die Tür ihres Bungalows gehen. Das Erste, was sie jeden Morgen sah, war der Garten. »Ich habe beim Gericht geparkt«, sagte sie und blickte geradeaus. John hatte vor etwa sechs Monaten beschlossen, den Rasensprenger neu zu installieren, und hatte den ganzen Garten umgegraben. Auf der einen Seite hatte er Rasen angelegt, aber die andere Hälfte hatte er einfach umgegraben belassen, nachdem er den Rasensprenger nicht in Gang gebracht hatte.

»Mein Auto ist bei der Bar. Ich fahr dich hin«, sagte Richard. »Du solltest nachts nicht allein herumlaufen.«

»Danke.« Am Wochenende saß John auf einem Liegestuhl auf der Rasenseite und sonnte sich, als ob der Erdhaufen neben ihm gar nicht existierte. Egal, wie oft sie ihm sagte, dass es sie störte und wie lächerlich es aussah, er machte keine Anstalten, etwas daran zu ändern. Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte nicht diejenige sein, die alle Entscheidungen traf, die Zuchtmeisterin, die Starke. Sie wollte lachen und sich vergnügen, wollte sich attraktiv und begehrenswert fühlen. Sie wünschte sich, dass ein Geburtstag ein Anlass zum Feiern war.

Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Sie würde sich mit dem Augenblick begnügen müssen. Bald wäre er vorüber, und sie würde zu Hause im Bett neben John liegen. Nach all den Jahren der Enthaltsamkeit und Johns Anschuldigungen, dass sie ihn betrog, wünschte sie sich zum ersten Mal, dass es stimmte. Und es konnte niemand anderes als der Mann neben ihr sein, der Mann, den sie in ihren Träumen herbeirief. Doch er war verheiratet, und es gab keinen Grund, zu glauben, dass er sich körperlich zu ihr hingezogen fühlte. Wenn John kein Interesse mehr an ihr hatte, warum sollte es ein anderer Mann haben? Sie war nicht mehr begehrenswert. Sie musste sich damit abfinden. So wie sie sich mit allem anderen in ihrem Leben abgefunden hatte.

Er öffnete die Beifahrertür seines weißen BMW und warf ein Bündel, das aussah wie seine Sportsachen, auf den Rücksitz. Als er auf dem Fahrersitz saß, steckte er den Schlüssel in die Zündung, ließ seine Hände in den Schoß fallen und drehte sich zu ihr. Er beugte sich hinüber, küsste sie direkt auf den Mund und vergrub seine Hände in ihrem dichten Haar. Seine Bartstoppeln kratzten ihre empfindliche Haut, aber sie bemerkte es nicht.

»Komm mit zu mir«, flüsterte er. »Bitte, ich will dich.«

»Aber …« Lily dachte an seine Frau und seinen Sohn im Teenageralter, daran, dass sie selbst nach Hause musste, dass sie es jetzt vielleicht wollte, aber später bereuen würde. Seine Lippen wanderten in ihren Nacken und bissen sie zärtlich in ihr Ohr. Seine Hände pressten sie an seinen Körper.

Eine warme Welle überflutete sie, und sie drückte sich enger an ihn. Jeder einzelne Nerv ihres Körpers war lebendig. Alles wurde hinweggespült: der Job, John, Shana, ihr Geburtstag, ihre Erziehung, ihre Umsicht.

»Bitte«, sagte er und hob ihr Kinn an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. »Es ist niemand da, wenn es das ist, woran du denkst. Und es wird heute Nacht auch niemand nach Hause kommen.« Er nahm ihre Hand und legte sie auf seine Erektion. Sie ließ sie dort liegen, während er sie wieder küsste.

Sie war eine normale Frau mit normalen Bedürfnissen. Richard würde sie nicht als Abfalleimer missbrauchen, wie John es ausdrückte. Richard würde sie wieder instand setzen, er war der Heiler, der Magier. Er würde sie unter Strom setzen und das Licht einschalten. Sie war nicht zerbrochen. Sie war einfach nur aus dem Verkehr gezogen worden.

»Fahr«, sagte sie, »und zwar schnell. Fahr schnell.«

Eine Stunde später standen sie vor dem Spiegelglasfenster in seinem Wohnzimmer und blickten hinaus auf die Lichter von Ventura. Er war nackt, sie war in ein großes Badetuch gewickelt. Das Haus befand sich in den Ausläufern der Berge, war modern und hatte hohe Decken und eine freie, luftige Atmosphäre. Ihr Blazer, ihre Schuhe, ihr Büstenhalter und die Strumpfhose waren im Zimmer verstreut. Sie hatten es nicht bis ins Schlafzimmer geschafft.

Kaum dass sie im Haus gewesen waren, hatte sie sich ausgezogen, fast noch schneller als er, und sie waren einander dicht gegenübergestanden, die Arme an der Seite.

»Ich habe gewusst, dass dein Körper so aussehen würde«, sagte er.

»Wie sieht er denn aus?«

»Sinnlich. Er sieht aus wie ein Berg Erdbeerjoghurt. Ich möchte ihn schmecken.«

Sie liebten sich auf dem Sofa, das zu kurz war, so dass die Füße an einem Ende überstanden, ein Knäuel von Armen und Beinen. Es war das einzige Möbelstück im Raum. Mit seinen langen, sehnigen Armen drückte er ihren Oberkörper nach unten und vergrub sein Gesicht zwischen ihren Beinen. Er verharrte dort, auch als sie schon aufbegehrte und stöhnte und »nein, nein, nein« rief.

Schließlich ertrug sie es nicht länger und zog ihn an den Haaren zu sich. Sie zwang ihn, die Plätze zu tauschen, und während ihr Haar auf seinem muskulösen Bauch lag, nahm sie ihn in den Mund, gierig danach, ihn zu schmecken, zu riechen, zu spüren. »Oh, mein Gott«, rief er. »O Gott.«

Sie kroch hinauf und setzte sich rittlings auf ihn, auf ihre Arme gestützt, warf ihre Haare nach hinten, um sich hinunterzubeugen und ihn zu küssen, dann richtete sie sich wieder auf und ritt ihn wie einen Hengst. Es war wie in ihren kühnsten Träumen. Ihre Fantasien waren wahr geworden. Sie stellte sich vor, sie säße auf einem weißen Pferd und galoppiere über riesige Hürden und Flüsse, dem hellen Licht der Lust entgegen. Als sie es erreichte, sackte sie auf seine Brust, schwitzend und befriedigt. Er rollte sie auf den Boden und drehte sie auf den Bauch, dann nahm er sie von hinten, hielt ihre Pobacken fest in den Händen und stieß in sie hinein, bis er explodierte und auf sie herabfiel, sein warmer, heftiger Atem an ihrem Ohr.

»Himmel«, sagte er, »hab ich dir weh getan?«

»Kaum«, antwortete sie. »Und ich dir?«

Er hob ihr feuchtes Haar an und küsste sie zärtlich in den Nacken. »Das kann man nicht wirklich Schmerz nennen.«

Plötzlich genierte sie sich, und sie löste sich aus seinem Griff, setzte sich mit angezogenen Knien auf und schlang die Arme um ihre Beine. Schon zuckten die ersten Schuldgefühle in ihrer Magengrube, doch ein kurzer Blick auf Richard vertrieb sie schnell wieder. Zu guter Letzt also hatte sie Johns Anschuldigungen und Verdächtigungen wahr gemacht. Und es war so einfach gewesen, viel zu einfach. Vor allem aber war es so schön gewesen, dass sie mehr davon wollte. Ihr Körper schrie ihr entgegen, flehte sie an, forderte mehr. Vielleicht konnte sie tatsächlich dieses Begehren, dieses Bedürfnis spüren. Vielleicht würde sie Richard begehren, bis er anfing, sie zu ignorieren und sie enttäuschte, bis es ihm einerlei war, ob sie allein durch die Nacht spazierte oder nicht. So musste es sich anfühlen, wenn sich zwei Menschen auf Augenhöhe begegneten, wenn sie ihre Überzeugungen teilten. Sie ließ ihren Blick gespielt schüchtern sinken, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihr Verhalten war unanständig, schamlos, aufregend. Überall auf der Welt gab es Menschen, die sich so gut fühlten, immer, zu jedem Augenblick. Es war kein Verbrechen, das mit Todesstrafe geahndet wurde, wenn man sich scheiden ließ. Sie konnte es wieder erleben.

Sie duschten gemeinsam. Als sie durch das Schlafzimmer kam, sah sie das ungemachte Bett. Überall waren Kleider und Zeitungen verstreut, und auf den Tischen standen Gläser ohne Untersetzer. In der Dusche seiften sie gegenseitig ihre Körper ein. Er schüttete eine halbe Flasche Shampoo auf ihren Kopf, und es lief ihr in die Augen. »Gib mir ein Handtuch«, sagte sie lachend und lauschte dem fröhlichen Klang ihrer Stimme, der von den Fliesen zurückgeworfen wurde, überrascht, dass sie die Urheberin war. »Du hast mich geblendet.« Sie nahm das kleine, abgenutzte Seifenstück und drehte ihn um, um ihn damit zwischen seinen muskulösen Pobacken zu reiben, so wie sie es bei Shana gemacht hatte, als sie noch ein Baby war. Er sprang auf und sagte ihr, sie solle aufhören, doch sie wusste, dass er es genoss. Als sie aus der Dusche draußen waren, bestand er darauf, ihr Schamhaar zu kämmen, damit etwas davon am Morgen da sein würde. Sie konnte kaum glauben, dass sie es zuließ. Es kitzelte sie. Er machte eine Bemerkung darüber, dass sie ein echter Rotschopf sei, und sie nahm eine seiner Brustwarzen und zwickte sie. »Weil du an mir gezweifelt hast«, vor allem aber, weil sie es einfach tun wollte, schon immer so etwas hatte tun wollen. Er gab ihr das einzige saubere Handtuch und ging dann nackt, eine Tropfenspur auf dem Teppich hinterlassend, ins Wohnzimmer, wo sie nun standen und sich unterhielten.

Er stellte sich hinter sie und legte seine Arme um sie. »Möchtest du etwas trinken? Ich habe keinen Tequila, aber irgendwas anderes werde ich auch auftreiben.«

Ihr Kopf schmerzte allein bei dem Gedanken an Tequila. »Nein danke, ich muss ohnehin gehen, bald, das weißt du.« Sie vermutete, dass seine Frau nicht mehr bei ihm wohnte. Sie hoffte so sehr, dass es stimmte, dass sie nicht zu fragen wagte. »Ich tu das nur ungern, aber dir ist klar, dass du mich zurück in die Stadt zu meinem Auto fahren musst?«

»Es macht mir nichts aus, Lily«, sagte er, und in seiner Stimme waren die ersten Anzeichen der abflauenden Euphorie zu hören. »Aber müssen wir es so schnell beenden? Können wir nicht noch eine Minute so bleiben und den Augenblick genießen?« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Das hier war weit mehr als schneller Sex unter Kollegen, das weißt du.«

Sie seufzte tief. »Ich weiß.«

Lily hob ihre Kleider vom Boden auf und zog sich an. Sie wandte sich von ihm ab, als sie ihren Büstenhalter vorn einhakte und herumdrehte und dann ihre Brüste zurechtrückte. Sie zog zuerst ihre Bluse an und dann den Slip. Es war ein einfacher, weißer und bequemer Slip, und sie genierte sich, dass es keiner mit Spitze war.

Er sah immer noch auf die Stadt hinaus, als er zu sprechen begann. »Meine Frau hat mich wegen jemand anderem verlassen. Als ich bei der Arbeit war, ist sie mit dem Umzugswagen gekommen und hat fast alle Möbel mitgenommen.«

»Das tut mir leid, Richard. Hast du sie geliebt?«

»Natürlich habe ich sie geliebt. Wir haben siebzehn Jahre lang zusammengelebt. Ich weiß noch nicht einmal, wo sie jetzt ist. Sie ist hier irgendwo in der Stadt, will aber nicht, dass ich weiß, wo. Unser Sohn ist bei ihr.«

»Kennst du den Mann?«, hakte Lily neugierig nach und fragte sich, wie es sein konnte, dass sie sich so sehr nach diesem Mann sehnte und eine andere Frau ihn nach siebzehn Jahren nicht mehr wollte.

»Es ist kein Mann, Lily. Sie hat mich wegen einer Frau verlassen.«

»Wie geht dein Sohn damit um?«

»Greg weiß es nicht, und ich würde es ihm niemals sagen. Er glaubt, sie ist einfach nur eine Mitbewohnerin.« Sein Gesicht lag im Schatten. Er hatte sich Lily zugewandt, drehte sich aber bald wieder zum Fenster um. »Zumindest glaube ich, dass er nichts weiß.«

»Du würdest staunen, Rich. Kinder wissen so viel mehr, als wir ahnen. Vielleicht weiß er es und hat sich längst damit abgefunden. Immerhin lebt er bei seiner Mutter.«

»Er ist ein merkwürdiger Junge, lebt ganz in seiner eigenen Welt.« Er sah über seine Schulter zu Lily und bemerkte, dass sie fertig angezogen war. »Greg war früher im Begabtenprogramm, jetzt ist er ein Surfer. Statt zu lernen, surft er. Wenn er Glück hat, schafft er es ins Junior College. Ich habe mir immer gewünscht, dass er Anwalt wird, wir eines Tages vielleicht sogar eine gemeinsame Kanzlei hätten. Träume … es klappt nicht immer alles so, wie du es dir ausgemalt hast.«

Sie wusste, er wollte reden, aber sie musste gehen. »Können wir im Auto weiterreden? Ich würde so gerne bleiben und mich mit dir unterhalten, aber ich bin verheiratet. Keine gute Ehe« – sie machte eine Pause – »offensichtlich, sonst wäre ich nicht hier. Sie mag bald enden, wenn’s nach mir geht, aber ich will kein böses Ende. Verstehst du das?«

»Gib mir einen kurzen Moment. Ich zieh mich nur schnell an.«

Am Verwaltungszentrum lehnte sie sich an das Auto, während er sie noch einmal küsste. »Warum parkst du hier? Weißt du nicht, dass sie dich vom Gefängnis aus sehen können?«

»Ach«, erwiderte sie, schmiegte sich an ihn und biss ihn ins Ohr. »Vielleicht werde ich ja eines Tages in der Tiefgarage parken.«

»Dort, wo die Richter parken?«

»Was meinst du?«

»Ich denke, du hast gute Chancen, wenn du das willst. Weißt du eigentlich, dass ich dich als Nachfolgerin vorgeschlagen habe?«

Sie hatte es nicht gewusst, und es freute sie. »Danke. Und das war vor heute Abend.« Sie lächelte und sperrte ihren Honda auf. Sie ließ den Wagen an, winkte und streckte noch einmal den Kopf aus dem Fenster. »Fortsetzung folgt, hoffe ich?«

»Klar«, erwiderte er. »Fortsetzung folgt.«