Kapitel 42

Mike schaute hoch, und genau in dem Moment hechtete eine dunkle Gestalt auf ihn zu.

Bei der Wucht des Aufpralls strauchelte Mike rücklings die Stufen hinab. Sein Kopf schlug gegen das Treppengeländer, und ein harter Gegenstand prallte mit derartiger Wucht gegen seinen Brustkorb, dass er sich einmal um sich selbst drehte und schließlich mit dem Rücken auf die Treppenkanten stürzte.

Der Schmerz war ungeheuer. Mike konnte nichts sehen, spürte aber, wie er auf dem Rücken die Stufen hinabrutschte, den Kopf voraus, bis der Sand seinen Sturz abrupt abbremste und er mit schmerzhaft abgeknicktem Hals liegen blieb. Doch bevor er auch nur halbwegs zu sich kommen konnte, legte ihm jemand die Hände um den Hals und drückte zu. Mike musste unvermittelt gegen die Übelkeit ankämpfen. Es fiel ihm schwer, auch nur ein Auge zu öffnen. Als es ihm endlich gelang, blickte er in Richard Franklins Gesicht. Da durchschaute er plötzlich die ganze Situation.

Julie!, wollte er schreien. Lauf weg!

Aber es kam kein einziger Laut aus seinem Mund. Vor Sauerstoffmangel wurde ihm langsam schwindelig. Um Atem ringend, packte er instinktiv Richards Hände und versuchte sie wegzuschieben. Aber Richard ließ nicht locker.

Mike schlug wild um sich und traf Richard im Gesicht. Jede Zelle seines Körpers schrie nach Sauerstoff. Wild strampelnd, versuchte er seinen Gegner abzuschütteln, aber dieser hockte inzwischen auf ihm wie ein Stein. Und der Schmerz…

Luft! Das war der einzige Gedanke, mit dem er immer wieder die Hände nach Richards Gesicht ausstreckte, mit dem er versuchte, seine Finger in Richards Augen zu drücken. Aber Richard wich zurück, und Mike hatte keine Chance.

Da wusste er, dass er sterben würde.

Panisch griff er wieder nach Richards Händen, zog und zerrte an ihnen, fand diesmal einen Daumen und riss mit letzter Kraft daran.

Er spürte, wie etwas nachgab, aber Richard ließ dennoch nicht los. Beharrlich zerrte Mike weiter, bis sich Richards Griff löste. Sein Mund verzerrte sich vor Schmerz, und er beugte sich unwillkürlich vor.

Das genügte Mike. Strampelnd und zuckend japste er nach Luft. Dann fasste er mit der freien Hand in Richards Haare und rammte ihm die Knie in den Rücken. Richard flog über Mike weg und landete im Sand hinter ihm.

Mühsam versuchte Mike sich aufzurichten, doch Richard war als Erster wieder auf den Beinen, wirbelte jäh herum und versetzte Mike einen brutalen Tritt in die Rippen. Mike fiel auf den Rücken, dann traf ihn ein Tritt am Kopf. Der Schmerz war so stark, dass ihm Hören und Sehen verging, und abermals bekam er keine Luft mehr.

Er dachte an Julie.

Julie…

Erneut rappelte er sich auf und warf sich Richard entgegen. Spürte Richards Tritte, kämpfte sich trotzdem weiter vor. Streckte die Hände nach Richards Hals aus. Fühlte plötzlich, wie sich etwas Spitzes gegen seinen Bauch drückte. Dann knallte es dumpf.

Zuerst spürte er nichts, doch dann schien ein Feuer in seinem Bauch zu entflammen. Schmerz schoss in alle Richtungen, stieg an seinem Rückgrat hoch. Die Beine versagten ihm den Dienst, sein Körper erschlaffte, und Richard stieß ihn von sich.

Mike griff sich an den Bauch, der glitschig war von heraussickerndem Blut. Er begriff nicht, woher das Blut kam, doch als Richard aufstand, sah er die Pistole.

Richard starrte auf ihn herab, und Mike rollte sich zur Seite. muss aufstehen… auf die Beine… muss Julie warnen…

Er musste Julie retten, versuchte den Schmerz zu überwinden, einen Plan zu fassen… Da traf ihn der nächste Tritt am Kopf.

Wieder landete er auf dem Bauch. Die Hand gegen die Wunde gedrückt, schrie er: »Julie!«

Doch in Wahrheit kam nur ein schwaches Keuchen aus seinem Mund.

Immer schwindeliger… muss sie retten… muss sie beschützen…

Wieder ein Tritt gegen seinen Kopf. Dann nichts mehr.

Richard stand mit aufgerissenen Augen vor Mike, schwer atmend, von nie gekannter Energie durchpulst. Seine Hände kribbelten, seine Beine zitterten, aber seine Sinne waren so lebendig! Die Wirkung war schwindelerregend, berauschend.

Es war anders gewesen als bei Pete. Oder bei dem echten Richard Franklin. Oder sogar bei Jessica. Jessica hatte sich gewehrt, aber nicht so. Jessica war durch seine Hand gestorben, aber damals hatte sich kein Gefühl von Triumph eingestellt, von siegreicher Eroberung. Nur ein Gefühl der Enttäuschung, dass Jessica diese Reaktion heraufbeschworen hatte.

Aber diesmal empfand er Triumph, fühlte sich unschlagbar, unbezwingbar. Er verfolgte eine Mission, und die Götter waren auf seiner Seite.

Ohne den Schmerz in seinem Daumen zu beachten, machte Richard kehrt und lief den Strand entlang. Auf den Dünen links von ihm wehten Gras und Efeu, die Wellen brandeten endlos heran. Was für eine wunderschöne Nacht, dachte Richard. Schon konnte er Julies Gestalt erkennen, über ihren Hund gekauert. Aber der Hund war entweder schon tot oder würde bald sterben. Dann sind wir allein, dachte er. Keine Komplikationen mehr. Niemand, der uns trennen kann.

Er lief schneller, erregt von dem Gedanken, sie zu sehen. Julie hatte gewiss Angst, wenn sie ihn erblickte. Wahrscheinlich würde sie reagieren wie damals Jessica, als er sie an jenem Abend vor dem Supermarkt in ihrem Wagen überraschte. Er hatte versucht, sich ihr zu erklären, aber sie hatte sich gewehrt und ihm die Fingernägel in die Haut gegraben, und er hatte ihr die Hände um den Hals legen müssen, bis das Weiße ihrer Augen zu sehen war, voller Kummer hatte er dies tun müssen… voller Kummer, dass sie ihn so weit gebracht hatte, ihn aus selbstsüchtigen Gründen gezwungen hatte, ihre gemeinsame Zukunft aufzugeben.

Julie jedoch würde er so geduldig behandeln, wie sie es verdiente. Er würde behutsam mit ihr reden, und sobald sie erst mal die Art seiner Liebe zu ihr begriffen hatte, sobald sie einsah, dass er all dies nur für sie beide tat, würde sie sich fügen.

Und später in der Nacht, wenn sie endlich weit genug weg waren, würden sie in einem Motel absteigen und sich lieben, und dann hatten sie ein Leben lang Zeit, alles Versäumte nachzuholen.

»Er kommt wieder, Baby«, flüsterte Julie. »Er wird bald zurück sein, und dann fahren wir dich zum Arzt, okay?«

Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie Singer nur verschwommen. Mit jeder Minute ging es ihm schlechter. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Atem ging mühsam, begleitet von einem hohen Pfeifen. Das Zittern hatte von den Läufen inzwischen auf seinen ganzen Leib übergegriffen.

Julie fuhr ihm mit beiden Händen durchs Fell, fühlte seinen Schmerz, als sei es ihr eigener.

»Du darfst mich nicht verlassen. Bitte…«

Sie wollte gerade abermals nach Pete und Mike schreien, als ihr die Worte im Halse stecken blieben.

Zuerst mochte sie ihren Augen nicht trauen, versuchte, das Bild wegzublinzeln. Aber es war keine Täuschung.

Seine Haarfarbe war anders, er trug eine Brille und hatte den Schnauzer abrasiert, aber sie erkannte ihn auf Anhieb.

»Hallo, Julie«, sagte Richard.

Jennifer raste mit heulendem Blaulicht durch den dichter gewordenen Verkehr, schlängelte sich halsbrecherisch zwischen den Autos hindurch.

Sie blickte starr geradeaus und hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Hände schmerzten.

Zehn Minuten, dachte sie. Ich brauche nur noch zehn Minuten.

Julie starrte Richard atemlos an, und mit einem Schlag wurde ihr alles klar.

Er hat Singer etwas angetan. Er hat Pete etwas angetan. Er hat Mike etwas angetan.

O Gott…

Mike…

Und jetzt war sie an der Reihe.

Er kam langsam auf sie zu.

»Du…«

Mehr brachte sie nicht zustande.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Natürlich, schien er zu sagen, wen hast du denn sonst erwartet? Er blieb ein Stück von ihr entfernt stehen, sah sie für einen Moment an und richtete dann den Blick auf Singer.

»Die Sache mit deinem Hund tut mir Leid«, sagte er ruhig. »Ich weiß, wie viel er dir bedeutet hat.«

Es klang unbeteiligt, als trüge nicht er die Schuld an dem Elend.

Julie wurde es plötzlich speiübel, aber sie schluckte krampfhaft und bemühte sich, die Beherrschung zu wahren. Überlegte, was sie tun sollte. Versuchte zu erraten, was mit Mike passiert war.

»Wo ist Mike?«, fuhr sie Richard an und fürchtete sich doch vor der Antwort.

Richard schaute hoch. »Das ist jetzt vorbei«, stellte er sachlich fest.

Die Worte trafen Julie wie ein Schlag.

»Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Das spielt keine Rolle.«

»Was hast du getan?«, schrie sie, völlig außer Fassung.

Richard trat einen Schritt näher, seine Stimme blieb sanft. »Ich hatte keine andere Wahl, Julie. Das weißt du. Er hat dich beherrscht, und das durfte ich nicht zulassen. Aber jetzt bist du sicher. Ich werde mich um dich kümmern.«

Er kam noch einen Schritt näher, doch Julie wich jäh zurück, weg von Singer.

»Er hat dich nicht geliebt, Julie«, sagte er. »Nicht so wie ich.«

Er wird mich umbringen, dachte sie. Er hat Mike und Singer und Pete umgebracht, und jetzt bringt er mich um. Mit jedem seiner Schritte wuchs das Grauen in ihr. Sie sah es in seinen Augen, sah genau, was er vorhatte.

Er wird mich umbringen, aber erst vergewaltigt er mich…

Der Gedanke wirkte wie ein Adrenalinstoß. Eine innere Stimme schrie: Lauf!, und Julie reagierte instinktiv.

Sie stürmte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Richard versuchte nicht, sie aufzuhalten. Wo wollte sie schon hin? Irgendwann hatte sie sich verausgabt, das wusste er, und ihre Panik würde ihr den Rest geben. Also schob er die Pistole in seinen Gürtel und setzte sich in Bewegung, gerade so schnell, dass er Julie nicht aus den Augen verlor und sie einholen konnte, wenn die Zeit reif war.

Mike schwankte zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein, nahm allerdings wahr, dass er heftig blutete. Und dass Julie ihn brauchte.

Zitternd kämpfte er sich langsam auf die Beine.

Julie rannte so schnell sie konnte auf die Lichter eines Strandhauses zu, das bewohnt zu sein schien. Ihre Beine ermüdeten allmählich, und sie hatte das Gefühl, kaum noch vom Fleck zu kommen.

Nein, sagte sie sich. Nein! Er kriegt mich nicht. Ich schaffe es, und man wird mir helfen. Ich schreie um Hilfe, dann rufen die Leute die Polizei, und…

Aber ihre Beine… und ihre Lunge brannte… und ihr Herz pochte heftig…

Allein das Grauen trieb sie weiter. Hin und wieder drehte sie sich panisch um. Sah, dass Richard trotz der Finsternis stetig näher kam.

Ich schaffe es nicht, erkannte sie plötzlich.

Ist hier jemand?, wollte sie schreien. Hilfe!

Das Tosen der Wellen würde ihre Schreie verschlucken, fuhr ihr durch den Kopf.

Sie konnte seine Schritte schon hören.

Ich kann nicht mehr…

Sie lief auf die Dünen zu, in der Hoffnung, dort irgendwo ein Versteck zu finden.

Richard sah ihr Haar direkt vor sich flattern.

Gleich habe ich sie, dachte er. Da schlug sie unvermittelt einen Haken und stürmte die Dünen hinauf. Richard stolperte und wäre fast gestürzt, nahm aber die Verfolgung sogleich wieder auf. Er lachte laut.

Was für Kampfgeist! Was für Energie! Sie war ihm in jeder Hinsicht ebenbürtig. Vor Freude hätte er beinahe in die Hände geklatscht.

Hinter den Dünen sah Julie ein Haus aufragen, aber es war unendlich schwer, durch den Sand hochzusteigen. Sie rutschte ständig ab und musste mit den Händen Halt suchen, und als sie endlich oben ankam, zitterten ihre Beine schlimmer als je zuvor.

Aufgeregt fasste sie das Haus ins Auge. Es war auf Pfählen errichtet, unter denen Autos geparkt werden konnten, aber Deckung bot es kaum. Das Haus gleich nebenan besaß jedoch einen Garten mit Hecken, und sie lief darauf zu.

In dem Moment spürte sie, dass Richard ihre Füße umfing wie ein Footballspieler beim Tackling. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte.

Richard war schon wieder aufgestanden, ergriff ihren Arm und half ihr auf die Beine.

»Du bist wirklich ein Hauptgewinn«, sagte er grinsend und rang nach Atem. »Das wusste ich schon bei unserem ersten Treffen.«

Julie versuchte sich loszuwinden, merkte jedoch, wie sich seine Finger in ihren Arm graben. Sie wehrte sich noch heftiger.

»Nun hör doch auf, Julie«, sagte er. »Erkennst du denn nicht, dass es einfach so hat kommen müssen?«

Julie riss ihren Arm zurück. »Lass mich los!«, schrie sie.

Aber Richard packte sie noch fester, und sie zuckte zusammen.

»Wir machen uns jetzt besser auf den Weg«, sagte er dann.

»Mit dir gehe ich nirgendwo hin!«

Endlich gelang es ihr, sich von ihm loszureißen, aber als sie fortlaufen wollte, spürte sie einen Stoß von hinten und stürzte abermals.

Richard sah auf sie hinab und schüttelte leicht den Kopf.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. »Tut mir Leid, dass ich dir wehtun muss, aber ich möchte mit dir reden.« Reden? Er wollte reden?

Diesmal ergriff Richard sie an beiden Armen. Sie sträubte sich erneut heftig, versuchte sich aus seiner Umklammerung zu winden.

»Warum machst du es mir so schwer?«, fragte er.

Mike streckte die Hand nach der Treppe aus, kämpfte gegen die Übelkeit an, während ihm wirre Gedanken durch den Kopf schossen.

Aufstehen… die Polizei rufen… Julie helfen… aber der Schmerz… ein Schuss… Schmerz… wo bin ich… dieses ewige Donnern… wieder und wieder… Schmerz in Wellen… Wellen… das Meer… Strandhaus… Julie… muss ihr helfen…

Er machte einen Schritt.

Dann noch einen.

Julie schlug wild um sich und traf Richard an der Brust und im Gesicht. Er zerrte an ihren Haaren, und sie schrie auf.

»Warum wehrst du dich gegen mich?«, fragte Richard abermals mit rahiger Stimme, als hätte er es mit einem widerspenstigen Kind zu tun. »Begreifst du nicht, dass es vorbei ist? Jetzt gibt es nur noch uns beide. Du hast keinen Grund, dich so aufzuführen.«

»Lass mich los!«, schrie sie. »Bleib mir vom Leib!«

»Stell dir doch mal vor, was wir alles zusammen tun können«, sagte er. »Wir sind vom gleichen Schlag. Wir sind Überlebenskünstler.«

»Wir tun gar nichts zusammen!«, schrie sie. »Ich hasse dich!«

Brutal riss er wieder an ihrem Haar, und sie stürzte mit einem Schmerzensschrei auf die Knie. »Sag das nicht.«

»Ich hasse dich!«, kreischte sie noch einmal.

»Ich weiß, dass du durcheinander bist, und ich will dir eigentlich nicht wehtun, Jessica, aber…«, begann er leise und drohend.

»Ich bin nicht Jessica!«, schrie Julie.

Auf halber Höhe der Treppe stürzte Mike auf die Knie, schleppte sich kurz darauf aber weiter. Die eine Hand an den Bauch gedrückt, langte er mit der anderen nach dem Geländer und zog sich daran hoch.

Auf der Veranda entdeckte er Pete, der mit dem Gesicht nach unten dalag, eine Blutlache um den Kopf.

Mike wankte auf die Tür zu und dachte nur daran, was er zu tun hatte.

Richard starrte Julie verdutzt an, als verstehe er sie nicht. »Was hast du gesagt?«

»Ich bin nicht Jessica!«, schrie sie abermals.

Richard griff mit der freien Hand hinter sich, und gleich darauf sah sie die Pistole.

Mike legte die Hand an den Türknauf.

Das Telefon, dachte er. Ich muss ans Telefon, bevor es zu spät ist.

In dem Moment hörte er, wie etwas durch die Haustür krachte. Er hob den Blick und spürte kurz darauf jähe Erleichterung.

»Julie braucht Hilfe«, krächzte er. »Unten am Strand…«

Jennifer sah Mike erschrocken an, hastete sofort zu ihm und half ihm zum Sessel. Dann schnappte sie sich das Telefon und wählte den Notruf. Als der Rufton erklang, reichte sie Mike den Hörer.

»Fordern Sie einen Krankenwagen an!«, sagte sie. »Schaffen Sie das?«

Mike nickte und hob schwer atmend den Hörer ans Ohr. »Pete… draußen…«

Jennifer stürmte auf die Veranda und dachte im ersten Moment, Pete sei tot. Blut sickerte aus seinem Kopf, aber als sie sich zu ihm hinabbeugte, bewegte er den Arm und stöhnte laut.

»Bleiben Sie ruhig liegen. Alles wird gut«, sagte sie. »Der Krankenwagen kommt gleich.«

Dann rannte sie die Treppe hinab.

Richard hielt Julie die Pistole an die Schläfe, und sie erstarrte. Sein Blick war jetzt irr, er schien jeden Sinn für die Realität verloren zu haben.

»Ich liebe dich«, wiederholte er, und sein Atem kam abgehackt. »Ich habe dich immer schon geliebt.«

Nicht bewegen, dachte sie. Sonst bringt er dich um.

»Aber du gibst mir keine Chance, es dir zu beweisen.«

Er zog ihre Haare nach unten, um ihr Ohr näher an seinen Mund zu bringen.

»Sag es. Sag, dass du mich liebst.«

Julie erwiderte nichts.

»Sag es!«, brüllte er so laut, dass Julie zusammenfuhr. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrer Wange.

»Ich habe dir eine Chance gegeben, ich habe dir sogar verziehen, was du mir angetan hast! Wozu du mich gezwungen hast. Also sag es!«

Die Furcht war nun überall – in ihrer Brust, im Hals, in allen Gliedmaßen.

»Ich liebe dich«, wimmerte sie, den Tränen nahe.

»Sag es so laut, dass ich es hören kann! Und mit Überzeugung!«

Sie brach in Tränen aus. »Ich liebe dich.«

»Noch einmal!«

Sie weinte heftiger. »Ich liebe dich.«

»Sag, dass du mit mir gehen wirst.«

»Ich werde mit dir gehen.«

»Weil du mich liebst.«

»Weil ich dich liebe.«

In diesem schrecklichen Moment sah Julie wie in einem Traum eine Vision am Dünenkamm auftauchen – ihren Schutzengel, der durch die Dunkelheit näher kam.

Die Vision nahm Gestalt an. Singer stürzte sich wild knurrend auf Richard und schlug ihm die Kiefer in den Arm, der die Pistole hielt.

Singer ließ nicht los, und Julie und Richard fielen beide zu Boden. Richard versuchte verzweifelt, seinen Arm zu befreien, doch Singer zerrte daran, warf den Kopf hin und her. Da brüllte Richard auf und ließ die Pistole los.

Mit verzerrtem Gesicht und großer Anstrengung hielt Richard Singer mit einer Hand auf Distanz und tastete mit der anderen nach der Waffe.

Julie kämpfte sich so schnell es ging hoch.

Richards Finger schlossen sich um den Pistolengriff. Als Julie hörte, wie die Pistole abgefeuert wurde, verharrte sie abrupt. Singer ließ ein lang gezogenes Jaulen vernehmen.

»Singer!«, schrie Julie. »O Gott… nein!«

Noch ein Schuss, gefolgt von weiterem, schon viel schwächerem Jaulen. Richard stieß Singers Körper von sich und stand auf.

Julie begann unkontrolliert zu zittern.

Singer lag auf der Seite und versuchte vergeblich, sich aufzurichten. Er knurrte und jaulte zugleich. Blut schoss aus einer Wunde in seiner Flanke.

Aus der Ferne ließen sich Sirenen vernehmen.

»Wir müssen jetzt los«, sagte Richard. »Wir haben keine Zeit mehr.«

Aber Julie starrte reglos auf Singer.

»Komm schon!«, brüllte Richard. Er packte sie wieder am Haar und zerrte. Julie wehrte sich, trat nach ihm und schrie. Da ertönte von der Düne herab ein Ruf.

»Keine Bewegung!«

Richard und Julie sahen Officer Jennifer Romanello zur selben Zeit. Richard richtete die Pistole auf sie und feuerte wild drauflos. Im nächsten Moment entrang sich ihm ein erstickter Seufzer. Ein scharfer Schmerz brannte in seiner Brust, in seinen Ohren dröhnte es laut. Die Waffe in seiner Hand schien auf einmal viel zu schwer zu sein. Er feuerte noch einmal, verfehlte sein Ziel und spürte ein neues Brennen im Hals, bei dessen Heftigkeit er rückwärts taumelte. Er hörte das Gurgeln, mit dem er um Atem rang. Er konnte nicht schlucken, die klebrige Flüssigkeit in seinem Hals machte es unmöglich. Er wollte sie der Polizistin entgegenspucken, aber seine Kräfte schwanden rasch. Die Pistole glitt ihm aus der Hand, er ging in die Knie, sein Geist erlahmte. Er hatte Julie immer nur Glück gewünscht, ihr gemeinsames Glück. Um ihn her versank alles zunehmend in Dunkelheit. Er wandte sich zu Julie um und versuchte zu sprechen, aber sein Mund vermochte die Worte nicht zu formen.

Julie, dachte er, meine süße Jessica…

Richard kippte vornüber in den Sand.

Julie starrte ihn nur kurz an und drehte sich dann zu Singer um.

Er lag immer noch auf der Seite, das Maul schlaff geöffnet, und hechelte wild. Julie kniete sich neben ihn und sah ihn mit tränenblinden Augen an.

Als sie ihm die Hand hinhielt, wimmerte er und fuhr mit der Zunge darüber.

»Oh, Baby«, schluchzte sie.

Zitternd bettete Julie seinen Kopf in ihren Schoß, und Singer wimmerte erneut. Seine Augen waren groß und blickten ängstlich. Es brach ihr fast das Herz.

»Nicht bewegen… ich bringe dich zum Tierarzt, okay?«

Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, rasch und flach. Er leckte sie noch einmal, und sie küsste ihn.

»Du bist so brav, Süßer! Wie tapfer du warst… wie tapfer…«

Sein Blick ruhte auf ihr. Als er abermals herzzerreißend wimmerte, musste Julie einen Aufschrei unterdrücken.

»Ich liebe dich, Singer«, murmelte sie, während die Muskeln in seinem Leib sich langsam entspannten. »Es ist alles gut, Herzchen. Du musst nicht mehr kämpfen. Ich bin jetzt in Sicherheit, schlafe nur…«