Kapitel 9

Was für ein Wochenende!, dachte Julie. Richard könnte Bob wahrlich ein paar Tipps geben, wie man einer Frau imponierte. Ach was, Richard könnte Seminare über das Thema abhalten!

Sonntagmorgen stand sie vor dem Spiegel und konnte es immer noch kaum fassen. Solch ein Wochenende hatte sie nicht mehr erlebt seit… also, sie hatte noch nie so ein Wochenende erlebt. Im Theater war es einfach hinreißend gewesen: Paare in Abendgarderobe, die vor Beginn der Vorstellung im Hof Wein schlürften, das jäh verstummende Publikum, als nach und nach das Licht erlosch, die ersten brausenden Akkorde des Orchesters, bei denen Julie kurz zusammenzuckte. Wie romantisch und tragisch die Geschichte gewesen war! Und dann die virtuose Darbietung der Sänger und die Lieder, die mitunter so ergreifend waren, dass Julie die Tränen kamen. Und die Farben! Die Requisiten und die bunten Kostüme, die funkelnden Scheinwerfer und die unheimlichen Schatten – all dies zusammen hatte auf der Bühne eine Welt erschaffen, die ebenso seltsam unwirklich wie sprühend lebendig schien.

Der ganze Abend hatte etwas von einem Märchen gehabt, fand Julie. Alles war ganz neu für sie, und ein paar Stunden lang hatte sie das Gefühl, als wäre sie plötzlich in ein anderes Universum geraten, in dem sie nicht mehr eine einfache Friseurin in einem kleinen Südstaatenstädtchen war, nicht mehr eine junge Frau, deren Höhepunkt der Woche normalerweise in so etwas Alltäglichem wie dem Beseitigen eines hartnäckigen Schmutzrandes in der Wanne bestand. Nein, dies war eine andere Welt, eine Welt, in der die Menschen abends ins Theater gingen und morgens die Aktienkurse in der Zeitung studierten, während die Nanny die Kinder für die Schule fertig machte.

Als Julie und Richard nach der Aufführung ins Freie traten, hätte es sie nicht verwundert, zwei Monde am Abendhimmel stehen zu sehen.

Auf dem Heimweg in der Limousine atmete Julie den Moschusgeruch von Leder ein, während Champagnerbläschen ihre Nase kitzelten, und sie dachte: So also lebt man in besseren Kreisen. Ich kann gut verstehen, dass man sich schnell an so etwas gewöhnt.

Auch der nächste Tag war eine Überraschung, vor allem, weil er einen so krassen Gegensatz zum Vorabend bildete: eine Heißluftballonfahrt statt der Atmosphäre im Theater, ein Spaziergang durch fröhlich belebte Straßen statt der Fahrt in einer Limousine, ein Picknick am Strand statt eines Abendessens im Restaurant. Obwohl die Ballonfahrt Julie Spaß machte, gefiel ihr von allem, was sie unternahmen, das Picknick am besten. Es entsprach einfach am meisten dem, woran sie gewöhnt war. Sie hatte in ihrem Leben schon oft gepicknickt – Jim tat es stets mit Vergnügen –, und für ein Weilchen fühlte sich Julie ganz wie immer. Dieses Gefühl war allerdings nicht von Dauer. Im Picknickkorb befanden sich eine Flasche Merlot und eine Platte mit Käse und Obst, und nachdem sie gegessen hatten, bot Richard ihr eine Fußmassage an. Sie hatte zunächst gelacht und abgelehnt, aber als er sanft nach ihrem Fuß griff, die Sandale abstreifte und seine Massage begann, fügte sie sich drein und malte sich aus, dass Kleopatra sich ganz ähnlich gefühlt haben musste, während sie sich unter sachte schwankenden Palmen entspannte.

Sonderbarerweise kam ihr in dem Moment ihre Mutter in den Sinn.

Obwohl sie längst entschieden hatte, dass ihre Mutter weder als Mutter noch als Vorbild etwas taugte, fiel ihr unwillkürlich eine Bemerkung ein, die ihre Mutter einmal gemacht hatte, als Julie fragte, warum sie ihrem jüngsten Liebhaber den Laufpass gegeben hatte.

»Er war einfach nicht mein Fall«, hatte ihre Mutter sachlich erklärt. »So ist das eben manchmal.«

Julie war damals acht und nickte, ohne recht zu verstehen.

Jahre später begriff sie dann, was ihre Mutter gemeint hatte, und als sie nun Richard ansah, der ihren Fuß in den Händen hielt, fiel ihr die Bemerkung wieder ein.

War Richard ihr Fall?, fragte sie sich, als sie wieder zu Hause war.

Eigentlich durfte dies keine Frage sein, das wusste sie. Weiß Gott, jemanden, der mehr hermachte, würde sie wohl kaum finden, jedenfalls nicht in Swansboro. Als Heiratskandidat schien er geradezu ideal zu sein. Und doch: Nach vier Verabredungen und etlichen gemeinsam verbrachten Stunden ging Julie jäh auf, dass Richard nicht ihr Fall war. Bei dieser Erkenntnis war ihr, als versinke sie in einem tiefen See, doch es ließ sich nicht bestreiten: Die Chemie zwischen ihnen beiden stimmte nicht. Sie fühlte einfach nicht dieses leise Kribbeln im Bauch wie damals, als Jim das erste Mal ihre Hand nahm. Sie verspürte nicht den Wunsch, die Augen zu schließen und von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen, und sie wusste mit Bestimmtheit, dass sie am Tag nach einer Verabredung mit ihm nicht auf Wolken romantischer Benommenheit schwebte. Sicher, er gab sich ungeheure Mühe; doch so sehr sie es sich auch wünschte, empfand sie nicht wirklich etwas für ihn. Er war einfach ein netter Kerl… und eine andere Frau würde bestimmt glücklich mit ihm werden.

Wie ihre Mutter gesagt hatte: Manchmal passte es eben nicht.

Vielleicht bestand das Problem ja auch darin, dass alles so plötzlich kam. Womöglich brauchten sie einfach etwas mehr Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen. Schließlich hatte auch ihre Beziehung mit Jim sich erst allmählich entwickelt. Nach einigen weiteren Treffen würde sie sich vielleicht schon wundern, warum sie so zögerlich gewesen war. Oder?

Versonnen bürstete sich Julie vor dem Spiegel das Haar. Dann legte sie die Bürste hin und dachte: Ja, das wird es sein. Wir müssen uns nur etwas besser kennen lernen. Jedes Mal wenn die Vergangenheit zur Sprache gekommen war, war es ihr irgendwie gelungen, abzulenken. Sie hatte nicht erwähnt, wie schwierig das Verhältnis zu ihrer Mutter gewesen war, wie verstörend es gewesen war, zu jeder Tages- und Nachtzeit Männer im Haus ein und aus gehen zu sehen, wie verlassen sie sich gefühlt hatte, als sie noch vor dem Highschool-Abschluss von zu Hause ausgezogen war. Oder wie sehr sie sich gefürchtet hatte, als sie keine feste Unterkunft hatte. Oder wie es sich angefühlt hatte, als Jim starb, als sie nicht wusste, ob sie je die Kraft finden würde, weiterzuleben. Das waren schwere Erinnerungen, die stets einen bitteren Nachgeschmack hinterließen, wenn Julie darüber sprach. Manchmal war sie versucht, Richard davon zu erzählen, damit er erfuhr, wer sie wirklich war.

Aber sie ließ es bleiben. Aus irgendeinem Grund war sie nicht dazu imstande. Und er erzählte ihr auch nicht viel von sich, fiel ihr auf. Auch er hatte eine Art, Gesprächen über die Vergangenheit auszuweichen.

Aber wäre das nicht letzten Endes das Wichtigste gewesen? Die Fähigkeit, zu kommunizieren, sich zu öffnen, Vertrauen zu haben? Bei ihr und Jim hatte es funktioniert.

Das Läuten des Telefons riss Julie aus ihren Gedanken. Singer folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie den Hörer abnahm.

»Hallo?«

»Na, wie war’s?«, fragte Emma unverblümt. »Ich will alles erfahren. Und lass nur ja nichts aus.«

»Eine Fußmassage?«, fragte Mike ungläubig. Dieses Detail hatte er bisher noch nirgends aufgeschnappt.

»Das hat sie Emma gestern erzählt.«

»Wieso denn eine Fußmassage?«

Mike schob die Hände in die Taschen. Ein gequälter Ausdruck trat in sein Gesicht.

Henry beugte sich vor. »Hör mal, tut mir Leid, noch einen draufsetzen zu müssen, aber Benny hat angerufen. Er will heute vorbeikommen.«

Mike zuckte merklich zusammen. Ach du Schreck, dachte er, Benny.

Das versprach ja wirklich ein grandioser Tag zu werden.

»Und Blansen braucht seinen LKW ganz schnell«, fuhr Henry fort. »Du kümmerst dich darum, ja? Ist Bestandteil des Vertrags, den ich mit den Brückenleuten ausgehandelt habe, es ist also wichtig.«

»Ja, ich mach ihn fertig.«

Andrea wollte es einfach nicht glauben. Von der ganzen Geschichte wurde ihr förmlich speiübel, vor allem angesichts Julies unbekümmerter Haltung zu all dem. Eine Limousine? Champagner? Phantom der Oper? Eine Fahrt im Heißluftballon? Ein Picknick am Strand?

Andrea mochte es nicht hören. Sie wollte es nicht mal zufällig mitbekommen, was allerdings in solch einem kleinen Laden unmöglich war.

Sie hatte ein nicht annähernd so interessantes Wochenende gehabt wie Julie. Nein, ihr Wochenende war genau wie alle anderen in letzter Zeit gewesen. Freitagabend war sie im Clipper, wo sie ein weiteres Mal Cobras Annäherungsversuche abzuwehren hatte. Sie hatte gehofft, ihm aus dem Weg gehen zu können, aber er hatte sie gleich entdeckt und den ganzen Abend an ihr geklebt wie eine Schmeißfliege an einem Stück Aas. Und Samstag? Da hatte sie stundenlang damit zu tun, die blöden künstlichen Fingernägel auszubessern. Was sagst du zu so einem Wochenende, Schätzchen?, hätte sie am liebsten gerufen. Jede Wette, da wirst du doch gelb vor Neid, was?

Aber natürlich hatte sich nicht einmal jemand nach ihrem Wochenende erkundigt. Nein, Mabel und Julie interessierte nur, was Julie so trieb. Wie ging es dann weiter? Da warst du doch bestimmt überrascht, hm? Klingt wundervoll. Julie, Julie, Julie. Alles drehte sich immer nur um Julie, die achselzuckend Auskunft gab, als sei das alles keine große Sache.

Andrea saß in der Ecke und feilte ihre Nägel wie eine menschliche Schleifmaschine. Wir unfair das alles war!

Richard trat durch die Salontür und hielt sie für Julies Kundin auf, die gerade hinauswollte.

»Oh, Richard«, sagte Julie. »Gutes Timing. Bin gerade fertig.«

Obwohl sie ihre Gefühle immer noch nicht endgültig durchschaute, freute sie sich über sein Kommen – wenn auch nur, um zu prüfen, was sie bei seinem Anblick empfand.

»Wunderschön siehst du aus«, sagte er und beugte sich vor, um sie zu küssen.

Ihre Lippen trafen sich nur ganz kurz, aber Julie konnte nicht umhin, den Kuss sofort zu analysieren. Kein Feuerwerk, dachte sie, aber auch nicht widerlich. Ein ganz normaler Kuss.

Wenn ich so weitermache, dachte sie sofort, werde ich am Ende noch so verrückt wie meine Mutter.

»Hast du ein paar Minuten Zeit, für eine Tasse Kaffee?«, fragte Richard.

Mabel war zur Bank gegangen. Andrea blätterte in der Ecke im National Enquirer – »Zeitung lesen« nannte sie es –, aber Julie wusste, dass sie lauschte.

»Ja«, sagte Julie. »Meine nächste Kundin kommt erst in einer halben Stunde.«

Während sie sprach, senkte Richard den Blick auf ihr Dekollete.

»Wo ist denn das Medaillon?«, fragte er.

Unwillkürlich fuhr sich Julie mit der Hand an die Brust. »Oh – das habe ich heute nicht angelegt. Es hat sich beim Arbeiten laufend in meiner Kleidung verhakt…«

»Warum hast du’s nicht einfach in die Bluse gesteckt?«

»Hab ich versucht, aber es ist immer wieder rausgerutscht.«

Sie machte einen Schritt auf die Tür zu. »Komm«, sagte sie. »Lass uns gehen. Ich war den ganzen Vormittag noch nicht draußen.«

»Soll ich dir eine kürzere Kette besorgen?«

»Ach, Unsinn. Es ist gut so, wie es ist.«

»Aber du trägst es nicht«, beharrte er.

Julie antwortete nicht, und während sie beide einen Augenblick lang schwiegen, betrachtete sie ihn aufmerksam. Obwohl er lächelte, wirkte seine Miene irgendwie künstlich.

»Stört es dich so sehr, dass ich es nicht trage?«, fragte sie.

»Ich dachte, es gefällt dir.«

»Tut es ja auch. Ich will es nur nicht bei der Arbeit tragen.«

Bevor sie noch länger über sein seltsames Verhalten nachdenken konnte, löste sich der Bann, und Richards Lächeln wirkte wieder ganz natürlich, als wäre alles andere nur Einbildung gewesen.

»Ich besorg dir noch eine kürzere Kette«, sagte er. »Dann hast du zwei und kannst das Medaillon zu jeder Gelegenheit tragen.«

»Das brauchst du nicht.«

»Ich weiß«, sagte er, senkte kurz den Blick und sah Julie dann wieder in die Augen. »Aber ich möchte es gern.« Sie starrte ihn an – mit einem jähen Gefühl von… ja, von was?

Sobald sie hinausgegangen waren, legte Andrea angewidert den Enquirer aus der Hand. Julie war wirklich die größte Idiotin auf dem Planeten.

Was dachte sie sich eigentlich?

Sie hätte doch nach einem solchen Wochenende wissen müssen, dass Richard vorbeikommen würde! Jeden Tag war er bisher gekommen, und Andrea konnte gut verstehen, dass Richard durch Julies Gedankenlosigkeit verletzt war. Aber wusste Julie seine Großzügigkeit überhaupt zu schätzen? Dachte sie je darüber nach, was Richard glücklich machen könnte, nicht nur sie selbst? Dachte sie je darüber nach, dass Richard ihr das Medaillon vermutlich in dem Wunsch geschenkt hatte, dass sie das blöde Ding trug?

Das Problem war, dass Julie gar nicht wusste, wie gut sie es hatte. Bestimmt dachte sie, alle Männer seien wie Richard. Dass alle Männer Unsummen für Geschenke und Verabredungen ausgaben und Frauen in Limousinen herumkutschierten. Aber so war es nicht. Jedenfalls nicht in diesem Kaff. Soweit Andrea das beurteilen konnte, gab es nicht einen Kerl von Richards Format in der ganzen Stadt.

Sie schüttelte den Kopf. Julie hatte solch einen Mann nicht verdient.

Manipuliert. So fühlte sich Julie nun, nachdem Richard wieder zur Arbeit zurückgefahren war.

Als hätte er ihr das Versprechen abtrotzen wollen, das Medaillon auch bei der Arbeit zu tragen. Als müsse sie sich schuldig fühlen, weil sie es nicht trug.

Als sollte sie es ständig tragen.

Dieses Gefühl behagte ihr nicht. Warum regte er sich so auf über etwas derart… Unwichtiges? Bedeutete es ihm wirklich so viel?

Sie hatte das Medaillon getragen, seit er es ihr geschenkt hatte, auch am Wochenende. Aber an diesem Morgen hatte sie entschieden, es zu Hause zu lassen, vielleicht weil…

Nein, dachte Julie kopfschüttelnd, das war es nicht. Sie hatte genau gewusst, was sie tat. Das Medaillon war ihr bei der Arbeit lästig. Letzte Woche hätte sie zweimal fast in die Kette geschnitten, und mehrmals hatte es sich im Haar von Kundinnen verfangen. Sie hatte es nicht wieder angelegt, weil sie nicht wollte, dass es ruiniert wurde.

Außerdem war das nicht der Punkt. Es ging gar nicht um sie und darum, weshalb sie es trug oder nicht, sondern um Richard und seine Reaktion. Darum, was er gesagt hatte, und wie er es gesagt hatte, sein Gesichtsausdruck, welches Gefühl ihr seine Worte vermittelten… All das machte sie unruhig.

Jim war nie so gewesen. Jim hatte nie versucht, sie zu manipulieren. Auch hatte er nie versucht, seinen Zorn mit einem Lächeln zu kaschieren.

Solange alles nach meinen Wünschen läuft, ist es prima, schien Richard anzudeuten. Dann haben wir kein Problem. Andernfalls jedoch…

Was hatte das alles zu bedeuten?, grübelte Julie.