Kapitel 19
Weil sie sich wegen Richard schon so früh fertig gemacht hatte, blieb Julie genug Zeit, um sich vor der Arbeit noch eine Zeitung zu besorgen. Dann setzte sie sich vor einem Bagel-Shop an einen Tisch auf dem Gehweg, trank Kaffee und las. Singer lag zu ihren Füßen.
Nach einer Weile legte sie die Zeitung beiseite und beobachtete, wie das stille Geschäftsviertel zum Leben erwachte. Ein Laden nach dem anderen öffnete, Keile wurden unter offene Türen geschoben, die frische Morgenluft hereingelassen. Der Himmel war wolkenlos, und die Windschutzscheiben der Autos, die über Nacht draußen gestanden hatten, waren beschlagen.
Julie erhob sich, bot dem Pärchen am Nebentisch die Zeitung an, warf ihren leeren Kaffeebecher in den Abfall und machte sich auf den Weg in Richtung Salon. Die Werkstatt war schon seit einer Stunde geöffnet, und da sie noch ein paar Minuten Zeit hatte, bis sie zur Arbeit musste, beschloss sie, Mike einen Besuch abzustatten. Bestimmt hatte er noch nicht allzu viel zu tun. Außerdem wollte sie sich überzeugen, dass ihre Empfindungen vom Vorabend nicht nur pure Einbildung waren.
Dass Richard bei ihr genächtigt hatte, gedachte sie Mike allerdings nicht zu erzählen. So sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie wusste nicht, wie sie das hätte erklären sollen. Mike würde gewiss ständig darüber nachgrübeln, und Julie hatte Angst, dass diese Geschichte nachhaltig Zweifel und Misstrauen säen würde. Außerdem war es unwichtig. Die Sache mit Richard war vorbei, und nur darauf kam es an.
Sie überquerte die Straße. Als sie an den Autos vorbeiging, die heute repariert werden sollten, kam Mike ihr schon entgegen – strahlend, als hätte er eben das große Los in der Lotterie gezogen.
»Hallo, Julie!«, sagte er. »Was für eine nette Überraschung.«
Trotz der strubbeligen Haare und des Streifens Schmiere auf seiner Wange, sah er in Julies Augen richtig gut aus.
»Ich freue mich natürlich auch, dich zu sehen, Großer«, setzte Mike hinzu und tätschelte Singer den Kopf. Julie fielen die Heftpflaster an seinen Händen auf.
»Hey, was ist denn mit deinen Fingern passiert?«
Mike sah auf seine Hände. »Ach, nichts. Sind heute Morgen nur ein bisschen wund.«
»Warum denn?«
»Ich glaube, ich habe sie gestern Abend wohl zu heftig geschrubbt.«
Julie zog die Stirn kraus. »Wegen dem, was ich am Strand gesagt habe?«
»Nein«, sagte er rasch. Aber dann räumte er achselzukkend ein: »Na ja, vielleicht doch.«
»Ich habe doch nur Spaß gemacht!«
»Weiß ich«, sagte Mike. »Aber ich hab mich gefragt, ob ich’s nicht doch mal mit einer anderen Seife versuchen sollte…«
»Was hast du denn benutzt? Scheuerpulver?«
»Scheuerpulver, 409, Lysol… Ich hab alles ausprobiert.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn. »Weißt du, manchmal frage ich mich schon, wie du wohl sein wirst, wenn du erwachsen bist.«
»Die Chancen, dass diese Zeit einmal kommt, stehen nicht allzu gut, ehrlich gesagt.«
Julie lachte.
»Ich wollte dir nur schnell sagen, wie gut ich mich gestern Abend amüsiert habe.«
»Ich auch«, sagte er. »Und ich freue mich schon auf heute Abend.«
Ihre Blicken trafen sich kurz, dann sah Julie auf die Uhr. »Ich muss los. Ich bin den ganzen Vormittag ausgebucht, und mittags bin ich mit Emma zum Essen verabredet.«
»Grüß Emma von mir.«
»Klar«, sagte Julie. Sie zwinkerte ihm zu. »Und pass auf mit den Fingern! Schlimme Vorstellung, dass du die Motoren voll blutest…«
»Ha, ha«, sagte er. Dabei machte ihm die Neckerei gar nichts aus. Er wusste ja, dass es ihre Art war, mit ihm zu flirten.
Sie verabschiedeten sich, und kurz darauf überquerte Julie leichten Schrittes die Straße.
»Dann hattet ihr wohl einen ganz schönen Abend, was?« Henry hielt einen angebissenen Doughnut in der Hand. Mike hakte den Daumen in den Overall und schnaubte.
»O ja«, sagte er. »Er war richtig toll.«
Henry betrachtete angelegentlich den Doughnut. »Kannst du die James-Dean-Faxen nicht lassen, Brüderchen? Eins sage ich dir – das passt nicht zu dir. Und von deinem verklärten Blick lenkt es auch nicht ab.«
»Mein Blick ist nicht verklärt.«
»Verklärt, verknallt… Was auch immer.«
»Hey, ich kann auch nichts dazu, wenn sie mich mag.« »Alles klar. Du bist einfach unwiderstehlich, stimmt’s?« »Ich dachte, du würdest dich für mich freuen.«
»Ich freue mich ja«, sagte Henry. »Und ich bin auch stolz auf dich.«
»Wieso?«
»Weil es irgendwie den Anschein hat, als wäre dein Plan aufgegangen.«
»Und, was ist mit Richard?«, fragte Emma. »Neulich im Clipper hatte man den Eindruck, als würdet ihr euch glänzend verstehen.«
»Ach, du kennst das doch… Er ist nett, aber ich empfinde einfach nichts für ihn.«
»Da hilft auch kein gutes Aussehen, was?«
»Zugegeben, in der Hinsicht ist er nicht übel«, sagte Julie, und Emma lachte.
Sie aßen Salat im Deli, einem früheren Wohnhaus in der Altstadt. Sonnenlicht fiel auf ihren Ecktisch und sammelte sich in ihren Teegläsern, die bernsteingolden leuchteten.
»Dasselbe habe ich auch zu Henry gesagt, als wir wieder zu Hause waren. Und dann habe ich ihn gelöchert, warum er nicht mehr so aussieht.«
»Was hat er geantwortet?«
»Er hat gesagt…«
Emma richtete sich auf, senkte die Stimme und ahmte Henry nach. »Keine Ahnung, was du meinst, aber wenn ich nicht wüsste, wie sehr du mich liebst, würde ich glauben, du willst mich beleidigen.«
Julie lachte. »Du hörst dich genau an wie er.«
»Schätzchen, wenn du so lange verheiratet bist wie ich, ist das kinderleicht. Fehlt eigentlich nur noch der angebissene Doughnut.«
Julie musste so kichern, dass sie etwas Tee auf den Tisch verschüttete. »Aber du bist immer noch glücklich mit ihm, oder? Selbst nach all der Zeit?«
»Meistens ist er ein guter Kerl. Manchmal möchte ich ihm zwar eins mit der Pfanne überbraten, aber das ist wohl ganz normal.«
Während sich Julie vorbeugte, funkelten ihre Augen schelmisch. »Habe ich dir je erzählt, wie ich Jim mal mit einer Pfanne beworfen habe?«
»Was? Wann war das denn?«
»Weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, worum es bei dem Streit ging, aber ich habe die Pfanne genau in seine Richtung geworfen. Ging zwar daneben, aber danach hat er mir zugehört.«
Emma zog die Augenbrauen hoch, trank etwas Tee, und widmete sich dann wieder ihrem Salat. »Sag mal, was höre ich denn da über Mike?«
Damit hatte Julie schon gerechnet. Nicht Politik oder Sport oder die neuesten Schlagzeilen hielten die Leute in diesem Städtchen in Atem, sondern das Tun und Treiben ihrer Mitbürger.
»Was genau meinst du denn?«
»Dass er dich um eine Verabredung gebeten hat und dass ihr zusammen essen wart.«
»Nun – eigentlich war ich diejenige, die ihn gefragt hat.«
»Er hat es also nicht über sich gebracht?«
Julie warf Emma einen schelmischen Blick zu. »Was glaubst du?«
»Hm… ich glaube, er ist bei deiner Frage wahrscheinlich vor Schreck erstarrt wie Lots Weib.«
Julie lachte. »So ungefähr.«
»Und, wie war es? Was habt ihr gemacht?«
Als Julie ihren Bericht beendet hatte, lehnte sich Emma zurück.
»Klingt doch ganz gut.«
»Allerdings.«
Sie musterte Julie einen Moment lang. »Und, was ist mit… du weißt schon… musstest du an…«
Ihre Stimme verlor sich, und Julie vervollständigte den Satz für sie.
»Ob ich an Jim denken musste?«
Emma nickte, und Julie dachte kurz nach. »Nicht so viel, wie ich gedacht hatte«, sagte sie. »Und am Ende hat es mich gar nicht mehr gestört. Mike und ich… wir kommen einfach gut aus. Er bringt mich zum Lachen. In seiner Gegenwart fühle ich mich rundum wohl. Ist schon lange her, dass ich mich so gefühlt habe.«
Emmas Gesicht wurde sanft. »Kein Wunder. Du und Jim, ihr wart ein tolles Paar. Wir haben immer Witze darüber gemacht, wie ihr euch anhimmeltet, sobald ihr euch unbeobachtet glaubtet.«
Emma schwieg kurz. »Wie hat Mike sich benommen?«, fragte sie dann.
»Gut. Um ehrlich zu sein, er war ganz schön nervös, aber das hatte wohl weniger mit Jim zu tun. Eher mit der Verabredung selbst.«
»Und… magst du ihn?«
»Natürlich mag ich ihn.«
»Ich meine, hast du ihn gern?«
Julie musste nicht antworten. Ihre Miene sprach Bände, und Emma langte über den Tisch, um Julies Hand zu drücken.
»Warte ab, das kommt schon noch.«
»Ach ja?«
»Ich war mir schon immer sicher, dass ihr zusammenkommt. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Du hast nie was gesagt.«
»Das war auch nicht nötig. Ich dachte, wenn du erst so weit bist, wirst du schon dieselben Vorzüge an Mike erkennen wie ich.«
»Zum Beispiel?«
»Dass er dich nie enttäuschen wird. Der Junge hat ein Herz, so groß wie Kentucky, und er liebt dich. Darauf kommt es an. Meine Mom hat immer gesagt, heirate jemanden, der dich mehr liebt als du ihn.«
»Das glaube ich nicht.«
»Doch, das hat sie gesagt. Und ich habe auf sie gehört. Warum, glaubst du wohl, kommen Henry und ich so gut miteinander aus? Was bestimmt nicht heißen soll, dass ich ihn nicht liebe. Er würde jederzeit sein Leben für mich aufs Spiel setzen.«
»Und du meinst, Mike ist auch so?«
»Schätzchen, darauf kannst du deinen letzten Dollar wetten.«
Als Julie nach Feierabend aus dem Salon kam, gingen ihr immer noch Emmas Worte durch den Kopf.
Und nicht nur die. Vor allem musste sie auch an Jim denken.
An diesem Nachmittag hatte Jim ihr gefehlt wie schon lange nicht mehr – vermutlich wegen der Sache mit Mike. Sie grübelte, wie sich Jim wohl im umgekehrten Fall verhalten hätte. Hätte er sich einer neuen Frau zugewandt? Und wenn nein, hätte das bedeutet, dass er Julie mehr geliebt hatte als sie ihn? Und was würde geschehen, fragte sie sich, wenn sie sich doch noch in Mike verliebte? Was wurde dann aus ihren Gefühlen für Jim? Aus ihren Erinnerungen an ihn? Diese Fragen spukten ihr seit dem Mittagessen endlos durch den Kopf, und den Antworten wagte sie sich nicht zu stellen.
Bei der Aussicht, Mike am Abend zu sehen, war sie nervöser als am Tag zuvor. Nervöser als bei all ihren anderen Dates, wenn sie ehrlich war. Warum nur?
Vielleicht weil ich weiß, dass bei ihm alles anders ist, dachte sie.
Julie hatte ihren Jeep erreicht und stieg ein. Singer sprang hinten hinein, und Julie startete den Motor. Kurzentschlossen folgte sie der Hauptstraße ein paar Blocks lang und bog dann links ab, Richtung Stadtrand. Wenige Minuten später erreichte sie den BrookviewFriedhof.
Bis zu Jims Grab war es nicht weit, es lag gleich hinter der Anhöhe abseits vom Hauptweg, im Schatten eines Hickorybaums. Als sie fast dort war, blieb Singer stehen und weigerte sich stur, ihr noch länger zu folgen. Das war immer schon so gewesen. Anfangs wusste sie nicht, warum Singer zurückblieb, aber mit der Zeit war ihr der Verdacht gekommen, dass er sie aus Taktgefühl allein ließ…
Sie blieb vor dem Grab stehen, atmete tief durch und wartete, doch die Tränen blieben heute aus. Ebenso das Gefühl von der Schwere ihres Schicksals, das sie hier sonst immer empfand. Sie rief sich Jims Bild vor Augen, entsann sich der glücklichen Zeiten, und obwohl mit der Erinnerung wie immer ein Gefühl von Trauer und Verlust aufkeimte, glich es diesmal mehr dem Geläut ferner Kirchenglocken, das sanft nachhallte und schließlich verklang. Auf einmal fiel ihr wieder der Brief ein, der damals in dem Paket mit Singer gelegen hatte.
Die Vorstellung, dass du nie wieder glücklich wirst, bricht mir schier das Herz… Finde jemanden, der dich glücklich macht… Die Welt ist so viel schöner, wenn du lächelst.
Dort, an Jims Grab, wurde Julie plötzlich klar, dass Jim sich für sie freuen würde.
Nein, dachte sie, ich werde dich nicht vergessen. Nie. Und Mike wird dich auch nicht vergessen.
Auch das unterscheidet ihn von anderen.
Julie blieb, bis die Luft von Moskitos summte. Einer landete auf ihrem Arm, und sie verscheuchte ihn. Es war Zeit zu gehen. In weniger als einer Stunde wollte Mike sie abholen, und sie mochte ihn nicht warten lassen.
Ein Windhauch ließ die Blätter über ihr rascheln. Dann war es abrupt wieder ruhig, als hätte jemand das Geräusch abgestellt. Als Nächstes hörte sie von der Straße her ein Auto, das Motorgeräusch schwoll an und verebbte, bis es ganz verschwand. Von den Häusern weiter weg drang eine Kinderstimme herüber. Aus den Zweigen erhob sich ein Kardinal, und als Julie sich umblickte, sah sie, dass Singer plötzlich den Kopf wandte, die Ohren gespitzt. Allerdings rührte er sich nicht vom Fleck. Leicht stirnrunzelnd verschränkte sie die Arme und ließ ihren Blick schweifen. Dann wandte sie sich vom Grab ab und trat mit gesenktem Kopf den Rückweg zum Auto an, die Härchen an den Armen von einer Gänsehaut gesträubt.