Kapitel 18

In seinem alten Haus stieg Richard die Treppe hoch ins Erkerzimmer. Er hatte die Wände schwarz gestrichen und die Fenster mit Isolierband und Planen lichtdicht abgeklebt. An der hinteren Wand stand ein Tisch, über dem eine Rotlichtlampe baumelte. Richards Fotoausrüstung war in der Ecke aufgebaut: vier verschiedene Kameras, ein Dutzend Objektive, Schachteln mit Filmen. Er schaltete die Lampe an und justierte den Schirm so, dass ein breiter Lichtkegel entstand.

Neben den flachen Wannen voller Chemikalien, in denen er die Filme entwickelte, lag ein Stapel Fotos, die Richard bei dem Ausflug von Julie aufgenommen hatte.

Er blätterte die Bilder durch. Bei manchen hielt er eine Weile inne und starrte darauf. Glücklich hat sie an jenem Wochenende gewirkt, dachte er, als hätte sie gewusst, dass ihr Leben plötzlich eine Wende zum Besseren genommen hat. So eingehend er ihr Mienenspiel auch musterte, er konnte nichts entdecken, was ihr Verhalten vom Abend zuvor erklären würde.

Er schüttelte den Kopf. Nein, er würde ihr diesen Fehler nicht nachtragen. Jemand, bei dem Zorn so rasch in Anteilnahme umschlug, war ein Schatz, und er hatte Glück, diesen Schatz gefunden zu haben.

Inzwischen wusste er einiges über Julie Barenson. Ihre Mutter war Trinkerin, mit einer Schwäche für Wodka, und hauste in einem schäbigen Wohnwagen am Stadtrand von Daytona. Ihr Vater lebte in Minnesota mit einer anderen Frau zusammen, nach einem Arbeitsunfall auf dem Bau bezog er eine bescheidene Frührente. Nach zwei Jahren Ehe mit seiner ersten Frau hatte er die Familie verlassen – Julie war damals drei Jahre alt. Sechs verschiedene Männer hatten im Laufe der Jahre mit Julie und ihrer Mutter zusammengelebt, der kürzeste Zeitraum betrug dabei sechs Monate, der längste zwei Jahre. Ein halbes Dutzend Mal waren sie umgezogen, immer von einer Bruchbude in die nächste.

Fast jedes Jahr ging Julie auf eine neue Schule, bis sie auf die Highschool kam. Mit vierzehn der erste Freund, er spielte Football und Basketball, es gab ein Bild von ihnen beiden in einem Jahrbuch. Nebenrollen in zwei Schulaufführungen. Doch dann brach sie die Schule vor dem Abschluss ab, tauchte für ein paar Monate unter und kam schließlich hierher.

Wie Jim es geschafft hatte, sie in ein solches Nest zu locken, war Richard schleierhaft.

Glückliche Ehe, langweiliger Ehemann. Nett, aber langweilig.

Nach der Begegnung im Clipper hatte Richard von einem Einheimischen auch mehr über Mike erfahren. Erstaunlich, wie leicht ein paar spendierte Drinks die Zunge lösten…

Mike war in Julie verliebt, aber das wusste Richard ja schon. Wie seine letzte Beziehung zu Ende ging, war ihm allerdings neu gewesen, und Sarahs Untreue hatte sein Interesse geweckt. Da taten sich Perspektiven auf.

Außerdem erfuhr er, dass Mike bei Julies Hochzeit Trauzeuge gewesen war. Der Kontakt zu Mike verhieß Trost, er war ein Bindeglied zu ihrer Vergangenheit, zu Jim. Richard verstand Julies Wunsch, sich daran festzuklammern. Aber dieser Wunsch war aus Angst geboren – Angst, so zu enden wie ihre Mutter, Angst, alles zu verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hatte, Angst vor dem Unbekannten. Dass Singer im selben Zimmer schlief wie sie, wunderte ihn nicht, und er hatte den Verdacht, dass sie abends ihre Schlafzimmertür abschloss.

Vermutlich hatte sie sich das schon als Kind angewöhnt, wegen der Männer, die ihre Mutter angeschleppt hatte. Aber es gab jetzt keinen Grund mehr, so zu leben. Sie konnte loslassen, genau wie er.

Letzten Endes hatten sie vermutlich ganz ähnliche Kindheitserfahrungen. Der Alkohol. Die Schläge. Die vor Kakerlaken wimmelnde Küche. Der muffige Geruch schimmliger Wände. Das trübe Brunnenwasser aus dem Wasserhahn, bei dem ihm stets speiübel wurde. Sein einziger Trost waren die Fotobände von Ansei Adams gewesen, Fotografien, die von anderen Orten zu erzählen schienen, von besseren Orten. Die Bücher hatte er in der Schulbibliothek entdeckt, und er hatte sie stundenlang betrachtet und sich in den surreal anmutenden, wunderschönen Landschaften verloren. Seiner Mutter war dieses Interesse aufgefallen, und so trostlos Weihnachten in Bezug auf Geschenke sonst auch immer ausfiel, als Richard zehn war, hatte sie seinen Vater irgendwie überreden können, Geld für einen kleinen Fotoapparat und zwei Filmrollen auszugeben. Es war das einzige Mal in Richards Leben, dass er vor Glück geweint hatte.

Stundenlang hatte er damit zugebracht, Gegenstände im Haus oder Vögel im Garten zu fotografieren. Er machte Aufnahmen bei Tagesanbruch und in der Abenddämmerung, weil ihm das Licht zu diesen Tageszeiten zusagte. Er lernte, sich lautlos zu bewegen, wodurch ihm außergewöhnliche Nahaufnahmen gelangen. Wenn er einen Film verknipst hatte, lief er ins Haus und bettelte seinen Vater an, ihn entwickeln zu lassen. Waren die Fotos fertig, betrachtete Richard sie in seinem Zimmer sorgfältig, um herauszufinden, was ihm gelungen oder misslungen war.

Anfangs schien sein Vater über seinen Eifer amüsiert zu sein und begutachtete sogar die ersten Filme. Doch dann begannen die Kommentare. »Oh, sieh mal an, wieder ein Vogel«, sagte er höhnisch, und: »Mensch, da ist ja noch einer!«

Schließlich ärgerte es ihn immer mehr, wie viel Geld das Hobby seines Sohnes kostete. Aber statt Richard nahe zu legen, sich mit Jobs in der Nachbarschaft das Geld fürs Entwickeln selbst zu verdienen, beschloss sein Vater, ihm eine Lehre zu erteilen.

An jenem Abend war er wieder einmal betrunken, und sowohl Richard als auch seine Mutter versuchten ihm aus dem Weg zu gehen und sich möglichst unauffällig zu verhalten. Von der Küche aus hörte Richard, wie sein Vater vor sich hin schimpfte, während im Fernsehen ein Footballspiel lief. Er hatte auf seine Lieblingsmannschaft gesetzt – die Patriots –, aber sie hatte verloren. Deshalb polterte er zornig durch den Flur. Kurz darauf kam er mit dem Fotoapparat in die Küche und stellte ihn auf den Tisch. In der anderen Hand hielt er einen Hammer. Als er sicher sein konnte, dass sein Sohn auch wirklich hinsah, zertrümmerte er den Apparat mit einem einzigen Schlag.

»Ich schufte die ganze Woche, um Geld zu verdienen, und du wirfst es einfach zum Fenster raus! Wenigstens das Problem haben wir von jetzt an nicht mehr!«

Einige Monate später starb sein Vater. Auch an jenen Tag erinnerte sich Richard lebhaft: der Küchentisch im grellen Schein der Morgensonne, der leere Gesichtsausdruck seiner Mutter, das stetige Tropfen des Wasserhahns, die langsam verrinnenden Stunden. Polizisten gingen ein und aus, sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Der Leichenbeschauer untersuchte den Toten und ließ ihn abtransportieren.

Und dann das Geheule seiner Mutter, als sie endlich allein waren. »Was sollen wir ohne ihn nur tun?«, schluchzte sie und schüttelte Richard an den Schultern. »Wie konnte das geschehen?«

Sein Vater war im O’Brien’s gewesen, einer schäbigen Kneipe gleich um die Ecke. Nach Aussage anderer Gäste hatte er eine Partie Billard gespielt und verloren und dann den restlichen Abend über an der Theke gehockt und Unmengen Bier mit Whisky getrunken. Zwei Monate zuvor war er von seiner Firma an die Luft gesetzt worden und seitdem fast jeden Abend hergekommen.

Zu der Zeit prügelte er Frau und Sohn bereits regelmäßig, und am Vorabend war er besonders brutal gewesen.

Kurz nach zehn hatte er die Kneipe verlassen, sich noch Zigaretten am Kiosk an der Ecke besorgt und war dann nach Hause gefahren. Ein Nachbar, der gerade seinen Hund ausführte, hatte gesehen, wie er zurückkam. Die Garage war noch offen, und Vernon fuhr mit dem Wagen direkt hinein. An beiden Wänden waren Kartons aufgestapelt.

Darüber, was im Anschluss geschah, konnten später alle nur spekulieren. Dass Vernon das Garagentor geschlossen hatte, stand außer Zweifel, das belegte die hohe Kohlenmonoxidkonzentration. Warum aber hatte er nicht erst den Motor abgestellt? Und wieso stieg er nach dem Schließen des Garagentors wieder ins Auto? Alles deutete auf Selbstmord hin, obwohl seine Kumpels aus dem O’Briens steif und fest behaupteten, so etwas hätte er nie getan. Er war ein Kämpfer, kein Feigling. Er hätte sich nie umgebracht.

Zwei Tage später kamen die Polizeibeamten abermals ins Haus, stellten viele Fragen und suchten nach Antworten. Die Mutter jammerte zusammenhangloses Zeug, der Zehnjährige starrte sie stumm an. Die Prellungen in den Gesichtern von Mutter und Sohn changierten inzwischen ins Grünliche, was ihnen ein bemitleidenswertes Aussehen verlieh. Die Polizisten brachen unverrichteter Dinge wieder auf.

Am Schluss wurde der Todesfall als Unfall deklariert.

Ein Dutzend Leute wohnte der Beerdigung bei. Richards Mutter trug Schwarz und weinte in ein weißes Taschentuch, während er hilflos neben ihr stand. Drei Redner ergriffen am Grab das Wort, fanden freundliche Worte für einen Mann, der zuletzt in seinem Leben eine Pechsträhne gehabt habe, ansonsten aber ein guter Mensch gewesen sei, ein fleißiger Arbeiter, ein liebender Ehemann und Vater.

Der Sohn spielte seine Rolle gut. Er hielt den Blick gesenkt. Ab und zu fuhr er sich mit dem Finger über die Wange, als müsse er eine Träne abwischen. Er legte den Arm um seine Mutter, und als die anderen ihnen ihr Beileid aussprachen, nickte er ernst und bedankte sich.

Am nächsten Tag aber kehrte er allein zu dem frischen Grab zurück. Und dann spuckte er mitten darauf.

In der Dunkelkammer heftete Richard eins der Fotos an die Wand. Die Vergangenheit wirft lange Schatten, dachte er. Er wusste, dass Julie nichts dazukonnte. Er hatte Verständnis. Er verzieh ihr, was sie getan hatte.

Richard starrte auf das Bild. Wie könnte er ihr nicht verzeihen?