Kapitel 8

»Hey Julie«, rief Mike, »warte mal!«

Julie, die gerade auf ihr Auto zuging, drehte sich um und sah Mike im Laufschritt auf sich zukommen. Singer trottete in seine Richtung los und kam als Erster bei ihm an. Er hob erst die eine, dann die andere Pfote, als hätte er sich Mike am liebsten geschnappt, um ihn ausgiebig und freundlich abzuschlabbern. Mike wich ihm aus – so gern er Singer auch hatte, ein bisschen widerlich war es schon, mit Hundespeichel überzogen zu werden – und tätschelte ihn stattdessen. Genau wie Julie redete er mit Singer, als sei er ein Mensch.

»Hab ich dir gefehlt, Großer? Ja, ja, du hast mir auch gefehlt. Wir sollten mal wieder was zusammen machen.«

Singer stellte interessiert die Ohren auf, und Mike schüttelte den Kopf.

»Heute kein Frisbee – tut mir Leid. Ein andermal.«

Als Mike auf Julie zuging, trabte Singer neben ihm her und stupste ihn verspielt an – wobei verspielt natürlich relativ war. Mike wäre bei dem Stoß fast gegen den Briefkasten getaumelt, fing sich aber mit knapper Not.

»Ich glaube, du solltest mit deinem Hund öfter spazieren gehen«, sagte er zu Julie. »Er leidet offenbar unter Bewegungsmangel.«

»Er ist nur aufgeregt, weil wir dich getroffen haben. Wie geht’s dir? Hab dich ja in letzter Zeit nicht viel gesehen.«

»Gut. Hab nur viel zu tun.«

Mike kam nicht umhin, zu bemerken, wie grün ihre Augen heute waren. Wie Jade.

»Ich auch«, sagte sie. »Wie war es neulich Abend mit Henry und Emma?«

»Lustig war’s. Schade, dass ihr nicht länger bei uns gesessen habt…«

Er zuckte die Achseln, als sei es nicht weiter wichtig. Doch nach dem, was Richard Julie erzählt hatte, nahm sie ihm das nicht ganz ab. Zu ihrer Überraschung wechselte er aber sofort das Thema. »Weißt du, was ich an dem Abend erfahren habe? Die Band, die spielte, war doch Ocracoke Inlet, und kurz bevor ich ging, hat Drew gefragt, ob ich für ihren Gitarristen einspringen würde. Er muss zu einer Hochzeit nach Chicago, wenn ihr nächster Gig im Clipper ansteht.«

»Wow – das ist ja super! Wann spielt ihr denn?«

»In ein paar Wochen. Ist zwar nur eine einmalige Sache, aber es dürfte lustig werden. Die meisten Songs kenne ich, und so schlecht ist die Band auch wieder nicht.«

»Du hast mir früher aber was anderes erzählt.«

»Da haben sie mich ja auch nicht zum Mitspielen aufgefordert. Jetzt bin ich richtig gespannt. Könnte am Ende der Einstieg sein, um was Festes zu kriegen.«

»Na ja«, sagte Julie, die seiner Begeisterung keinen Dämpfer versetzen wollte, »freut mich, dass es geklappt hat.«

Sie schwiegen kurz, und Mike trat von einem Fuß auf den anderen.

»Und, was hast du so getrieben? Ich meine – ich weiß, dass du mit Richard unterwegs warst, aber in letzter Zeit haben wir kaum miteinander gesprochen. Irgendwelche aufregenden Neuigkeiten?«

»Nein, eigentlich nicht. Singer macht mich momentan wahnsinnig, aber das ist auch schon alles.«

»Singer? Was tut er denn?«

Julie schilderte ihm Singers Verhalten in der letzten Zeit, und Mike lachte. »Vielleicht braucht er mal Prozac oder so was.«

»Wer weiß. Aber wenn er sich nicht bald ändert, werd ich ihm eine Hundehütte besorgen.«

»Hör zu – ich nehm ihn dir gern mal ab, jederzeit. Ich geh mit ihm zum Strand, dann ist er fix und fertig, wenn er wieder nach Hause kommt, und hat den restlichen Tag keine Kraft mehr zum Knurren oder Bellen oder um dir nachzulaufen.«

»Kann sein, dass ich dich beim Wort nehme.«

»Hoffentlich. Ich hab den Großen gern.«

Mike streckte die Hand nach Singer aus. »Nicht wahr?«

Singer nahm Mikes Zuwendung mit freundlichem Bellen auf.

»Und, irgendwelche neuen Andrea-Storys?«, fragte Mike. Andrea war häufig Gesprächsthema bei ihnen.

»Sie hat mir von ihrem Date am Samstag erzählt.«

Mike rümpfte die Nase. »Der Kerl, mit dem sie im Clipper war?«

»Hast du ihn gesehen?«

»Ja. Ein hässlicher Typ. Ich dachte ja, den Tiefpunkt hätte sie mit dem Kerl mit der Augenklappe erreicht, aber da hab ich mich wohl geirrt.«

Julie lachte. »Den hätte ich gern gesehen! Mabel hat genau dasselbe gesagt.«

Dann gab sie kurz wieder, was Andrea über Cobra erzählt hatte. Besonders gut fand Mike die Sache mit dem Namen Ed DeBoner, aber warum das Andrea derart störte und seine übrigen Nachteile nicht, verstand er nicht. Am Ende lachte Julie auch.

»Was ist eigentlich mit ihr los?«, fragte Mike. »Warum ist sie so blind in Bezug auf Männer? Sie tut mir fast Leid.«

»Sei froh, dass du nicht mit ihr arbeiten musst. Obwohl, andererseits sorgt sie im Salon immer für Unterhaltung.«

»Bestimmt. Oh – übrigens, ich soll dich von Emma bitten, dass du sie mal anrufst. Hat Henry gesagt.«

»Mach ich. Weißt du, worum es geht?«

»Nein, nicht genau. Sie will dir sicher ein neues Rezept geben oder so.«

»Wir reden nicht über Rezepte. Wir reden über interessante Sachen.«

»Mit anderen Worten, ihr tauscht Klatsch aus.«

»Keinen Klatsch«, protestierte Julie. »Wir halten uns nur gegenseitig auf dem Laufenden.«

»Na dann, wenn du was Aufregendes erfährst, ruf mich an, okay? Ich bin den ganzen Abend da. Und vielleicht sollte ich dir Singer wirklich mal abnehmen, wenigstens für ein Weilchen. Nächstes Wochenende vielleicht?«

Julie lächelte. »Das passt mir gut.«

Mike war recht zufrieden mit sich.

Das Gespräch war nicht sonderlich anspruchsvoll oder vertraulich gewesen, aber es bestätigte ihm, dass sich Julie immer noch gern mit ihm unterhielt. Sie hatten Witze gemacht, sie hatten zusammen gelacht, und das war doch etwas wert, oder? Und ob!

Er hatte alles richtig gemacht – einen heiteren Ton angeschlagen, heikle Themen vermieden. Und, was das Beste war: Mike war zuversichtlich, später, nach Julies Gespräch mit Emma, noch einmal von ihr zu hören. Emma hatte immer etwas auf Lager, das sich weiterzuerzählen lohnte, und sollte das ausnahmsweise nicht der Fall sein, so war durch sein Angebot, ihr Singer abzunehmen, ein Anruf praktisch garantiert.

Den Gedanken an Richard verdrängte er kurzerhand. Sobald Richard, mit oder ohne Julie, oder auch nur das blöde Medaillon vor Mikes geistigem Auge auftauchten, verscheuchte er die Bilder. Richard lief vielleicht gerade auf der Innenbahn, aber Mike dachte nicht daran, sich dadurch seine optimistische Stimmung verderben zu lassen.

Und diese Strategie hatte zunächst auch Erfolg. In den verbleibenden Arbeitsstunden, auf der Heimfahrt, sogar beim Abendessen hielt Mikes gute Laune an – bis er im Bett lag und die Abendnachrichten schaute.

Erst da musste er betrübt feststellen, dass das Telefon kein einziges Mal geklingelt hatte.

Der Rest der Woche war eine einzige Qual für Mike. Julie rief nicht an und kam nicht einmal auf einen Sprung in der Werkstatt vorbei.

Obwohl Mike sie hätte anrufen können, obwohl er früher nie gezögert hatte, zum Hörer zu greifen, um mit ihr zu reden, war er jetzt einfach nicht dazu imstande. Ihm graute vor der Aussicht, sie zu Hause zu erreichen und dann von ihr zu hören, sie könne jetzt nicht sprechen, weil sie »Besuch habe«. Oder weil sie »eben auf dem Sprung« war. Oder »gerade ziemlich beschäftigt«.

Dass Julie sich die ganze Woche über nicht meldete und Richard tagtäglich (und nachts vermutlich auch!) vorbeikam, blieb nicht Mikes einziger Kummer. Am Freitag sah er Julie bereits am frühen Nachmittag aus dem Salon kommen. Er wusste zwar nicht, wo sie hinwollte, aber er ahnte es.

Sie trifft Richard, dachte er.

Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Was ging es ihn an, was die beiden taten? Sein Abend war bereits verplant: Er hatte Bier im Kühlschrank, es gab eine Videothek um die Ecke und das Pizzataxi lieferte innerhalb einer halben Stunde. Mike würde es sich richtig nett machen. Sich aufs Sofa legen und von der Woche ausruhen, vielleicht ein wenig Gitarre spielen, ein Video ansehen, die ganze Nacht aufbleiben, wenn er Lust hatte.

Nachdem er sich seinen Feierabend derart ausgemalt hatte, ließ er die Schultern hängen. Was für ein armseliges Leben, dachte er. Normale Menschen würden dabei ins Koma fallen.

Um dem Ganzen aber die Krone aufzusetzen, erfuhr Mike am folgenden Montag schließlich doch noch, was Julie und Richard am Freitag gemacht hatten. Er erfuhr es natürlich nicht von ihr. Vielmehr von Leuten, die er kaum kannte: Er schnappte im Supermarkt etwas auf, im Diner und sogar bei der Arbeit in der Werkstatt. Plötzlich hatte es den Anschein, als wüssten alle Leute wesentlich besser über Julie Bescheid als er.

Richard hatte Julie anscheinend in einer Limousine abgeholt, unterwegs hatte er ihr Champagner geboten, und sie waren zum Abendessen nach Raleigh gefahren. Danach hatten sie sich in der Stadthalle eine Aufführung des Musicals Phantom der Oper angesehen. Natürlich saßen sie in der ersten Reihe.

Und außerdem – als reichte das noch nicht, als wäre das noch nicht ausgefallen genug, um Eindruck auf sie zu machen – hatten Richard und Julie auch den Samstag zusammen verbracht, unten bei Wilmington.

Dort hatten sie erst eine Fahrt im Heißluftballon unternommen und dann am Strand gepicknickt.

Wie zum Teufel sollte Mike mit einem Kerl konkurrieren, der solch ein Programm abspulte?