Kapitel 32
Julie sollte dieser Tag unvergessen bleiben – als für lange Zeit letzter halbwegs normaler Tag in ihrem Leben.
Singer war schon morgens seltsam nervös. Rastlos trottete er im Salon zwischen den Frisierstühlen hin und her, an denen Mabel und Julie arbeiteten. Es kamen zwar etliche Kunden, aber keiner schien zu längeren Schwätzchen aufgelegt zu sein. Julie führte es darauf zurück, dass die Kunden, zumal die Frauen, spürten, wie ungern sie an diesem Tag im Salon war. Am liebsten wäre sie an einen weit entfernten Ort geflohen…
Nachdem sich der Nebel gelichtet hatte, wurde es rasch warm, und zu allem Überfluss trat vormittags die Klimaanlage in Streik, wodurch die Luft im Salon noch drückender wurde. Mabel öffnete die Tür und klemmte einen Keil darunter, aber da draußen überhaupt kein Lüftchen ging, half dies nur wenig. Auch der Deckenventilator sorgte kaum für Abkühlung, und als es Nachmittag wurde, war Julie endgültig schweißgebadet. Ihr Gesicht glänzte feucht, und sie zupfte immer wieder vorn an ihrer Bluse herum, um etwas Luft an ihre Haut zu lassen.
Seit sie sich in Mabels Armen ausgeweint hatte, war sie allerdings etwas ruhiger geworden, und als Mike vorbeikam, schaffte sie es sogar zu lächeln. Schlimm genug, dass sie, die sonst immer so viel hatte ertragen können, am Morgen die Beherrschung verloren hatte. Mike gegenüber konnte sie natürlich zeigen, wie es ihr wirklich ging, doch bei allen anderen, selbst bei Freunden, war sie normalerweise nicht derart extrovertiert.
Nun aber sah Mabel sie immer wieder verstohlen an, als sei sie bereit, jederzeit erneut mit ausgebreiteten Armen auf Julie loszustürmen. Das war zwar sehr nett, aber letzten Endes erinnerte es Julie nur daran, warum sie überhaupt so durcheinander war.
Andrea war immer noch nicht aufgetaucht. Mit einem Blick in den Terminkalender hatte Mabel festgestellt, dass sie erst ab dem späten Vormittag Kundinnen hatte, und so glaubten die beiden Frauen zunächst, dass sich Andrea wieder einmal den Morgen kurzerhand freigenommen hatte.
Doch Julies Unruhe wuchs, denn die Stunden vestrichen, Andreas erste Kundin kam, doch von ihr selbst war nach wie vor nichts zu sehen.
Freundinnen waren sie und Andrea zwar nicht gerade, aber dennoch hoffte sie inständig, dass Andrea nichts passiert war. Hoffte, dass Andrea nicht mit Richard zusammen war. Ob es besser war, gleich die Polizei zu rufen? Aber was sollten sie sagen? Dass Andrea nicht zur Arbeit gekommen war? Die erste Frage der Beamten würde lauten, ob ihre Abwesenheit ungewöhnlich war. Und das konnte man nun wahrlich nicht behaupten…
Julie dachte an Richards und Andreas wenige Begegnungen im Salon zurück. Andrea war offensichtlich von ihm angetan gewesen, aber soweit sich Julie entsann, hatte Richard nicht darauf reagiert, auch nicht, als Andrea ihm die Haare schnitt. Nein, dachte sie, er hat stattdessen laufend zu mir herübergeschielt.
Andrea war mit Richard ausgegangen, das hatte Emma Mike erzählt. Ich habe eben gesehen, wie er sie geküsst hat.
Emmas Anruf war nur wenige Stunden nachdem Julie Richard im Wald getroffen hatte erfolgt. Wenn die beiden aber in Morehead City gewesen waren – eine halbe Stunde Fahrt von Swansboro aus –, musste er doch ziemlich bald nach ihrem kleinen »Plausch« zu Andrea gefahren sein. Also gleich nachdem er mir seine Liebe beteuert hat, dachte Julie.
Das Ganze ergab absolut keinen Sinn.
Hatte Richard gewusst, dass Emma auch dort war? Sie waren sich zwar nur einmal begegnet, doch Julie war sicher, dass er Emma wiedererkennen würde. Ob er gewollt hatte, dass Emma ihn sah und ihr, Julie, brühwarm darüber berichtete? Doch was diese Botschaft besagen sollte, war Julie schleierhaft. Falls er sie damit in falscher Sicherheit wiegen wollte, machte er einen Fehler. Darauf würde sie nicht noch einmal reinfallen.
Nie und nimmer. Er konnte sie mit nichts mehr überraschen.
Dachte sie zumindest.
Bei ihrem Telefonat mit Casey Ferguson von J. D. Blanchard hielt Jennifer ihren Stift dicht über den Block, jederzeit bereit, etwas zu notieren.
»Solche Information dürfen wir eigentlich nicht weitergeben. Personalakten sind vertraulich«, sagte Ferguson gerade ausweichend.
»Verstehe«, erwiderte Jennifer in ernstem Ton. »Aber wie gesagt, wir befinden uns gerade in einer Ermittlung.«
»Wie ich bereits sagte, wir sind an strenge Vertraulichkeitsauflagen gebunden. So verlangt es der Gesetzgeber.«
»Selbstverständlich«, sagte Jennifer wieder, »aber falls nötig, werden wir die Akten sowieso einziehen. Ich wollte nur nicht, dass gegen Ihr Unternehmen der Vorwurf erhoben wird, eine Ermittlung zu behindern.«
»Soll das eine Drohung sein?«
»Auf keinen Fall«, sagte Jennifer, doch bei Fergusons nächsten Worten musste sie einsehen, dass sie zu weit gegangen war.
»Tut mir Leid, Ihnen nicht behilflich sein zu können«, sagte Casey Ferguson knapp. »Wenn Sie eine entsprechende richterliche Verfügung haben, sind wir Ihnen natürlich gern behilflich.«
Damit beendete er das Gespräch. Jennifer legte leise fluchend den Hörer auf und überlegte, was sie nun tun sollte.
Am Abend zog Mike Julie gleich nach der Arbeit sanft in ihr Schlafzimmer.
Seit der unliebsamen Geschichte mit Richard im Clipper hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen. Dennoch überstürzten sie jetzt nichts. Sie liebten sich langsam und zärtlich, mit vielen sanften Küssen. Danach hielt Mike Julie lange umschlungen, und seine Lippen streiften über die Haut zwischen ihren Schulterblättern. Julie döste ein, bis Mikes Bewegung sie aus dem Schlaf riss. Es war dunkel, aber noch nicht einmal zweiundzwanzig Uhr, und Mike zog sich gerade die Jeans an.
»Was hast du vor?«
»Ich gehe mit Singer raus. Ich glaube, er muss mal.« Julie räkelte sich. »Wie lange habe ich geschlafen?« »Nicht lange – eine Stunde oder zwei.«
»Entschuldige.«
»Ich fand’s schön. Es hat Spaß gemacht, dir beim Atmen zuzuhören. Du musst ja hundemüde gewesen sein.«
Julie lächelte. »Bin ich immer noch. Aber ich werde mir einen Happen zu essen holen. Möchtest du auch etwas?«
»Ein Apfel reicht.«
»Mehr nicht? Keinen Käse oder Cracker oder so was?«
»Nein. Ich habe heute Abend keinen großen Hunger. Bin auch ziemlich erledigt.«
Dann schlüpfte er hinaus. Julie richtete sich auf, knipste die Lampe an und blinzelte, weil das Licht so hell war. Sie stand auf und trat an die Kommode, um ein langes T-Shirt herauszuholen. Das zog sie sich über und ging dann in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, nahm einen Joghurt und ein paar Schokoladenkekse heraus und ergriff auf dem Weg nach draußen noch einen Apfel.
Als sie durchs Wohnzimmer ging, fiel ihr Blick auf das Medaillon, und sie erschrak. Es lag auf dem Schreibtisch neben ihrem Kalender, halb verdeckt von einem Stapel Kataloge. Bei seinem Anblick erschienen prompt Bilder von Richard vor ihrem inneren Auge: sein Blick, als er ihr das Medaillon überreichte, Richard, wie er plötzlich die Tür festhielt, Richard, der sie im Wald erwartete.
Etwas irritierte sie. Sie hatte das Medaillon im Trubel der letzten Tage völlig vergessen. Und nun lag es auf dem Schreibtisch, und sie hatte es gleich entdeckt, ohne danach gesucht zu haben. Ohne es sehen zu wollen. Warum war es ihr dann nicht schon früher ins Auge gefallen?
Julie hörte plötzlich überdeutlich das Ticken der Uhr. Aus dem Augenwinkel sah sie Mike, der immer noch an der Haustür lehnte. Das Medaillon funkelte im Lichtschein der Lampe auf dem Couchtisch, es wirkte irgendwie unheilvoll. Julie merkte, dass ihre Hände zitterten.
Die Post, dachte sie plötzlich. Genau, das war es. Als ich den Poststapel auf den Tisch legte, ist das Medaillon irgendwie verrutscht. Sie schluckte. Oder?
Sie wollte es nicht länger im Haus haben. So lächerlich das sein mochte, es kam ihr mittlerweile so vor, als sei es mit einem bösen Zauber behaftet, als würde Richard wie von Zauberhand erscheinen, wenn sie es nur anrührte. Aber ihr blieb keine Wahl.
Sie zwang sich, die Hand auszustrecken und zog das Medaillon vollständig unter den Katalogen hervor. Erst erwog sie, es in den Müll zu werfen, beschloss dann aber, es in der Kommode zu verwahren und es irgendwann, wenn die ganze Geschichte ausgestanden war, in einem Pfandhaus zu versetzen. Wegen des Monogramms war es vielleicht nicht besonders viel wert, aber ein wenig würde sie dafür bekommen und das Geld gleich am nächsten Sonntag in der Kirche in die Kollekte geben.
Julie ging mit dem Medaillon ins Schlafzimmer und musterte es noch einmal, als sie die Schublade aufzog. Die schnörkelige Gravur auf der Außenseite sah professionell angefertigt aus.
Pech, dachte sie. Mehr als fünfzig Dollar würde sie für das Ding nicht bekommen.
Während sie ihre Wäsche ein wenig anhob, damit sie es darunter verbergen konnte, fiel ihr Blick abermals auf das Schmuckstück. Irgendetwas war anders. Etwas…
Ihr stockte der Atem.
Nein, dachte sie. Bitte… nein…
Sie hakte mit zitternden Fingern den Verschluss der Kette auf. Nur so konnte sie Gewissheit erlangen. Dann trat sie vor den Spiegel im Bad, legte sich die Kette um den Hals und hielt sie hinten am Verschluss zusammen.
Julie blickte in den Spiegel. Es war sofort offensichtlich.
Das Medaillon, das ihr früher bis zum Busen hinabhing, ruhte nun fünf Zentimeter höher.
Ich besorg dir eine kürzere Kette, hatte Richard gesagt. Dann kannst du es zu jeder Gelegenheit tragen.
Julie wurde plötzlich schwindelig, sie wich vom Spiegel zurück und ließ die Kette so abrupt los, als sei sie glühend heiß. Das Medaillon rutschte durch das T-Shirt an ihrem Körper entlang und landete schließlich klirrend auf den Bodenfliesen.
Der Schrei kam erst Sekunden später.
Als Julie auf das Medaillon hinabschaute.
Beim Aufprall war es aufgesprungen, und von beiden Seiten lächelte ihr Richard entgegen.
Diesmal war Jennifer Romanello nicht allein zu Julie gefahren. Auch Officer Pete Gandy saß am Küchentisch und sah sie gerade zweifelnd an. Das Medaillon lag auf dem Tisch, und Pete nahm es in die Hand.
»Also noch einmal von vorn«, sagte er, während er das Medaillon aufklappte. »Sie, Mike, schlagen den Kerl zusammen, und daraufhin schenkt er Julie ein paar Bilder von sich. Das kapiere ich nicht.«
Mike ballte unter dem Tisch die Hände, um nicht in die Luft zu gehen.
»Ich hab’s Ihnen doch schon erklärt! Er stellt ihr schon seit längerem nach.«
Pete nickte, betrachtete jedoch weiter die Bilder. »Ja, ich weiß. Das sagen Sie ständig, aber ich versuche nur herauszufinden, ob hier noch andere Erklärungen möglich sind.«
»Andere Erklärungen?«, fragte Mike aufbrausend. »Sehen Sie denn nicht, dass das der beste Beweis ist? Dass er hier im Haus war? Das ist Einbruch!«
»Aber es scheint doch nichts zu fehlen. Nichts deutet auf einen Einbruch hin. Bei Ihrer Heimkehr waren alle Türen und Fenster geschlossen. Das haben Sie selbst gesagt.«
»Wir behaupten doch gar nicht, dass dieser Kerl etwas entwendet hat! Aber er war hier im Haus, auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, wie er das bewerkstelligt hat. Sie müssen sich doch die Geschichte mit dem Medaillon vor Augen führen!«
Pete erhob beruhigend die Hände. »Nun mal langsam, Mike. Kein Grund zur Aufregung. Ich will der Sache nur auf den Grund gehen.«
Jennifer und Julie waren ebenso aufgebracht wie Mike, aber Pete hatte Jennifer gesagt, er würde die Sache ein für alle Mal klären, und sie solle schön den Mund halten. In ihrer Miene spiegelten sich Entsetzen und schlichte Neugier, und sie musste immer wieder daran denken, was sie bereits über Richard herausbekommen hatte. Konnte Pete wirklich so blind sein?
Gerade beugte er sich vor und legte das Medaillon auf den Tisch zurück. »Ich gebe ja zu, an der Sache scheint etwas faul zu sein. Und wenn Julie die Wahrheit sagt, hat Richard Franklin offenbar ein kleines Problem, das einen Besuch von mir erforderlich macht.«
Mikes Gesichtsmuskeln verkrampften sich. »Sie sagt die Wahrheit«, knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Pete ging nicht darauf ein und schaute Julie über den Tisch hinweg an. »Sind Sie ganz sicher? Dass Richard diese Bilder nur in das Medaillon stecken konnte, indem er in Ihr Haus einbrach?«
Sie nickte.
»Und Sie sagen, Sie hätten die Kette in der letzten Zeit nicht angerührt?«
»Nein«, erwiderte Julie. »Sie lag auf dem Schreibtisch unter ein paar Zeitschriften und Katalogen.«
»Also bitte, Pete«, warf Mike ein, »was tut denn das zur Sache?«
Pete überging seinen Einwand und musterte Julie weiterhin mit skeptischem Blick.
»Er kann die Bilder bei keiner anderen Gelegenheit hinterlassen haben?«, bohrte er weiter. »Wirklich nicht?«
Daraufhin wurde es sonderbar still in der Küche. Pete starrte Julie unverwandt an, und unter seinem wissenden Blick begriff sie endlich, worauf er anspielte. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
»Wann hat er es Ihnen erzählt?«, fragte sie leise.
»Was meinst du?«, wollte Mike sofort wissen. Mit von Abscheu erfüllter Stimme fuhr Julie fort:
»Hat er Sie angerufen und gesagt, er hätte noch etwas zu erwähnen vergessen?«, fragte sie. »War es so? Oder ist er Ihnen über den Weg gelaufen, ganz zufällig natürlich, und hat es dabei zur Sprache gebracht?«
Pete erwiderte nichts, aber das war auch nicht nötig. Ein jähes, kaum wahrnehmbares Zucken seines Kopfes verriet ihr, dass eine ihrer Vermutungen zutraf. Sie tippte auf das zufällige Zusammentreffen. Richard hatte es Pete gewiss persönlich sagen wollen, von Angesicht zu Angesicht. Um Pete irrezuführen.
Mike sah unterdessen zwischen Pete und Julie hin und her und versuchte zu begreifen, wovon sie sprach. Seit wann hatte sie mit diesem Officer Geheimnisse?
»Könnten Sie bitte einfach meine Frage beantworten?«, beharrte Pete.
Aber Julie schwieg und schaute Pete in die Augen.
»Sie hat die Frage doch beantwortet«, warf Mike schließlich ein. »Nein, es gab keine andere…«
Julie hörte ihn kaum. Sie wandte ihren Blick zum Fenster und stierte auf die zugezogenen Vorhänge.
»Doch«, sagte sie dann tonlos. »Es gab eine Gelegenheit, wo er es hätte tun können.«
Pete lehnte sich zurück und verschränkte mit hochgezogenen Augenbrauen die Arme. »Als er hier übernachtet hat, meinen Sie.«
»Was?«, rief Jennifer und riss den Mund auf.
»Was?«, echote Mike.
Julie wandte sich zu ihm um.
»Es ist nichts zwischen uns passiert, Mike«, sagte sie ruhig. »Überhaupt nichts. Seine Mutter war gestorben, er war durcheinander, und er wollte unbedingt mit jemandem darüber reden. Wir haben uns wirklich bloß unterhalten. Irgendwann ist er auf dem Sofa eingeschlafen.«
Obwohl sie die Wahrheit sagte, erkannte sie nach einem Blick in Petes Gesicht, dass Richard ihm gegenüber bereits etwas anderes angedeutet hatte. Und Mike sah das auch.
Richard ließ die Kamera sinken. Mit einem Teleobjektiv versehen, diente sie ihm als Fernglasersatz, und er hatte Mike und Julie seit ihrer Rückkehr am Abend beobachtet. Tagsüber war nie etwas zu erkennen, doch abends, wenn die Lampen brannten, konnte er Schatten sehen, und das genügte ihm.
Heute Abend würde sie es finden. Nach seinem Plausch mit Pete Gandy hatte er das Medaillon natürlich etwas sichtbarer platzieren müssen, und deshalb würde sie es heute auf jeden Fall auf dem Schreibtisch sehen. Sein Verfahren würde logischerweise zu unschönen Szenen führen, aber anders ging es nicht. Es war höchste Zeit, Julies kleine Affäre mit Mike ein für alle Mal zu beenden.
Nachdem Mike die Tür hinter den Polizisten geschlossen hatte, lehnte er sich bäuchlings dagegen, beide Hände aufgestützt, als solle er gefilzt werden. Er hielt den Kopf gesenkt, und Julie hörte seine tiefen Atemzüge. Singer stand neben ihm und sah ihn neugierig an, als fragte er sich, ob das ein neues Spiel sei.
Mike vermochte Julie nicht in die Augen zu sehen. »Warum hast du es mir nicht vorher gesagt?«, fragte er halblaut.
Julie wandte den Blick ab. »Weil ich fürchtete, du würdest ausflippen…«
Mike schnaubte, doch sie sprach unbeirrt weiter.
»Aber mehr noch, ich wusste, es würde deine Gefühle verletzen, und dazu bestand kein Anlass. Ich schwöre – es ist nichts passiert. Er hat bloß unablässig geredet.«
Mike richtete sich auf und drehte sich endlich um. Sein Gesichtsausdruck war wütend, hart.
»Das war die Nacht nach unserer ersten Verabredung, oder?«
Und der Abend, als er sie zum ersten Mal zu küssen versuchte und sie sich verweigert hatte.
Julie nickte. »Tolles Timing, nicht wahr?«
Doch Witze waren jetzt nicht angebracht. Sie bereute ihre Worte sofort und trat einen Schritt vor. »Ich wusste nicht, dass er kommen würde. Ich wollte gerade ins Bett gehen, als er vor der Tür stand.«
»Und dann? Du hast ihn einfach reingelassen?«
»So war es nicht. Wir haben gestritten, weil ich ihm sagte, dass es aus sei zwischen uns. Es ging ziemlich laut her, und dann hat Singer…«
Sie verstummte. Sie wollte das alles gar nicht ausführlich erzählen. Es schien ihr so sinnlos.
»Singer hat was?«
Julie verschränkte die Arme und zuckte die Achseln. »Singer hat ihn gebissen. Als ich die Tür schließen wollte, hat Richard versucht, mich daran zu hindern, und Singer ist auf ihn los.«
Mike starrte sie an. »Und das alles schien dir nicht wichtig genug, um es mir zu erzählen? Selbst nach allem, was passiert ist?«
»Genau«, sagte sie mit einem flehenden Unterton. »Es schien mir damals nicht wichtig! Ich habe ihm schließlich gesagt, dass ich ihn nicht mehr sehen will.«
Mike verschränkte die Arme. »Also noch einmal von vorn«, sagte er. »Er taucht bei dir auf, ihr habt Streit, Singer geht auf ihn los, und dann lässt du ihn bei dir übernachten. Ich mag mich irren, aber deine Geschichte ergibt irgendwie wenig Sinn.«
»Bitte sei doch nicht so, Mike! Bitte…«
»Wie bin ich denn? Ein bisschen wütend, weil du mich angelogen hast?«
»Ich habe dich nicht angelogen.«
»Nein? Wie nennst du es denn dann?«
»Ich hab’s dir nicht erzählt, weil es für mich unwichtig war. Es ist ja nichts passiert! Und die Dinge, die danach geschahen, haben nichts mit jenem Abend zu tun.«
»Woher willst du das wissen? Vielleicht hat ihn das erst auf die Idee gebracht!«
»Aber ich habe ihm doch bloß zugehört, mehr nicht!«
Mike sagte nichts, doch Julie sah den Vorwurf in seinen Augen.
»Du glaubst mir nicht?«, fragte sie. »Denkst du etwa, ich sei mit ihm ins Bett gegangen?«
Mike ließ die Frage für eine Weile im Raum stehen. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Julie zuckte zusammen. Am liebsten hätte sie sich umgehend zur Wehr gesetzt, ihn angebrüllt oder zum Gehen aufgefordert. Doch sie hielt sich zurück, denn Richards Worte hallten ihr durch den Kopf.
Jede Wette, du hast ihm nicht erzählt, dass ich bei dir übernachtet habe. Was meinst du, wie er das wohl aufnehmen würde?
Plötzlich wusste sie, dass auch dies zu Richards Plan gehört hatte. Er manipulierte sie, genau wie er Pete Gandy manipulierte. Sie holte tief Luft und gab sich Mühe, ruhig und ohne Zorn zu reden.
»Glaubst du wirklich, Mike, dass ich mit einem Mann ins Bett gehe, den ich kaum kenne, obwohl ich ihm gerade gesagt habe, es sei aus? Über den ich dir erzählt habe, dass ich ihn nicht mal leiden kann? Nach all den Jahren, die du mich kennst, glaubst du wirklich, ich würde so was tun?«
Mike starrte Julie an. »Ich weiß es nicht.«
Seine Worte waren wie ein Schock, und ihr kamen die Tränen. »Ich war nicht mit ihm im Bett!«
»Vielleicht nicht«, murmelte Mike. »Aber der Gedanke, dass du mir nicht vertraut hast, tut trotzdem weh.«
»Ich vertraue dir doch! Aber ich wollte dir nicht wehtun.«
»Du hast mir aber jetzt wehgetan, Julie«, sagte er, ergriff den Türknauf und öffnete die Tür.
»Warte – wo willst du hin?«
Mike hob die Hände. »Ich brauche etwas Zeit für mich, okay? Ich muss in Ruhe nachdenken.«
»Bitte, geh nicht«, drängte sie. »Ich will heute Nacht nicht allein sein.«
Mike schien zu zögern. Doch dann schüttelte er den Kopf und war verschwunden.
Richard beobachtete, wie Mike die Einfahrt hinabkam, in seinen Pickup stieg und die Wagentür zuknallte.
Er lächelte. Nun musste Julie endlich die Wahrheit über Mike erkennen. Dass auf ihn kein Verlass war. Dass Mike ein Mensch war, dessen Handeln impulsiv und von Gefühlen bestimmt war, nicht von Vernunft. Dass Mike ihrer nicht würdig war. Dass sie jemanden verdiente, der stärker war, intelligenter, und ihrer Liebe würdig.
Richard konnte es kaum erwarten, sie aus diesem Haus zu führen, aus dieser Stadt, diesem Leben, in das sie sich verstrickt hatte. Er hob die Kamera wieder an die Augen und beobachtete Julies Schatten durch die Vorhänge.
Selbst ihr Schatten war wunderschön.