Kapitel 16

Am nächsten Abend fuhr Mike kurz vor sieben bei Julie vor, in Dockers und weißem Leinenhemd. Er stellte den Motor ab, steckte den Autoschlüssel in die Hosentasche, schnappte sich die Pralinenschachtel und ging auf die Haustür zu, wobei er sich noch einmal stumm in Erinnerung rief, was er sagen wollte. Nach stundenlangem Grübeln hatte er sich für Folgendes entschieden: »Was für eine tolle Idee, zum Strand zu fahren! Der Abend ist wunderschön« – nicht nur, weil es natürlich klang, sondern vor allem, weil es nicht zu aufdringlich war. Dies war womöglich seine einzige Chance, und die wollte er nicht vermasseln.

Julie kam heraus, als Mike schon fast an der Tür war, und sagte etwas Freundliches, vermutlich irgendeine Begrüßung, aber ihre Stimme, zusammen mit der umwerfenden Erkenntnis, dass die Verabredung nun tatsächlich stattfand!, verwirrte seinen Gedankenfluss, und er vergaß komplett, was er hatte sagen wollen. Stattdessen starrte er sie sprachlos an.

Hübsche Frauen gab es überall. Es gab Frauen, die Männern im Handumdrehen den Kopf verdrehten, es gab Frauen, die dank einem einzigen Augenaufschlag mit einer freundlichen Ermahnung davonkamen, wenn ein Polizist sie wegen überhöhter Geschwindigkeit hatte rechts ranfahren lassen.

Und dann gab es noch Julie.

Sie war natürlich nicht makellos – eine leichte Stupsnase, etwas zu viele Sommersprossen, Haare, die sich nur selten bändigen ließen. Aber als Mike sie die Treppe herabkommen sah, das Sommerkleid leicht gebauscht in der Frühlingsbrise, kam es ihm vor, als hätte er niemals eine schönere Frau gesehen.

»Mike?«, sagte Julie.

Okay, dachte er, das ist deine Chance. Vermassel sie nicht. Du weißt genau, was du sagen wirst. Bleib einfach ruhig und lass es ganz natürlich klingen.

»Mike?«, sagte Julie noch mal.

Ihre Stimme holte ihn zurück.

»Fehlt dir was?«, fragte sie. »Du siehst ein wenig blass aus.«

Mike öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder, als er merkte, dass ihm sein Text wirklich nicht mehr einfiel. Keine Panik, dachte er, während ihn langsam Panik ergriff. Egal, was passiert, keine Panik! Er beschloss, den Mut nicht zu verlieren, und atmete tief durch.

»Ich hab Pralinen für dich besorgt«, sagte er und hielt ihr die Schachtel hin.

Julie sah ihn an. »Das sehe ich. Dankeschön.«

Ich hab Pralinen besorgt? Mehr fällt mir nicht ein?

»Hallo?«, trällerte Julie. »Jemand daheim?«

Der erste Satz… der erste Satz… Mike überlegte angestrengt, und bruchstückhaft kehrte die Erinnerung zurück.

»Du bist heute Abend am Strand wunderschön«, stieß er schließlich hervor.

Julie musterte ihn kurz und lächelte dann. »Danke. Aber wir sind ja noch gar nicht da.«

Mike schob die Hände in die Hosentaschen. Idiot!

»Tut mir Leid«, sagte er, da ihm nichts Besseres einfiel.

»Was denn?«

»Dass ich nicht weiß, was ich sagen soll.«

»Wovon redest du?«

Ihr Gesichtsausdruck war eine eigentümliche Mischung aus Verwirrung und Geduld, und vor allem deshalb war Mike endlich imstande, die richtigen Worte zu finden.

»Nichts«, sagte er. »Ich glaube, ich freue mich einfach darauf, mit dir zusammen zu sein.«

Julie spürte, wie aufrichtig diese Worte waren.

»Ich auch«, sagte sie.

Mike beruhigte sich etwas. Er lächelte, hielt aber den Blick in die Ferne gerichtet, als wollte er die Gegend einer genauen Prüfung unterziehen. Vor lauter Befangenheit wusste er nicht weiter.

»Also, bist du so weit?«, fragte er schließlich.

»Natürlich.«

Als Mike sich eben zum Gehen wandte, hörte er, wie Singer im Haus losbellte, und sah sich um.

»Kommt Singer nicht mit?«

»Ich wusste nicht, ob es dir recht wäre.«

Mike blieb stehen. Singer konnte unter Umständen dazu beitragen, dass die Situation nicht so verkrampft war. »Wenn du möchtest, nimm ihn doch mit! Am Strand findet er es sicher toll.«

Als Julie zum Haus schaute, bellte Singer erneut. Sein Gesicht tauchte am Fenster auf. Sie hätte ihn gern dabeigehabt, schließlich war er nahezu immer an ihrer Seite, aber letzten Endes war sie ganz offiziell mit einem Mann verabredet! Bei Richard – oder allen anderen Männern, mit denen sie ausgegangen war – hätte sie nicht einmal in Betracht gezogen, Singer mitzunehmen.

Sie lächelte. »Dann warte kurz, bis ich ihn geholt habe, okay?«

Ein paar Minuten später – sie fuhren gerade über die Brücke, die nach Bogue Banks führte – bellte Singer wieder. Er saß auf der Ladefläche des Pickup, hielt Zunge und Ohren in den Wind und machte einen rundum zufriedenen Eindruck.

Singer rollte sich vor dem Restaurant im warmen Sand zusammen, während Julie und Mike an einem Tisch auf der Terrasse Platz nahmen. Am langsam dunkler werdenden Himmel bildeten sich Zirruswolken. Die Seebrise, die auf der Insel immer etwas kräftiger wehte, zerrte rhythmisch an den Volants des Sonnenschirms am Tisch. Julie klemmte sich das Haar hinter die Ohren, damit die Strähnen ihr nicht ins Gesicht wehten. Der Strand war menschenleer – der große Besucherandrang setzte meist erst nach dem Gedenktag am 30. Mai ein –, und die Wellen schlugen sacht auf den glatten Sand am Ufer.

Im Restaurant herrschte eine zwanglose und angenehme Atmosphäre, und dank der Lage direkt am Strand waren die meisten Tische besetzt. Als der Kellner kam, bestellte Julie ein Glas Wein. Mike entschied sich für eine Flasche Bier.

Auf der kurzen Fahrt hatten sie sich ein wenig von dem vergangenen Tag erzählt. Wie üblich ging es um Mabel und Andrea, Henry und Emma. Während sie plauderten, versuchte Mike sich etwas zu beruhigen. Er war zwar immer noch nicht darüber hinweg, dass er seinen Plan zunichte gemacht hatte, indem er bereits den ersten Satz vergaß. Doch inzwischen ging alles glatt. Zu gern hätte er das seinem angeborenen Charme zugeschrieben, aber tief im Herzen wusste er, dass Julie dafür verantwortlich war.

Während der ersten Minuten im Restaurant fiel es Mike schwer, sich zu konzentrieren. Schließlich hatte er sich seit Jahren sozusagen täglich einen solchen Moment vorgestellt. Als Julie ihr Weinglas hob und die Lippen schürzte, um ein Schlückchen zu trinken, kam es Mike vor, als hätte er noch nie etwas so Sinnliches gesehen.

Es gelang ihm, zwanglos zu plaudern und Julie sogar ein paarmal zum Lachen zu bringen, doch bis das Essen kam, war er derart nervös und unsicher, dass er kaum mehr wusste, worum es in ihrem Gespräch eigentlich gegangen war.

Jetzt reiß dich zusammen, dachte er.

Mike war offenbar nicht ganz er selbst.

Julie wunderte es nicht. Sie wusste, dass es ein wenig dauern würde, bis er sich entspannt hatte. Ganz unbefangen war sie auch nicht, und er machte es ihr nicht unbedingt leichter. So wie er jedes Mal, wenn sie ihr Glas berührte, die Augen aufriss, hätte sie ihn am liebsten gefragt, ob er noch nie gesehen hätte, wie jemand Wein trank. Beim ersten Mal hatte sie sogar gedacht, er wolle sie warnen, weil ein Insekt in ihrem Wein gelandet war.

Beim Essen dachte Julie mehrfach an Jim und stellte unwillkürlich Vergleiche an. Zu ihrer Überraschung schnitt Mike ganz gut ab, so unbeholfen er sich auch anstellte. Mike würde nie sein wie Jim, aber in seiner Gesellschaft fühlte sich Julie ein wenig so, wie sie es aus den guten Zeiten ihrer Ehe in Erinnerung hatte. Und wie bei Jim war sie sich sicher, dass Mikes Liebe zu ihr nicht oberflächlich war, sondern auch in der Zukunft Bestand haben würde. Nur während eines kurzen Moments beim Essen beherrschte das Gefühl des Verrats ihre Gedanken, so als würde Jim über sie beide wachen, doch es verging so schnell, wie es gekommen war. Und gleich darauf durchströmte sie zum ersten Mal ein warmes Gefühl, wie eine Zusicherung, dass Jim nichts gegen eine Beziehung zwischen Mike und Julie einzuwenden hätte.

Der Mond war bereits aufgegangen, als sie ihr Mahl beendeten, und warf einen Fächer weißen Lichts auf das dunkle Wasser.

»Wie wär’s mit einem Spaziergang?«, schlug Mike vor.

»Hört sich gut an«, sagte Julie und stellte ihr Glas auf den Tisch.

Mike stand auf. Julie zupfte ihr Kleid glatt und zog den Träger hoch, der ihr von der Schulter gerutscht war. Mike streifte sie, als er ans Geländer trat, und über dem Salzwassergeruch nahm sie sein Rasierwasser wahr. Mike beugte sich vor, um Singer ausfindig zu machen. Sein Gesicht lag im Schatten, doch als er den Kopf umwandte, wurde er vom Mondlicht angestrahlt, wodurch er Julie seltsam fremd erschien. Seine Finger lagen auf dem eisernen Geländer. Sie waren ölverschmiert, und wieder einmal fiel ihr auf, wie sehr sich Mike von dem Mann unterschied, der sie einst zum Traualtar geführt hatte.

Nein, dachte sie lächelnd, ich bin nicht verliebt in Mike.

Zumindest noch nicht.

»Du warst eben beim Essen plötzlich so still«, sagte Mike. Sie spazierten direkt am Wasser entlang, hatten die Schuhe ausgezogen, und Mike hatte sich die Hose hochgekrempelt. Singer trabte voraus, die Nase dicht am Boden, um nach Krabben zu stöbern.

»Hab nur nachgedacht«, murmelte Julie.

»Über Jim?«

Sie sah Mike an. »Woher weißt du das?«

»Den Gesichtsausdruck hab ich oft genug gesehen. Du wärst eine miserable Pokerspielerin.«

Er tippte sich an die Augen. »Mir entgeht nichts.« »Ach ja? Was hab ich denn genau gedacht?«

»Du hast gedacht… dass du froh bist, ihn geheiratet zu haben.«

»Oh, das ist aber sehr vage.«

»Aber ich habe doch Recht, oder?«

»Nein.«

»Worüber hast du denn nachgedacht?«

»Unwichtig.«

»Dann verrät’s mir.«

»Na schön. Ich habe über seine Finger nachgedacht.« »Seine Finger?«

»Ja. Du hast Öl an den Fingern. Mir ging durch den Sinn, dass ich während meiner gesamten Ehe mit Jim nie gesehen habe, dass seine Finger so aussahen wie deine.«

Mike versteckte verlegen die Hände hinter dem Rücken. »Oh, das war nicht böse gemeint«, sagte sie. »Ich weiß ja, dass du es nicht verhindern kannst. Deine Hände müssen so dreckig sein.«

»Meine Hände sind nicht dreckig. Ich wasche sie mir ständig. Das Öl hat sich nur schon in der Haut festgesetzt.«

»Nun reg dich nicht auf. Du weißt doch, was ich meine.

Außerdem gefällt es mir irgendwie.«

»Wirklich?«

»Es bleibt mir ja kaum etwas anderes übrig. Das gehört schließlich mit zum Gesamtpaket.«

Mikes Herz schlug schneller. Er wollte dennoch unbedingt das Thema wechseln. »Hast du wohl Lust, morgen Abend noch einmal auszugehen? Wir könnten nach Beaufort fahren.«

»Klingt nicht übel.«

»Aber Singer müsste diesmal zu Hause bleiben.« »Kein Problem. Er ist ja schon groß.«

»Hast du einen besonderen Wunsch für morgen?« »Diesmal musst du etwas aussuchen. Ich habe heute meine Pflicht erfüllt.«

»Und du hast die richtige Wahl getroffen.«

Mike sah Julie verstohlen an und griff nach ihrer Hand.

»Was für eine tolle Idee, zum Strand zu fahren! Der Abend ist wunderschön.«

Julie verschränkte lächelnd ihre Finger mit seinen. »Ja, das stimmt«, pflichtete sie ihm bei.

Ein paar Minuten später kehrten sie um, weil Julie langsam kalt wurde. Mike ließ ihre Hand nur ungern los, selbst als sie bei seinem Wagen ankamen, aber natürlich blieb ihm nichts anderes übrig. Als sie eingestiegen waren, erwog er kurz, sie wieder zu ergreifen, aber Julie hatte beide Hände in den Schoß gelegt und sah zum Seitenfenster hinaus.

Die Heimfahrt verlief schweigsam, und als Mike Julie bis an die Tür brachte, musste er feststellen, dass er keine Ahnung hatte, was ihr durch den Kopf ging. Er wusste allerdings genau, was ihm durch den Kopf ging… Diesmal wollte er nichts falsch machen.

»Es war ein schöner Abend«, sagte er.

»Das finde ich auch. Wann kommst du morgen?« »Um sieben Uhr?«

»In Ordnung.«

Mike nickte. Er kam sich vor wie ein Teenager. Da ist er nun, dachte er, der große Moment. Jetzt gilt es.

»Also…«, begann er, so cool es ging.

Julie lächelte, sie erriet seine Gedanken. Sie nahm seine Hand, drückte sie kurz und ließ sie wieder los.

»Gute Nacht, Mike. Bis morgen.«

Mit dieser Abfuhr hatte er nicht gerechnet. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. »M… morgen?«, stotterte er hilflos.

Julie öffnete ihre Tasche und kramte nach dem Schlüssel. »Ja. Wir sind verabredet, schon vergessen?«

Sie fand den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Dann sah sie noch einmal zu Mike hoch. Singer war inzwischen bei ihnen angekommen. Julie schloss die Tür auf und ließ ihn hinein.

»Und danke noch mal für den netten Abend.«

Nach einem kurzem Winken folgte sie Singer ins Haus. Auch nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, blieb Mike verdutzt stehen, bis ihm aufging, dass Julie nicht zurückkam. Gleich darauf verließ er die Veranda und kehrte zu seinem Pickup zurück. Wütend trat er gegen die Kiesel.

Julie wusste, dass sie so bald ohnehin kein Auge zubekommen würde, also setzte sie sich aufs Sofa und ließ den Abend Revue passieren. Sie war froh, Mike auf der Veranda nicht geküsst zu haben, denn sie brauchte mehr Zeit, sich an ihre neuen Gefühle für ihn zu gewöhnen.

Vielleicht wollte sie ihn ja auch nur ein bißchen zappeln lassen. Mike war besonders süß, wenn er zappelte. Und Henry hatte Recht, es machte Spaß, ihn aufzuziehen.

Sie griff zur Fernbedienung und stellte den Fernseher an. Es war noch früh – nicht einmal zehn Uhr –, und sie entschied sich für einen Film auf CBS, in dem es um den Sheriff einer Kleinstadt ging, der immer wieder sein Leben aufs Spiel setzte, um andere Menschen zu retten.

Zwanzig Minuten später, der Sheriff war gerade im Begriff, einen Jugendlichen aus einem brennenden Auto zu retten, hörte Julie ein Klopfen an der Tür.

Singer war blitzschnell auf den Beinen, lief durchs Wohnzimmer und schob den Kopf durch die Gardinen. Julie vermutete, dass Mike noch einmal zurückgekommen war.

Doch dann begann Singer zu knurren.