Kapitel 35

Innerhalb von nur vierzig Minuten wimmelte es in Richard Franklins Haus von Polizisten aus Swansboro und Sheriffs aus Onslow County. Das Team von der Spurensicherung aus Jacksonville sammelte Fingerabdrücke und suchte nach Belegen dafür, dass sich Andrea dort aufgehalten hatte.

Jennifer und Pete standen mit ihrem Vorgesetzten draußen. Captain Russell Morrison war ein bärbeißiger, bulliger Mann mit schütterem grauem Haar und eng zusammenstehenden Augen. Sie erstatteten ihm ausführlich Bericht. Zuletzt erzählte Jennifer, was sie bei ihren Recherchen herausgefunden hatte.

Als sie geendet hatte, schüttelte Morrison empört den Kopf. Er war in Swansboro geboren und aufgewachsen und fühlte sich als der Beschützer des Ortes. In der Nacht zuvor war er mit als Erster an dem Platz eingetroffen, wo Andrea gefunden worden war.

»Das ist derselbe Bursche, den Mike in der Kneipe verprügelt hat? Der, von dem Julie behauptet hat, er stelle ihr nach?«

»Ja«, bestätigte Jennifer.

»Aber konkrete Beweise, die ihn mit dem gestrigen Verbrechen in Verbindung bringen, haben Sie nicht?« »Noch nicht.«

»Haben Sie mit Andreas Nachbarn gesprochen, um herauszubekommen, ob die ihn bei ihr gesehen haben?« »Nein. Wir sind direkt vom Salon hierher gefahren.« Russell Morrison dachte nach.

»Dass er geflüchtet ist, beweist noch nicht, dass er Andrea misshandelt hat. Ebenso wenig wie Ihre sonstigen Erkenntnisse über ihn.«

»Aber…«

Morrison brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich sage nicht, dass er unschuldig ist. Immerhin hat er versucht, einen Polizisten umzubringen.«

Er sah Pete an. »Sind Sie sicher, dass Sie unverletzt geblieben sind?«

»Ja. Ich bin nur stinksauer!«

»Das kann ich verstehen. Also, Sie leiten die Ermittlung, aber ich werde auch alle anderen verfügbaren Beamten einsetzen.«

Pete nickte. In dem Moment ertönte ein Schrei von Fred Burris, einem der im Haus beschäftigten Kollegen. Kurz darauf kam er auf sie zugehastet.

»Captain?«, rief er.

Morrison drehte sich zu ihm um. »Ja?«

»Ich glaube, wir haben etwas gefunden«, verkündete er.

»Was denn?«

»Blut«, sagte er schlicht.

Henrys Strandhaus befand sich auf Topsail Island, einer Landzunge eine halbe Meile vor der Küste, ungefähr vierzig Minuten von Swansboro entfernt. Im Hochsommer war die Halbinsel mit den weißen Sanddünen, auf denen Riedgras wuchs, ein beliebtes Erholungsziel für Familien, doch nur wenige Menschen lebten das ganze Jahr über dort. Im Augenblick war es noch sehr friedlich auf Topsail Island.

Wie bei allen Häusern ringsum war das Hauptgeschoss des Strandhauses oberhalb der Garage und Lagerräume angelegt und somit vor Sturmfluten geschützt. Von der hinteren Veranda führte eine Treppe zum Strand hinab, und von der Fensterfront aus bot sich ein ungehinderter Blick auf die heranrollenden Wellen.

Julie stand am Fenster und starrte auf das Wasser.

Nicht einmal hier konnte sie sich entspannen. Nicht einmal hier fühlte sie sich sicher.

Sie und Mike hatten sich unterwegs in einem Supermarkt mit ausreichend Proviant für eine Woche versorgt und bei einem Wal-Mart ein paar Kleidungsstücke gekauft. Schließlich wussten sie nicht, wie lange sie in dem Strandhaus bleiben mussten.

An sämtlichen anderen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen. Mike hatte Emmas Wagen in der Garage abgestellt, damit er von der Straße aus nicht zu sehen war. Auf der Fahrt war Mike Henrys Rat folgend dreimal vom Highway abgefahren und durch Wohngebiete gekreuzt, den Blick ständig im Rückspiegel. Niemand war ihnen gefolgt, das stand fest. Trotzdem wurde Julie das Gefühl nicht los, dass Richard sie irgendwie ausfindig machen würde.

Julie hörte Schranktüren klappern – Mike räumte gerade die Lebensmittel ein.

»Vielleicht haben sie ihn ja schon«, sagte er.

Singer tauchte neben Julie auf und schnupperte an ihrer Hüfte herum. Zerstreut tätschelte Julie ihm den Kopf.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mike, weil sie nicht auf seine Bemerkung reagiert hatte.

»Nein«, sagte sie, »eigentlich nicht.«

Mike warf ihr einen mitleidigen Blick zu.

»Hoffentlich geht es Andrea besser«, sagte er.

Als Julie abermals stumm blieb, hob Mike den Blick. »Hier sind wir sicher«, sagte er mit beruhigender Stimme. »Das weißt du doch, oder? Er kann unmöglich herausfinden, dass wir hier sind.«

»Das weiß ich.«

Aber ganz sicher war sich Julie nicht, und ihre Angst wurde plötzlich so stark, dass sie unwillkürlich vom Fenster zurückwich. Bei ihrer Bewegung spitzte Singer die Ohren.

»Was ist?«, fragte Mike.

Julie schüttelte den Kopf. Zwei Pärchen spazierten am Wasser entlang. Sie waren vor wenigen Minuten schon einmal am Haus vorbeigekommen, ohne auch nur herüberzublicken. Sonst war niemand zu sehen.

»Die Aussicht ist wunderschön, nicht wahr?«, versuchte Mike es erneut.

Julie senkte den Blick, So hatte sie es noch gar nicht gesehen.

Morrison hatte die Polizisten vor Richards Haus um sich geschart. Er übernahm das Kommando, verteilte die Aufgaben.

»Die Polizei aus Jacksonville fahndet nach dem Wagen«, sagte er, »und für Sie habe ich folgende Aufgaben: Haroldson und Teeter – Sie fahren runter zur Brücke und unterhalten sich mit den Jungs da, um noch etwas über Franklin in Erfahrung zu bringen. Wo er sich rumtreibt, wer seine Freunde sind, was er in seiner Freizeit macht… Thomas – Sie bleiben mit der Spurensicherung hier. Achten Sie darauf, dass das Beweismaterial ordnungsgemäß beschriftet und eingetütet wird. Burris – Sie fahren zu Andreas Wohnung und reden mit den Nachbarn. Ich will wissen, ob der Typ bei ihr gesehen wurde. Johnson – für Sie gilt dasselbe. Sie fahren nach Morehead City, um herauszufinden, ob sonst noch jemand bestätigen kann, dass Andrea und Richard Franklin zusammen dort waren. Puck – Sie finden heraus, mit wem Andrea Umgang hatte. Schließlich müssen wir ja auch in Betracht ziehen, dass Franklin nicht der Täter war.«

Morrison wandte sich an Jennifer und Pete. »Und Sie beide – Sie bringen möglichst alles über die Vergangenheit des Kerls in Erfahrung. Und sehen Sie auch zu, dass Sie etwas über diese Jessica herausbekommen. Ich will mit ihr reden, falls das geht.«

»Was ist mit der richterlichen Verfügung für J. D. Blanchard?«, fragte Jennifer.

Morrison sah sie direkt an. »Überlassen Sie das mir.«

Wie Julie und Mike machte auch Richard im Supermarkt Station. Dann stellte er sein Auto auf dem Parkplatz hinter dem Krankenhaus ab, wo nicht auffallen würde, wenn es ein paar Tage am selben Fleck stand. Mit den Supermarkttüten in der Hand begab er sich zu Fuß einen Block die Straße hinab zu einer Tankstelle, wo er den Waschraum betrat und die Tür hinter sich verriegelte.

In den Tüten befand sich alles, was er für seine Verwandlung benötigte – schließlich war es nicht das erste Mal: ein Rasierer, eine Schere, Haarfärbemittel, Bräunungscreme und eine billige Lesebrille.

Blieb nur noch das Problem, herauszufinden, wohin Julie verschwunden war. Dass sie fort war, wusste er inzwischen mit Sicherheit. Im Salon war niemand ans Telefon gegangen, und als er in der Werkstatt anrief, hatte einer von den Angestellten gesagt, Mike sei weggefahren.

Sie war also geflohen, aber wohin? Nun, das würde er bald herausfinden. Wie umsichtig die Menschen in solchen Situationen auch vorgingen, Fehler unterliefen ihnen immer. Und Julies Fehler bestand mit Sicherheit darin, dass sie irgendjemandem gesagt hatte, wo sie sich versteckte.

Henry oder Emma oder Mable wussten wahrscheinlich Bescheid. Und auch die Polizei. Man würde sie schließlich über den Ermittlungsstand auf dem Laufenden halten und ein Auge auf sie haben wollen.

Einer der Betreffenden, so viel stand fest, würde Richard direkt zu ihr führen.

Leise vor sich hin pfeifend, machte er sich daran, sein Äußeres zu verändern. Eine halbe Stunde später trat er wieder hinaus ins Sonnenlicht – blonder, gebräunter, mit Brille und ohne Schnauzer. Ein neuer Mensch.

Nun brauche ich nur noch ein anderes Auto, dachte er. Er marschierte zurück zum Einkaufszentrum.

Im Revier rief Jennifer zuerst die Polizeidienststelle in Denver an, wo sie mehrfach weiterverbunden wurde, bis sie endlich bei Detective Cohen landete. Sie stellte sich vor und berichtete dann von der Ermittlung. Während sie sprach, hörte sie Cohen leise vor sich hin pfeifen.

»In Ordnung«, sagte er, als sie ihren Bericht beendet hatte, »ich werde sehen, was ich tun kann. Ich bin gerade nicht an meinem Platz, deshalb rufe ich Sie in ein paar Minuten zurück.«

Jennifer legte auf und sah zu Pete hinüber. Er versuchte gerade bei diversen Fluggesellschaften an den Flughäfen in Jacksonville, Raleigh und Wilmington in Erfahrung zu bringen, ob Richards Geschichte von der Reise zur Beerdigung seiner Mutter stimmte. Falls ja, würde er auch herausbekommen, wohin er geflogen war. Und dann fanden sich vielleicht Menschen, die mehr über ihn erzählen konnten. Als das Telefon klingelte, ging Jennifer sofort dran. Es war Cohen.

»Wir haben Informationen zu mehreren Richard Franklins«, sagte er. »Das ist kein ungewöhnlicher Name. Bitte beschreiben Sie mir den, den Sie suchen.«

Jennifer gab eine kurze Personenbeschreibung durch Größe, Gewicht, Augen- und Haarfarbe, geschätztes Alter.

»Okay, einen kleinen Moment.«

Sie hörte, wie er Daten in den Computer eintippte.

»Hm«, sagte er schließlich.

»Was haben Sie gefunden?«

»Ich fürchte, wir haben nichts für Sie«, sagte Cohen zögernd.

»Nichts? Nicht mal eine Festnahme?«

»Nichts, was zu Ihrer Beschreibung passt. Wir haben Aufzeichnungen über sieben Männer namens Richard Franklin. Vier davon sind Afroamerikaner, einer ist verstorben, einer schon über sechzig.«

»Und Nummer sieben?«

»Ein Junkie. Ungefähr im Alter des Gesuchten, aber sonst stimmt nichts überein. Keine Chance, dass der als Ingenieur durchging, nicht mal einen Tag lang. Seit zwanzig Jahren diverse Haftstrafen. Und laut unserem Register war er nie unter der von Ihnen genannten Adresse gemeldet.«

»Haben Sie nicht noch eine andere Möglichkeit zu recherchieren? Gibt es noch Register aus anderen Städten?«

»Ist hier alles schon in unserem System enthalten«, sagte Cohen und klang genauso enttäuscht wie sie. »Es ist erst vor ein paar Jahren auf den neuesten Stand gebracht worden. Wir verfügen über Informationen über jede Festnahme seit 1977. Wäre er irgendwo im Staat Colorado festgenommen worden, wüssten wir das.«

Jennifer klopfte mit ihrem Stift auf einen Block. »Könnten Sie mir trotzdem ein Foto von diesem Junkie-Franklin zufaxen? Oder es mir per E-Mail schicken?«

»Sicher. Aber ich glaube kaum, dass das Ihr Typ ist«, sagte Cohen zweifelnd.

Nachdem sie aufgelegt hatte, versuchte Jennifer ihr Glück bei der Polizeidienststelle in Columbus.

Mabel hatte den Salon vormittags geschlossen und war nach Wilmington ins Krankenhaus gefahren. Nun saß sie auf der Intensivstation neben Andrea, hielt deren Hand und hoffte, dass sie Mabels Gegenwart irgendwie zur Kenntnis nahm.

»Es wird alles gut, Herzchen«, flüsterte sie, mehr zu sich selbst. »Deine Eltern werden auch bald hier sein.«

Statt einer Antwort hörte sie nur das regelmäßige Piepsen des Überwachungsgerätes.

Als Mabel Schritte vernahm, hob sie den Blick. Die Krankenschwester betrat den Raum. Sie kontrollierte Andreas Zustand alle zwanzig Minuten.

Die ersten vierundzwanzig Stunden seien die kritischsten, hatte der Arzt gesagt. Aber nur wenn Andreas Zustand bald Zeichen von Besserung erkennen ließ, hatte sie Chancen, das Koma ohne Hirnschäden zu überstehen.

Mabel verfolgte mit zugeschnürter Kehle, wie die Schwester die Monitoranzeigen prüfte und sich Notizen machte.

Ihrem Gesichtsausdruck entnahm Mabel, dass keinerlei Veränderung eingetreten war.

Jennifer beendete gerade ihr Telefonat mit der Polizei in Columbus, als Morrison aus seinem Büro kam.

»Ich habe die Verfügung«, sagte er. »Richter Riley hat sie gerade unterzeichnet, und sie wird jetzt zu J. D. Blanchard gefaxt. Wir müssten bald von ihm Informationen bekommen, es sei denn, die schalten ihre Rechtsabteilung ein und versuchen, die Sache zu verschleppen.«

Jennifer nickte, konnte aber ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Immer noch kein Glück?«, fragte Morrison.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Rein gar nichts. Weder in Colorado noch in Ohio auch nur ein Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung! Keine Festnahmen, nie auch nur eines Vergehens verdächtigt.«

»Das Fax aus Denver hat auch nichts gebracht?«

»Das ist nicht unser Mann. Nicht einmal annähernd.«

Jennifer musterte das gefaxte Foto noch einmal. »Das kapiere ich nicht! So ein Kerl taucht doch nicht einfach aus dem Nichts auf!«

Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Irgendwelche Neuigkeiten aus seinem Haus?«

»Offenbar hat er da kürzlich gründlich aufgeräumt. Die Spurensicherung hat zwar ein paar Sachen gefunden, aber ob die von Nutzen sind, wissen wir erst nach der Untersuchung. Momentan wird die Blutprobe nach Wilmington gebracht. Die Kollegen dort haben eins der besten Labors im Staat und werden die Probe auch mit Andreas Blut vergleichen. Das hat jetzt höchste Priorität.«

»Gibt es etwas Neues aus Morehead? Oder von den Bauarbeitern an der Brücke?«

»Bisher noch nicht. Franklin war anscheinend sehr zurückhaltend. Haroldson und Teeter haben nicht einen Menschen gefunden, der ihn mochte, geschweige denn mit ihm privat Kontakt pflegte. Nicht einer wusste, wo er wohnte. Burris und Puck haben berichtet, dass sich niemand erinnern kann, Franklin je in der Nähe von Andreas Wohnung gesehen zu haben. Jetzt recherchieren sie wegen weiterer möglicher Verdächtigen, für alle Fälle. Andrea hat sich offenbar mit einigen recht zwielichtigen Typen abgegeben, und deren Namen bringt Puck gerade in Erfahrung.«

»Ich bin sicher, dass Richard Franklin Andrea so zugerichtet hat«, beharrte Jennifer.

Morrison zuckte mit den Schultern. »Darüber haben wir in ein paar Stunden Gewissheit«, sagte er. »Was Morehead City anbelangt, dort ist Johnson mit Andreas Bild unterwegs. Gute Idee übrigens, das Foto mitzunehmen. Aber bislang hat es nichts ergeben. Allerdings sind da auch noch haufenweise Bars und Restaurants abzuklappern.«

Jennifer nickte.

Morrison deutete mit dem Kopf zum Telefon. »Haben Sie schon irgendetwas über die vermeintliche Jessica herausgefunden?«

»Nein«, sagte sie. »Noch nicht. Damit fange ich als Nächstes an.«

Julie saß auf der Couch. Singer lag neben ihr, ein Ohr wachsam vorgereckt. Mike stellte den Fernseher an, zappte durch die Kanäle und schaltete ihn wieder aus. Dann machte er zur Sicherheit noch einen Rundgang durchs Haus, prüfte mindestens zum fünften Mal, ob die Haustür abgeschlossen war, und schaute anschließend aus dem Fenster.

Alles war ruhig. Vollkommen ruhig.

»Ich glaube, ich rufe mal Henry an«, sagte er schließlich. »Um Bescheid zu sagen, dass wir angekommen sind.« Julie nickte.

Jennifer strich sich mit beiden Händen das Haar zurück und nahm sich dann die Fotos aus Richards Aktenkoffer vor. Im Gegensatz zu Julie hatte Jessica offenbar für die meisten Bilder fröhlich posiert. Auch dass sie Richards Frau gewesen war, schien unstrittig. Jennifer erkannte auf einigen Bildern einen Verlobungsring, zu dem sich später ein Hochzeitsring gesellte.

Leider verrieten die Fotos ihr nichts über Jessica selbst falls das überhaupt ihr Name war. Die Rückseiten waren nicht beschriftet, und es waren keinerlei geographische Anhaltspunkte zu entdecken. Nachdem Jennifer jedes einzelne Foto genau betrachtet hatte, fragte sie sich, wie sie an weitere Informationen über die junge Frau kommen sollte.

Sie durchforstete das Internet nach Hinweisen auf Jessica Franklin, geographisch begrenzt auf Colorado und Ohio, und nahm all jene Websites zu diesem Namen unter die Lupe, die mit Fotos aufwarteten. Es gab davon nur eine Hand voll, und kein Bild zeigte die Frau, nach der sie suchte. Kein Wunder. Nach einer Scheidung nahmen die meisten Frauen wieder ihren Mädchennamen an…

Aber wenn die beiden gar nicht geschieden waren?

Wie gewalttätig Richard sein konnte, hatte er bereits unter Beweis gestellt…

Jennifer warf einen Blick auf das Telefon und wählte nach kurzem Zögern Detective Cohens Nummer in Denver.

»Hallo, Detective Cohen, hier ist Jennifer Romanello. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal mit unserem Fall belästige. Aber diesmal bin ich auf der Suche nach Informationen zu Franklins Frau, Jessica Franklin«, sagte sie.

»Kein Problem«, antwortete er. »Seit Ihrem Anruf geht mir der Kerl nicht mehr aus dem Kopf. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Moment bitte.«

Sie wartete.

»Da habe ich wohl doch etwas Falsches in Erinnerung gehabt«, sagte er schließlich. »Es ist kein Mordopfer unter dem Namen Jessica Franklin registriert, und es gibt auch keine Vermisstenmeldung.«

»Könnten Sie möglicherweise etwas über die Eheschließung herausfinden? Wann sie stattgefunden hat, wie lange die beiden verheiratet waren?«

»Über solche Daten verfügen wir hier nicht. Aber Sie könnten mal einen Blick in das Grundbuch werfen, da Hausbesitz meist unter den Namen beider Eheleute geführt wird. Wenn die beiden ein Haus besessen haben, könnten Sie da fündig werden.«

»Können Sie mir die Nummer des Grundbuchamtes nennen?«

»Nicht auswendig, aber ich kann sie Ihnen raussuchen.«

Jennifer hörte, wie Cohen eine Schublade aufzog, fluchte und dann einen seiner Kollegen um ein Telefonbuch bat.

Gleich darauf las er ihr die Nummer vor. Jennifer notierte sie, bedankte sich herzlich und legte auf.

Kurz darauf kam Pete an ihren Schreibtisch gestürzt.

»Daytona!«, sagte er. »Der Hurensohn war in Daytona, als er angeblich zur Beerdigung seiner Mutter…«

»Daytona? Kommt da nicht Julie her?«

»Weiß ich nicht mehr«, sagte Pete hastig, »aber hören Sie mal… falls seine Mutter dort gestorben ist, müsste sie in der dortigen Zeitung in der Liste mit Todesfällen aufgeführt sein. Ich habe die Zeitung schon im Internet aufgerufen, infrage kommende Seiten werden gerade ausgedruckt. Ganz schön clever, was?«

Jennifer dachte schweigend darüber nach. »Finden Sie das nicht merkwürdig?«, fragte sie dann. »Ich meine, dass seine Mutter ausgerechnet in der Stadt gestorben sein soll, wo Julie aufgewachsen ist?«

»Vielleicht haben sich Richard und Julie ja als Kinder gekannt.«

Möglich, aber unwahrscheinlich, dachte Jennifer. Zumal es Belege gab, dass Richard vor vier Jahren noch in Denver gelebt hatte. Und Julie hätte eine frühere Bekanntschaft doch bestimmt erwähnt. Was also hatte er in Daytona gewollt?

Plötzlich wurde sie blass.

»Haben Sie eine Telefonnummer von Julies Mutter?«, fragte sie.

Pete schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Finden Sie sie heraus. Ich denke, wir sollten mal mit ihr reden.«

»Aber was ist mit den Todesanzeigen?«

»Vergessen Sie’s. Wir wissen ja nicht einmal, ob die Geschichte über seine Mutter stimmt. Stattdessen besorgen wir uns lieber bei der Telefongesellschaft eine Liste mit den Nummern, die er in letzter Zeit angerufen hat. Das hätten wir gleich tun sollen.«

Pete versuchte blinzelnd, mit ihren Gedankengängen Schritt zu halten. »Die Todesanzeigen helfen uns also nicht weiter?«

»Nein. Er war nicht in Daytona, um seine Mutter zu Grabe zu tragen. Er ist dort hingeflogen, um mehr über Julie zu erfahren. Darauf könnte ich wetten.«

Henry saß mit Emma am Küchentisch und verfolgte mit den Augen geistesabwesend eine Fliege, die immer wieder gegen die Fensterscheibe flog.

»Sie sind also sicher, dass ihnen niemand gefolgt ist?« Henry nickte. »Hat Mike am Telefon gesagt.« »Das heißt, sie sind jetzt in Sicherheit?«

»Ich hoffe es, aber beruhigt bin ich erst, wenn sie den Mistkerl geschnappt haben.«

»Und wenn sie ihn nicht kriegen?«

»Die finden ihn schon.«

»Und wenn nicht?«, bohrte Emma weiter. »Wie lange werden sich Mike und Julie verstecken müssen?« Henry zuckte mit den Schultern. »So lange es nötig ist.« Er schwieg für einen Augenblick. »Aber ich sollte wohl besser die Polizei anrufen und Bescheid sagen, wo sie sich aufhalten«, sagte er dann.

»Danke für die Information, Henry«, sagte Jennifer. »Sehr freundlich. Auf Wiedersehen.«

Mike und Julie hatten also die Stadt verlassen. Zwar waren sie für weitere Rückfragen nun nicht mehr so leicht zu erreichen, aber Topsail Island war nicht aus der Welt. Es befand sich noch im Bezirk, wenn auch am südlichen Ende – mindestens vierzig Minuten von Swansboro entfernt.

Die Anfrage beim Grundbuchamt hatte sich als Sackgasse entpuppt. Das Haus, in dem die Eheleute gewohnt hatten, lief nur auf Richard Franklins Namen.

In Ermangelung sonstiger Ansatzpunkte wandte Jennifer sich noch einmal den Fotos zu. Fotos verrieten nicht nur etwas über das, was fotografiert wurde, sondern auch über den Fotografen, so viel stand fest. Und Richard konnte gut fotografieren, er betrieb die Fotografie offenbar als Kunst. Worauf ja auch die im Haus gefundene Ausrüstung hindeutete.

Jennifer hatte dieser Tatsache bisher keine weitere Beachtung geschenkt. Nun fragte sie sich, ob sie nicht doch von Nutzen sein konnte. Aber wie?

Je länger sie die Fotos ansah, desto sicherer war sie, mit ihren Überlegungen auf der richtigen Fährte zu sein.