Kapitel 11
Julie ließ die Salontür hinter sich zufallen, noch ganz beschwingt von ihrem Plausch mit Mike. Mabel schaute vom Schreibtisch hoch.
»Wolltest du dich heute Abend mit Richard treffen?«, fragte sie.
»Nein. Wieso?«
»Er war da und hat nach dir gefragt. Hast du ihn nicht gesehen?«
»Ich war drüben bei Mike in der Werkstatt.«
»Du hast Richard auf dem Rückweg nicht gesehen?«
»Nein.«
»Ist ja komisch«, sagte sie. »Du hättest ihn doch auf der Straße treffen müssen! Er ist erst vor ein paar Minuten weg, und ich dachte, er wollte dich suchen.«
Julie schaute zur Tür. »Hat er gesagt, was er wollte?«
»Eigentlich nicht. Nur, dass er dich suchte. Wenn du dich beeilst, erwischst du ihn vielleicht noch.«
Mabel schaltete den Anrufbeantworter ein und räumte weiter ihren Schreibtisch auf. Julie überlegte, ob sie gehen sollte oder nicht. Der Augenblick verstrich – womit die Entscheidung gefallen war.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht«, sagte Mabel, »aber ich bin erledigt. Heute hatte wirklich jede Kundin, mit der ich zu tun hatte, etwas zu meckern. Wenn es nicht um ihre Haare ging, dann um die Kinder oder die Männer oder den neuen Pfarrer oder bellende Hunde oder darum, was für Rowdys die Autofahrer aus dem Norden doch sind. Manchmal möchte man sie einfach fragen, ob es nichts Wichtigeres gibt. Weißt du, was ich meine?«
Julie dachte noch über Richard nach.
»Muss wohl Vollmond sein«, murmelte sie. »Heute waren alle ein bisschen daneben.«
»Mike auch?«
»Nein, Mike nicht.«
Julie winkte erleichtert ab. »Mike ist immer ausgeglichen.«
Mabel zog die unterste Schublade des Schreibtischs auf und holte einen Flachmann heraus. »Tja, höchste Zeit, einen klaren Kopf zu kriegen«, verkündete sie. »Auch einen?«
Mabel genehmigte sich regelmäßig einen Schluck, um einen »klaren Kopf« zu bekommen, und Julie kannte in der Tat kaum jemanden, der so klar im Kopf war wie sie.
»Ja, gern. Ich schließ nur schnell ab.«
Mabel holte zwei Plastikgläschen aus der Schublade und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Als Julie sich zu ihr gesellte, hatte Mabel schon ihre Schuhe abgestreift, die Füße auf den Tisch gelegt und sich ein Schlückchen genehmigt. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelegt, fast so, als wähnte sie sich in einem Liegestuhl an einem fernen Strand.
»Und, was treibt Mike so?«, fragte sie schließlich, ohne die Augen zu öffnen. »Hat sich hier ja länger nicht blicken lassen.«
»Nichts Weltbewegendes. Arbeiten, sich mit Henry kabbeln, das Übliche. Sonst nicht viel.«
Julie hielt inne, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Oh, hast du schon gehört, dass er in ein paar Wochen im Clipper spielt?«
»Oh… hurra.«
Es klang wenig begeistert.
Julie lachte. »Sei nicht so gemein. Und außerdem ist es diesmal auch eine ganz gute Band.«
»Wird auch nichts nutzen.«
»So schlecht ist er gar nicht.«
Mabel lächelte und setzte sich aufrecht hin. »Ach, Schätzchen, ich weiß, er ist dein Freund, aber für mich gehört er fast zur Familie. Ich hab ihn schon in Windeln rumkrabbeln sehen, und glaub mir: Er spielt schlecht. Ich weiß, dass ihn das wahnsinnig macht, weil es immer sein größter Ehrgeiz war, Musiker zu sein. Aber wie steht schon in der Bibel zu lesen? ›Duldet nicht die schrecklichen Sänger, denn sie ruinieren die Ohren.‹«
»Das steht nicht in der Bibel.«
»Sollte es aber. Und wenn Mike damals schon gelebt hätte, stünde es vermutlich drin.«
»Für ihn ist Musik machen nun mal das Größte. Wenn ihn solch ein Auftritt glücklich macht, bin ich für ihn glücklich.«
Mabel lächelte. »Du bist wirklich ein liebes und besonderes Mädchen, Julie. Ganz egal, was andere über dich sagen – ich mag dich.«
Sie hob ihr Glas.
»Gleichfalls«, sagte Julie und stieß mit ihr an.
»Und? Wie geht’s mit dir und Richard?«, fragte Mabel.
»Ganz gut, glaube ich.«
Mabel hob das Kinn. »Glaubst du? Wie in: Ich glaube, ich sehe keinen Eisberg, Kapitän?«
»Es ist alles okay«, wiederholte Julie.
Mabel musterte kurz Julies Gesicht. »Warum hast du dann eben nicht versucht, ihn einzuholen?«
»Das hat keinen besonderen Grund«, antwortete Julie. »Ich hab ihn doch heute schon gesehen.«
»Aah«, sagte Mabel gedehnt. »Das erklärt dann wohl alles.«
Julie trank einen Schluck und spürte das Brennen in ihrer Kehle. Mit Mike konnte sie nicht über Richard reden, aber bei Mabel war das anders. Mabel würde ihr helfen, sich über ihre Gefühle für Richard klar zu werden, dachte sie.
»Erinnerst du dich an das Medaillon, das er mir geschenkt hat?«, fragte sie.
»Wie könnte ich das vergessen, mit deinen Initialen?«
»Na ja«, sagte Julie, »das Problem ist, dass ich es heute nicht getragen habe.«
»Und?«
»Ich fand das auch nicht so schlimm. Aber Richard war wohl gekränkt.«
»Wenn ihn so etwas schon kränkt, erinnere mich daran, ihm nie meinen Hackbraten vorzusetzen.«
Als Julie nichts sagte, schwenkte Mabel ihr Glas und fuhr dann fort: »Er war also gekränkt. Na und? Männer haben ihre Macken, und vielleicht ist das eine von seinen. Und es gibt Schlimmeres – glaub’s mir. Aber du solltest das, was heute vorgefallen ist, im Zusammenhang mit allem anderen beurteilen. Wie oft habt ihr euch bisher getroffen – dreimal?«
»Viermal. Wenn man das letzte Wochenende doppelt zählt.«
»Und du hast gesagt, er war nett zu dir, richtig?«
»Ja. Bisher.«
»Dann hatte er heute vielleicht nur einen schlechten Tag. Du hast doch erzählt, dass er wegen seiner Arbeit ständig auf Abruf ist, richtig? Vielleicht musste er Sonntag noch zur Arbeit und Überstunden schieben. Wer weiß?«
Julie trommelte mit den Fingern gegen ihr Glas. »Kann sein.«
Mabel schwenkte immer noch ihren Bourbon. »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, sagte sie ruhig. »Solange er nicht ausflippt, ist es doch keine große Sache.«
»Ich soll seine seltsame Reaktion also einfach vergessen?«
»Nicht unbedingt. Völlig ignorieren solltest du sie auch nicht.«
Julie schaute hoch, und Mabel sah ihr in die Augen.
»Hör auf eine Frau, die im Laufe der Jahre zu viele Dates hatte und zu viele Männer kennen gelernt hat«, sagte Mabel. »Jeder Mensch präsentiert sich zu Beginn einer Beziehung von seiner Schokoladenseite. Manchmal wachsen sich später kleine Macken zu großen aus, und den großen Vorteil, den Frauen haben, ist ihre Intuition.«
»Aber eben hast du doch gesagt, ich soll mir nicht den Kopf zerbrechen.«
»Genau. Aber hör auch auf deine Intuition.«
»Dann denkst du also, Richards Verhalten ist ein Problem?«
»Schätzchen, ich weiß nicht, was ich denken soll, genauso wenig wie du. Es gibt keine Zauberfibel, in der alle Antworten auf Beziehungsfragen stehen. Ich steuere bloß etwas gesunden Menschenverstand bei, mehr nicht.«
Julie schwieg für eine Weile. »Du hast wohl Recht«, sagte sie dann.
In dem Moment klingelte das Telefon, und Mabel drehte sich um. Gleich darauf sprang der Anrufbeantworter an. Sie lauschte kurz, wer es war, dann drehte sie sich wieder zu Julie um.
»Also vier Verabredungen bisher, hm?«
Julie nickte.
»Wird es eine fünfte geben?«
»Er hat mich noch nicht gefragt, aber ich glaube, er wird es tun.«
»Eine komische Art, die Frage zu beantworten.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast nicht gesagt, wie du reagieren willst, wenn er dich fragt.«
Julie wandte den Blick ab.
»Nein«, sagte sie, »das hab ich wohl nicht.«
Richard erwartete sie schon, als sie nach Hause kam.
Mit verschränkten Armen, ein Bein vor das andere gestellt, lehnte er an seinem Wagen, der direkt vor ihrem Haus stand, und beobachtete, wie sie in die Auffahrt einbog.
Als ihr Auto zum Stehen gekommen war, schaute Julie Singer an und löste ihren Gurt.
»Bleib hier im Jeep, bis ich was sage, okay?«
Singer spitzte die Ohren.
»Und benimm dich«, fügte Julie beim Aussteigen hinzu.
Richard stand inzwischen in der Auffahrt.
»Hallo, Julie«, sagte er.
»Hi, Richard«, sagte sie zurückhaltend. »Was machst du denn hier?«
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich hatte ein paar Minuten Zeit und dachte, ich komm auf einen Sprang vorbei. Ich war auch schon im Salon, aber da warst du wohl schon weg.«
»Ich habe Singer gesucht. Er war drüben in der Werkstatt.«
Richard nickte. »Hat Mabel auch gesagt. Ich konnte aber nicht warten – musste vor Feierabend noch ein paar Blaupausen ins Büro bringen, und leider muss ich auch gleich wieder weg. Aber ich wollte mich wegen heute Morgen entschuldigen. Ich hab mich wohl etwas seltsam benommen.«
Er lächelte zerknirscht, wie ein Kind, das beim Griff in die Keksdose ertappt wurde.
»Also…«, fing Julie an, doch Richard unterbrach sie mit erhobener Hand. »Ich weiß, ich weiß. Keine Erklärungen. Ich wollte nur sagen, es tut mir Leid.«
Julie strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Findest du es wirklich so schlimm, wenn ich das Medaillon zur Arbeit nicht trage?«
»Nein«, sagte er. »Glaub mir – darum ging es nicht.«
»Worum ging es dann?«
Richard schaute fort. Seine Stimme war so leise, dass Julie ihn kaum verstand.
»Wir hatten so ein schönes Wochenende, und als ich dann feststellte, dass du das Medaillon nicht trägst, fürchtete ich, du hättest das anders empfunden. Ich hatte Angst, dich enttäuscht zu haben. Ich meine… du weißt nicht, wie sehr ich die Stunden genossen habe! Verstehst du, was ich sagen will?«
Julie überlegte kurz und nickte dann.
»Ich wusste, dass du es verstehen würdest«, sagte Richard und blickte unruhig um sich, als wäre er in ihrer Gegenwart plötzlich nervös. »Tja, hör mal – wie gesagt, ich muss zurück zur Arbeit.«
»Okay«, sagte Julie nur und lächelte gequält.
Einen Augenblick später war er fort. Diesmal hatte er ihr keinen Kuss gegeben.