KAPITEL 68

 

 

»Die Zeit ist um.«

Der ungebetene Besuch ließ Baedeker aufschrecken. Nur wenige kannten den Zugangscode zu seinem Labor. Und nur wenige von diesen würden es wagen, hier unangemeldet zu erscheinen. Er drehte sich um und sah seine Befürchtung bestätigt. »Hallo, Achilles.«

Achilles blickte sich zwischen den aufgereihten Messinstrumenten und Computern um. Seine Mähne war aufwändiger frisiert denn je. »Wir haben Ihnen offensichtlich keinerlei Forschungsgelder vorenthalten.«

Der Unterton war alles andere als subtil: Jeglicher Mangel an Erfolgen wird auf mich zurückfallen. Es war völlig egal, dass es ganzen Generationen von Konkordanz-Forschern nicht gelungen war, die Technologie des Planetenantriebs herauszufinden.

»Dort drüben haben wir es etwas gemütlicher.« Baedeker deutete auf seinen kleinen Bürobereich. Dieser kurze Weg, ein wenig Zeit, sich zu sammeln – zur rechten Zeit Erfrischungen, die gereicht würden … das alles würde Zeit in Anspruch nehmen. Achilles war derart unangekündigt hier erschienen, um Baedeker aufzuschrecken – und das war ihm auch gelungen.

Er musste sich zusammennehmen.

Einige Dinge über den Antrieb hatte er auch schon in Erfahrung bringen können: Die zugrunde liegende Technologie zapfte tatsächlich die Nullpunktenergie an. Die Energiemengen, mit denen hier gearbeitet wurde, waren außergewöhnlich. Abgesehen davon hatte Baedeker bislang nur einige nichtinvasive Scans durchzuführen gewagt. Und die Daten, die er erhalten hatte, deuteten in äußerst kryptischer Art und Weise auf weitaus mehr hin, als sie letztendlich verrieten.

Baedeker vermutete, dass Quantenlogik dahinter steckte – und er zitterte vor Angst alleine schon bei der Vorstellung, sie aufzustören. Wenn er Recht hatte, dann führte ein unvorstellbar komplexes Quantensystem dazu, dass gewaltige Energiemengen abgezweigt und gerichtet eingesetzt wurden. Mit jeder Untersuchung, die er vornahm, ging er das Risiko ein, das System in einen ungewünschten Quantenzustand zu versetzen. Was würde dann geschehen …

Das war ungleich erschreckender als jegliche Technologie der Bürger.

Achilles wartete, bis Baedeker auf einem Kissenstapel Platz genommen hatte – und blieb dann stehen. »Die Situation mit den Ex-Kolonisten muss geklärt werden. Ihre Berichte waren alles andere als mitteilsam. Haben sie eine Möglichkeit gefunden, ihren Planetenantrieb aus der Ferne zu deaktivieren?«

»Bei allem Respekt«, setzte Baedeker an, »die Energiemengen, von denen wir hier sprechen, sind …«

»Beantworten Sie die Frage.« Achilles’ Untertöne pulsierten vor Ungeduld.

Baedeker erhob sich wieder und nahm mit weit gespreizten Vorderbeinen eine Stellung ein, die ungleich selbstbewusster wirkte, als er sich eigentlich fühlte. Er wollte nur fliehen. Doch die Kräfte, die zu manipulieren Achilles so begierig war, machten eine Flucht ohnehin sinnlos … »Ich habe keinerlei Steuermechanismen gefunden, die sich aus der Ferne manipulieren ließen.« Und er hatte auch keine bislang ungeahnte Schwäche gefunden, die er ausnutzen könnte. Wie sollte er das auch, wenn so wenig von dem, was er hier sah, für ihn überhaupt Sinn ergab?

»Das ist bedauerlich«, blökte Achilles. »Der Hinterste hat entschieden, dass wir nicht länger warten werden.«

»Wegen dieses Schiffes, das die Flotte passiert hat?«

»Das geht Sie überhaupt nichts an«, fauchte Achilles. »Wegen Ihres Scheiterns werden wir wohl deren Planetenantrieb auf eine andere Art und Weise ausschalten müssen.«

Baedeker zupfte sich an der Mähne. Diese ›andere Art und Weise‹ bedeutete: Bombardierung. Je mehr er über diesen Antrieb in Erfahrung brachte, um so mehr erschreckte ihn diese Vorstellung. »Das könnte Völkermord bedeuten.«

Achilles reckte einen seiner Hälse, um ein kleines Holo zu betrachten, mit dem Baedeker eine Wand seines Büros geschmückt hatte. »Die Outsider zu provozieren, würde Völkermord bedeuten. Und das betroffene Volk wären wir. Wenn auf unserer ehemaligen Kolonie irgendetwas Unerwartetes geschähe? Das wäre lediglich bedauerlich.«

Irgendwie klang diese beiläufige Gleichgültigkeit falsch. Baedeker gestattete sich einen Funken Hoffnung. »Es könnte noch eine andere Möglichkeit geben.« Ein Großteil seiner letzten Untersuchungen hatte das Ziel gehabt, etwas anderes – ganz egal was! – zu finden, was deutlich weniger gefährlich wäre.

»Ach?«

Baedeker hörte in der vorgeschobenen Gleichgültigkeit den kaum wahrnehmbaren Unterton reinen Interesses. »Wir hatten daran gedacht, diesen Planetenantrieb völlig überraschend auszuschalten, sodass die Schiffe der New Terraner zu wertvoll wären, um sie gegen Hearth zum Einsatz zu bringen. Und was, wenn wir diesen Plan genau auf die Köpfe stellen würden? Was, wenn wir in einem überraschenden Angriff sämtliche ihrer Schiffe zerstörten? Dann wären sie völlig wehrlos. Und dann würde vielleicht schon die Drohung, ihren Planetenantrieb zu beschädigen, ausreichen.«

»Interessant«, pfiff Achilles. »Falls Sie eine Möglichkeit sehen, sämtliche ihrer Schiffe zu zerstören.«

Heftig ließ Baedeker beide Köpfe auf- und abwippen. »Wir brauchen doch nur eine Methode, die Vorgehensweise, mit der wir individuelle Zellen zerstören können, zu verallgemeinern. Stellen Sie sich ein Netzwerk getarnter Komm-Bojen vor, das rings um New Terra zum Einsatz gebracht wird. Und zu einem passenden Moment werden diese Satelliten den ›Energieversorgungsanlage deaktivieren‹-Befehl abstrahlen, an sämtliche General-Products-Zellen auf der Oberfläche oder im Orbit gleichzeitig.«

»›Passend‹?«, wiederholte Achilles. Seine Augen leuchteten.

»Wir sollten handeln, wenn sämtliche ihrer Schiffe geortet wurden. Wenn ich mich richtig erinnere, wurden ihnen im Zuge der Separationsvereinbarungen nur sehr wenige Schiffe zugesprochen. General Products werden die entsprechenden Aufzeichnungen vorliegen. Wenn wir wissen, wie viele Schiffe sie haben, können wir uns darauf konzentrieren, sie zu orten.« Baedeker dachte dabei an Fernerkundung.

»Oh ja«, sang Achilles. Plötzlich wirkte er sehr glücklich. »Wir haben die Möglichkeit, diese Schiffe zu orten. Vielleicht haben Sie es doch schon wieder geschafft.«

 

Auf dem Hauptdisplay der Remembrance schimmerte eine Welt.

Funkelnd-blaue Ozeane. Kontinente voller Wälder und Felder. Weiße Wolkenbänder. Umringt war diese Welt von winzigen Sonnen, wie eine Perlenkette aus strahlend-gelben Topasen.

Einen Großteil von Achilles’ Leben hatte diese Welt über Hearth am Himmel gestanden. Und das würde sie auch wieder – nur dass Achilles selbst sie nicht mehr sehen würde. Er würde sich auf dieser Welt aufhalten und über sie herrschen. Das war seine Belohnung. Das hatte ihm Nike versprochen.

Achilles richtete sich auf. »Bereit?«

Baedeker, der auf der anderen Pilotencouch saß, rutschte unruhig hin und her. Obwohl er fast eine ganze Schicht lang ausgiebig seine Konsole betrachtet hatte, überprüfte er alles noch einmal. »Drei Schiffe stehen derzeit auf deren Haupt-Raumhafen. Zwei weitere befinden sich in einem synchronen Orbit über Arcadia.« Kurz flüsterte Baedeker seiner Konsole etwas zu, dann flammten fünf kleine Holos auf. Alle fünf richteten sich auf eine General-Products-Zelle hin aus, die in der Ferne zu erkennen war. »Alle fünf geortet.«

Genau, wie es ihm seine Spione auch berichtet hatten. »Und sind Sie bereit, sie alle auszuschalten?«

Ein heiseres Bass-Flüstern. »Ja, Achilles. Alle Bojen melden Zielerfassung. Ich erwarte Ihre Befehle.«

Ich erwarte Ihre Befehle. Daran könnte ich mich gewöhnen.

Getarnt war die Remembrance völlig unsichtbar – nur ein Hyperwellen-Radar konnte sie jetzt noch orten. Und über diese Technologie verfügten die Menschen nicht. Achilles fühlte sich wie Zeus persönlich, jederzeit bereit, diese kümmerlichen Menschen mit seinen Blitzen einfach auszulöschen.

Vielleicht sollte er, wenn seine Herrschaft begann, seinen Namen ändern.

Achilles ließ ein sechstes kleines Bild erscheinen. Das richtete sich auf ein Schiff aus, das ebenfalls abgestellt war, um den Kontinent der Menschen zu bewachen – was auch immer ihnen das noch nutzen mochte. Doch dieses Ziel besaß eine ganz besondere Bedeutung: Es war der alte Ramjet, mit dem die Kolonisten ihre – so vergängliche! – Freiheit erzwungen hatten. Und der Rumpf dieses Schiffes stammte nicht aus den Fabrikationsanlagen von General Products.

»Auf mein Zeichen«, sang Achilles. »Drei. Zwo. Eins. Jetzt.«

Die Laserstrahlen durchschnitten den alten Schiffsrumpf. Achilles stieß einen Triumphschrei aus, dann richtete er die Waffe neu aus, auf das größte noch verbliebene Wrackteil … und das nächste … und das nächste … Schließlich traf er den kleinen Bordvorrat an flüssigem Wasserstoff. Er blitzte auf, ging in die Gasphase und dann in den Plasmazustand über, ließ den Tank explodieren. Die weitaus meisten Wrackteile waren winzig klein, sodass man sie überhaupt nicht mehr orten konnte, doch die größeren Trümmer wurden durch die Explosion weit davongeschleudert.

Baedeker saß immer noch neben Achilles und betrachtete mit weit offen stehenden Mündern das Werk. Auf seinen Displays waren, nachdem die getarnten Kommunikations-Bojen sie nur kurz angefunkt hatten, fünf GP-Zellen verschwunden.

Drei unregelmäßig geformte Klumpen lagen jetzt auf dem Rollfeld des Raumhafens. Aus einem der Schrotthaufen stieg Rauch auf – wer wusste schon, welche Art Ladung dort gerade in Brand geraten war. Aus der Entfernung war es unmöglich, Details der Wracks zu erkennen – vor allem angesichts des dichten Qualms, der dort aufstieg –, doch Achilles konnte sich sehr gut vorstellen, was dort unten lag: Decks und Zwischenwände, Fracht und Vorräte, Thruster und Shunts des Hyperraumantriebs, das Lebenserhaltungssystem … Und zweifellos auch einige Leichen.

Was die plötzlich rumpflosen Schiffe im Orbit betraf, so hatte der Luftdruck sämtliche inneren Abteilungen bersten lassen. Trümmerwolken umgaben jetzt die Wracks. Jedes Teil, das sich irgendwie gelöst hatte oder abgerissen war, hatte durch die entweichende Luft einen leichten Auswärts-Stoß erhalten, als die Zellen versagt hatten.

Die Flotte der Rebellen, in einem einzigen Augenblick vollständig zerstört. Die Flotte war wieder in Sicherheit. Eine Welt – seine Welt –, die keine andere Möglichkeit mehr hatte, als sich zu ergeben.

Achilles sonnte sich in dieser Unbesiegbarkeit, die ihn erneut an den Olymp denken ließ, und übermittelte dann dem Planeten tief unter seinen Hufen das Ultimatum der Konkordanz.

Ringwelt 12: Weltenwandler
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