KAPITEL 4

 

 

Alleine saß Sigmund an einem kleinen Tisch in der überfüllten Lounge des Schiffes. Unmittelbar neben seinem linken Ellenbogen sah er eine Schicht blauer Farbe, dahinter lagen ein angeblich unzerstörbarer Schiffsrumpf und ein unmöglich zu erahnendes Ausmaß an … wovon auch immer. Sigmund wusste es nicht. Niemand wusste das.

Das Gute am Hyperraum war der Hyperraumantrieb. Bei einer Fahrt unter Hyperraumantrieb legte man innerhalb von drei Tagen ein Lichtjahr zurück. Das Schlimme am Hyperraum war, dass niemand genau wusste, was genau dieser Hyperraum eigentlich sein sollte. Immer wieder kam es vor, dass ein Schiff einfach verschwand. Die Wissenschaftler hielten dann jedes Mal gelehrte Vorträge, der Pilot müsse einer mathematischen Singularität zu nahe gekommen sein – dieser Krümmung des Raums in der Nähe eines jeden stellaren Massenzentrums.

Aber was in einem solchen Falle wirklich geschah, wusste niemand. Vielleicht stürzte das Schiff dann durch ein Wurmloch, nur um an irgendeinem anderen Ort wieder in den Normalraum zurückzukehren – unerreichbar, nicht einmal mit den zur Verfügung stehenden Kommunikationseinrichtungen, weit, weit entfernt. Oder – und das war genauso gut möglich – das Schiff hörte einfach auf zu existieren. Die Mathematik war in dieser Hinsicht mehrwertig.

Im Vergleich zu diesem sonderbaren Weniger-als-Nichts, das dort nur wenige Zentimeter vor ihm vorbeizog, waren eigenartige Gerüche und ungewohnte Nachthimmel bedeutungslos. Sigmund sehnte sich danach, eine Welt zu sehen. Irgendeine Welt.

Das Bier in seinem Trinkballon war für ihn tröstlicher als sämtliche Beteuerungen seitens der General Products Corporation, welch unzerstörbare Schiffsrümpfe sie doch herstellten. ›Unzerstörbarkeit‹ reichte wohl kaum aus, wenn die Möglichkeit bestand, dass das ganze Schiff einfach verschwand.

Da GP eine Firma der Puppenspieler war, und da Puppenspieler nun einmal Puppenspieler waren, war nur äußerst wenig über das Material bekannt, das beim Bau dieser Schiffsrümpfe – die GP immer nur ›Zellen‹ nannte – verwendet wurde, abgesehen natürlich von der wirklich beeindruckenden Garantie, die GP auf ihre Produkte gab. Sollte es tatsächlich jemand schaffen, aufgrund des technischen Versagens einer GP-Zelle den Tod zu finden, würden dessen Erben wirklich sehr, sehr reich werden.

Nun ja, für Sigmunds Erben galt das natürlich nicht. Er hatte keine Erben. Und er rechnete auch nicht damit, dass sich das jemals ändern würde. Er nahm das nicht persönlich – so dachte das Fruchtbarkeits-Komitee nun einmal über alle von Natur aus paranoiden Personen. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Achtzehn Milliarden Erdenbewohner waren auch wirklich einige Milliarden zu viel. Unter den gegebenen Umständen konnte es Sigmund dem Komitee wirklich nicht verübeln, dass sie es vorzogen, nur geistig Gesunden Nachkommen zuzugestehen.

Das hieß natürlich immer noch nicht, dass Sigmund diese Entscheidung auch zusagte. Er nippte an seinem Bier und versuchte, auf etwas schönere Gedanken zu kommen.

Nachdem Nakamura Lines so unerwartet Konkurs angemeldet hatte, waren nun sämtliche Schiffe bis auf den letzten Platz besetzt. Jede Kabine war belegt. Vor der kleinen Bar an Bord standen die Passagiere in Dreierreihen. Nur Sigmund und ein völlig vernarbter – und offensichtlich kampferfahrener – Kzin hatten einen Tisch für sich alleine. Selbst die Jinxianer teilten ihre winzigen Tische mit anderen.

Jinxianer: Auch kein schöner Gedanke, doch Sigmund mühte sich, seinen Gesichtsausdruck so neutral wie möglich zu halten.

Jinx war ein von Menschen besiedelter Mond eines Gasriesen, der Sirius A umkreiste. Und dieser Mond war wirklich nur gerade eben noch bewohnbar. Die Schwerkraft an der Oberfläche von Jinx lag bei 1,78g. Dort aufzuwachsen formte einen wirklich für das ganze Leben – und das im wörtlichen Sinne. Jinxianer hatten immer eine gewisse Ähnlichkeit mit Felsbrocken: Gedrungen und massig, ihre Arme etwa so dick wie Sigmunds Beine, und ihre Beine konnten manchem alten Baumstamm mühelos Konkurrenz machen.

Warum sollte irgendjemand dort leben wollen? Warum sollte irgendjemand dort eine Familie gründen? Flatlander und Spacer gleichermaßen schrieben das dem natürlichen Wahnsinn der Jinxianer zu.

Sigmund tat das nicht. Jinx war genau der richtige Ort, um dort eine Armee von Übermenschen zu züchten.

Ein Kellner passierte seinen Tisch; mit bewundernswertem Geschick drängte er sich an den Menschenmengen und den viel zu dicht gestellten Tischen vorbei. Sigmund nahm gerne einen weiteren Trinkballon Bier entgegen, als sich die Möglichkeit ergab, doch seine düsteren Gedanken kreisten nach wie vor um Jinx.

Nicht einmal Übermenschen würden die Erde bedrohen können – nicht, solange sie nicht zuvor die ungleich größere Flotte der Erde zerstört hätten. Daher auch diese durch keinerlei Belege gesicherte Gewissheit, die Sigmund überhaupt erst zu dieser Reise animiert hatte. Wo würden die Jinxianer wohl besser dafür sorgen können, technologisch gesehen die Oberhand zu gewinnen, als in diesem Institut auf ihrer Welt – dieses Institut mit dem nun wahrlich nicht gerade bescheidenen Namen ›Institut für Wissenschaften‹.

Das weitläufige Museum, das zu diesem Institut gehörte, und auch die gewaltigen, frei zugänglichen Datenbanken ließen eine gewisse Offenheit vermuten, doch ein Großteil der Forschungsergebnisse blieb nach wie vor den dort tätigen Wissenschaftlern vorbehalten. Diese Geheimhaltung schien die meisten Leute allerdings überhaupt nicht zu stören. Warum sollte es auch, wo das Institut doch eine öffentliche, gemeinnützige Einrichtung war? Unzählige Stiftungen, Förderungen aus der Wirtschaft, interinstitutionelle Arbeitskreise und staatliche Beihilfen finanzierten den gesamten Betrieb.

Sigmund nahm einen tiefen Zug aus seinem Trinkballon und verkniff sich ein Lächeln. Früher einmal, da war er ein verdammt guter Finanzanalyst im Dienste der Ermittlungsbehörden gewesen. Und so hatte er auf Jinx auch sämtliche öffentlich zugänglichen Aufzeichnungen durchgearbeitet.

Und er hatte nicht umsonst dem Hyperraum und fremden Welten getrotzt.

Ein Großteil der interinstitutionellen Arbeitskreise kooperierten mit verschiedenen staatlichen Universitäten auf Jinx. Ein Großteil der wirtschaftlichen Förderungen kamen von Firmen, die Staatsaufträge der Regierung von Jinx innehatten. Die Stiftungen stammten von der Elite von Jinx, mit zahllosen Kontakten zu derzeit äußerst einflussreichen Regierungsmitgliedern und vergleichbaren Mitgliedern im Ruhestand.

Geldwäsche war immer noch Geldwäsche.

Unwillkürlich wanderte Sigmunds linke Hand zu seinem Magen. Autodocs beseitigten nur physische Narben.

Immer wieder strömten neue Gäste in die Lounge, während andere sich verabschiedeten. Die Rattenkatze fletschte die Zähne, sobald sich ihr irgendjemand näherte. Sigmunds mürrische Miene war kaum mehr als ein blasser Abklatsch dieser Mimik. Und so war er auch nicht allzu überrascht, als plötzlich ein Schatten auf seinen Tisch fiel.

»Darf ich mich wohl zu Ihnen gesellen?«

Sigmund hob den Kopf und erblickte eine gertenschlanke Blondine mit grünfunkelnden Augen: erden-gertenschlank, nicht belter-abgemagert. Ihre Stimme klang erstaunlich kehlig. Mit unverhohlener Neugier blickte sie ihn an.

Er deutete auf einen freien Sitz. »Wie Sie mögen.«

Sie nahm Platz. »Ich heiße Pamela«, begann sie. »Einem Wunderländer bin ich noch nie begegnet.«

»Sigmund.« Er strich sich über den Bart, den er sich während der Fahrt hatte wachsen lassen. Dieser Bart sagte mehr über ihn aus als nur, von welcher Welt er stammte: Er ließ auch Rückschlüsse darauf zu, in welcher Phase seines Lebens er sich gerade befand. Am auffälligsten war ein eingewachster, langer Haarstachel an der rechten Seite des Kinns; die restlichen Barthaare trug er äußerst kurz geschoren. Den zugehörigen Schnurrbart hatte er schneeweiß gefärbt, sodass er einen perfekten Kontrast zu seinem schwarzen Anzug darstellte. »Ach, der Bart. Ja, das ist ’ne lustige Geschichte.«

Und auch ein lustiger Stil. Der einzige ›Wert‹, den dieser Bart in Wirklichkeit hatte, war die Tatsache, dass man geradezu absurd lange dafür brauchte, ihm genau diese Form zu verleihen. Auf Wunderland – einem von Menschen besiedelten Planeten, der Alpha Centauri A umkreiste – waren asymmetrische Bärte gerade der letzte Schrei … zumindest bei den reichen Müßiggängern. Pamela dachte wahrscheinlich, er gehöre zu den Neunzehn Familien, die damals die ersten Siedler gewesen waren – allesamt doch nur Schmarotzer!

»Würde ich mir gerne anhören.« Pamela lächelte den Kellner an, der gerade wieder vorbeikam. »Verguuz.«

›Verguuz‹ war ein typisches Wunderland-Gebräu. Sigmund hatte es probiert. Ein einziges Mal. Er erinnerte sich noch an einen Fausthieb auf den Solarplexus – gefolgt von einem leichten, minzigen Nachgeschmack.

Also wollte diese Pamela ihn hier beeindrucken.

»Eine interessante Wahl«, sagte er dann. »Das macht die Geschichte noch spaßiger.« Mehr sagte er nicht, bis ihre Bestellung eingetroffen war und Pamela einen Zug aus ihrem Trinkballon nahm. Sofort riss die Frau die Augen auf.

Sigmund reichte ihr seinen Trinkballon mit dem letzten Rest Bier. In einem einzigen, fast krampfartigen Zug leerte Pamela das Gefäß. »Ich stamme von der Erde«, erklärte Sigmund dann. »Mir hat einfach nur dieses exotische Aussehen gefallen. Wunderland ist die letzte Station meiner großen Rundreise. ›Andere Länder, andere Sitten‹ und so, Sie verstehen schon.« Jinx war weder die erste noch die letzte Station auf Sigmunds Route, weder der kürzeste noch der längste Aufenthalt – auf diese Weise konnte er besser verbergen, was ihn eigentlich interessierte. Jetzt signalisierte er dem Kellner, noch zwei weitere Bier zu bringen.

»Das ist wirklich lustig.« Pamela hustete immer noch, Tränen rollten ihr über die Wangen. »Zwei Flatlander. Aber der Bart gefällt mir trotzdem.«

Die einfachsten Verkleidungen sind immer noch die besten, dachte Sigmund. In allen Bereichen des von Menschen besiedelten Raumes verabscheuten die meisten Leute die Aristokraten von Wunderland. In deren Heimat mühten sich Revolutionäre darum, sie endlich zu stürzen. Nur ein ganz offensichtlicher Trottel würde auf seinen Reisen versuchen, einen dieser Aristokraten nachzuäffen.

Wer käme schon auf den Gedanken, bei diesem ›Trottel‹ könne es sich um einen Agenten der ARM in geheimer Mission handeln?

Endlich blitzten Pamelas Augen wieder so keck, wie Sigmund sie vorhin empfunden hatte. Jetzt legte sie ihm vertraulich ihre warme Hand auf den Unterarm. »Sigmund, erzählen Sie mir doch von Ihrer großen Tour!«

An Bord von Raumschiffen gab es nur wenig Abwechslung. Das Trinken war an Bord von Raumschiffen sehr teuer, und die offensichtliche Alternative – zumindest für Erwachsene – war kostenlos. Sigmund konnte sich nicht vorstellen, dass er die flotte kleine Pamela mit der sportlichen Art und Weise würde vergleichen können, mit der sich Feather von ihm verabschiedet hatte – und auch nicht, dass Feather von ihm erwartete, sich hier zurückzuhalten. »Hier ist es so beengt. Vielleicht sollten wir uns …«

Pamelas Blick ging jetzt an Sigmund vorbei. In der ganzen Lounge war es plötzlich ungewohnt still geworden. Als Sigmund einen Blick über die Schulter warf, sah er, dass der Captain des Schiffes sich seinem Tisch näherte. Das obligatorische Dinner am Tisch des Captains hatte Sigmund bereits miterleben dürfen. Es fiel ihm sehr schwer zu glauben, dass der freundliche Gastgeber, der sich so nett mit den Gästen erster Klasse unterhalten hatte, und dieser Mann, der jetzt mit grimmiger Miene auf ihn zukam, ein und dieselbe Person sein sollten.

»Ausfaller?«, fragte der Captain knapp.

»Ja.« Reflexartig musste Sigmund an den Kzintipassagier denken. Es hatte sechs Kzin-Kriege gegeben. Warum nicht auch einen siebten? Vielleicht erwartete das Hauptquartier der ARM, dass er dieses Alien in Gewahrsam nahm.

»Folgen Sie mir bitte, Sir.«

Sigmund folgte dem Captain bis auf die Brücke des Linienschiffes. Und als er die Dringlichkeits-Hyperwellenfunknachricht entschlüsselt hatte, die ihn aus dem Hauptquartier der ARM erreichte, hatte Sigmund das Gefühl, er hätte doch einen Verguuz getrunken.

Ringwelt 12: Weltenwandler
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