KAPITEL 60
Das Refugium des Hintersten schmiegte sich an die Wand eines grünen Berges, unmittelbar an der Küste; die Lage war spektakulär und außergewöhnlich abgelegen. Hinter einem wetterfesten Kraftfeld bot die Veranda einen atemberaubenden Panoramablick auf den felsigen Strand und die rauschende Brandung. Das Anwesen selbst war immens geräumig, beachtlich geschmackvoll dekoriert und kostspielig eingerichtet. Eines Tages werde ich mir ein Anwesen errichten lassen, das dem hier gleichkommt, entschied Achilles, sobald …
Eines nach dem anderen. Noch war es zu früh, schon seine offizielle Residenz zu planen.
Vesta und er teilten die Veranda mit dem Hologramm eines Schiffs der Outsider. »Das erleichtert es mir, mich ganz auf das Problem zu konzentrieren«, hatte Nike erklärt, bevor er zu seinem Sendestudio hinübergeschnellt war.
Unmittelbar nach seiner Rede schnellte Nike wieder zurück, und sofort brachte Vesta ihn auf den neuesten Stand der Dinge. Eine sofort durchgeführte Zielgruppenanalyse ergab eine positive Gesamtreaktion. Semantische Untersuchungen ließen vermuten, dass die Medien zum Standpunkt der Experimentalisten tendierten. Analysen von Echtzeitaufnahmen, die von den zahllosen Kameras im Dienste der öffentlichen Sicherheit auf ganz Hearth stammten, ergaben unzweideutig, dass immer mehr Bürger ihre Kleidung mit irgendetwas Orangefarbenem schmückten. Gegenkundgebungen der Konservativen wurden nur recht spärlich besucht. Ganz gewiss erreichte die allgemeine Unterstützung der Bevölkerung allmählich den kritischen Punkt.
Und zu all dem sagte Nike nur: »Ein Mandat gibt noch keine Marschroute vor.«
Vesta empfand diese Anmerkung als Tadel. Unruhig scharrte er über den Boden; unter seinen zierlichen Hufen klirrte der Marmor. »Selbstverständlich, Nike. Zweifellos. Wir werden immer noch die Outsider versöhnlich stimmen müssen. Da wir außerstande sind zu beweisen, dass sich NSW4 nach wie vor in unserer Obhut befindet, werden wir dafür zahlen müssen, den Planetenantrieb anderen überlassen zu haben. Dafür werden wir beträchtliche Geldmengen benötigen. Von den Menschen oder den Kzinti«, setzte er unglücklich hinzu.
»Ich brauche neue Optionen, keine Klagen«, schalt Nike ihn. »Wir haben ein Jahr Zeit, und wir können uns glücklich schätzen, dass die Outsider uns dieses eine Jahr zugebilligt haben. Und dann?«
Unterwürfig senkte Vesta die Köpfe.
Während der arme Vesta sich noch mühte, eine Rechtfertigung zu finden, fragte sich Achilles: In welcher Währung hoffte Vesta denn, diese Zahlung zu leisten? Während die Herde immer weiter davongaloppierte, verloren die Outsider verständlicherweise zunehmend das Interesse am Geld der Konkordanz. Doch um wessen Währung es hier ging, war kaum von Bedeutung; die Menge war das Hauptproblem. Der Preis für den Planetenantrieb war enorm.
Achilles war recht überzeugt davon, die Dinge stets realistisch einzuschätzen. Die Konkordanz konnte es sich nicht leisten zu zahlen. Die lästigen Flüchtlinge auf dieser Welt würden das Ausmaß dieser Zahlung nicht einmal verstehen – nicht, dass irgendjemand den Vorschlag gemacht hätte, sie überhaupt dazu zu Rate zu ziehen. Damit blieb nur noch die Möglichkeit, Naturschutzwelt Vier wieder irgendwie zur Flotte zurückzuholen – ob das irgendjemand auf NSW4 wollte oder nicht.
Oder es bestünde, nur der Vollständigkeit halber, auch noch die Möglichkeit, NSW4 einfach zu zerstören – auch das würde den Vorwürfen der Outsider jegliche Grundlage nehmen. Die Herausforderung würde dann darin bestehen, NSW4 gefahrlos zu zerstören. Gewiss, die Konkordanz brauchte nicht weiter den Einsatz von Antimaterie zu befürchten. Doch die Ex-Kolonisten verfügten immer noch über eigene General-Products-Schiffe. Sie hatten immer noch den Ramjet ihrer Vorfahren. Selbst noch die Trümmer, die unweigerlich zurückblieben, wenn die Konkordanz NSW4 tatsächlich zerstörte, würden – so sie denn in der Bahn der Flotte verblieben – eine immense Gefahr darstellen. Nur durch äußerste Verzweiflung ließe sich ein derartiges Vorgehen rechtfertigen …
Und abgesehen davon, kann ich ja wohl kaum über NSW4 herrschen, wenn ich zulasse, dass sie zerstört wird.
Ein leises Vibrato erklang aus der Tasche in seiner Schärpe: Das Klingeln bedeutete, dass Pan erfolgreich gewesen war – es war dem ranghöchsten von Achilles’ Anhängern gelungen, Baedeker zu erreichen. »Nike, Vesta, ich habe für unsere Beratungsgespräche einen unabhängigen Experten hinzugezogen.«
Kurz darauf trat Baedeker ein; er bewegte sich steif, die Pracht rings um ihn schien ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken. Vier der persönlichen Leibgarde des Hintersten eskortierten ihn.
»Unser einsiedlerischer Meister-Ingenieur ist zurückgekehrt«, trällerte Nike. Die Untertöne seiner Sprachmelodie verrieten Überraschung und Missbilligung gleichermaßen. Sich aus dem sozialen Netzwerk zurückzuziehen, war natürlich legal – aber es war äußerst ungewöhnlich. Und dass Baedeker nicht einmal für eine unmittelbare Vorladung des Hintersten persönlich zu erreichen gewesen war … das war, wenngleich immer noch nicht illegal, so doch beispiellos.
»Allerdings.« Achilles sah keinerlei Grund zu erwähnen, dass Vesta seine Position missbraucht hatte, um Baedekers Nutzung des Stepperscheiben-Systems nachzuverfolgen, und auch nicht, dass er die Wachen ausgeschickt hatte, um den Ingenieur einzuschüchtern. »Sie haben nach neuen Optionen gefragt. Wir alle erinnern uns noch daran, wie die Wildmenschen die Flotte zu Gesicht bekamen. Dank Baedekers Scharfsinn konnten wir aus der Ferne die GP-Zelle ihres Schiffes deaktivieren. Die Unzufriedenheit der Outsider ist die Folge einer Welt, die sich frei vor uns durch das All bewegt. Wir sollten versuchen, dieses Problem ebenso direkt anzugehen.
Ich fordere Baedeker heraus, seinen Triumph aus der Vergangenheit zu wiederholen, indem er den Planetenantrieb jener Welt aus der Ferne deaktiviert.«
Eine Welt unkontrolliert durch das All treiben zu lassen!
Baedeker gefror das Blut in den Adern, und doch fragte eine Stimme irgendwo in seinem Hinterbuckel sich beharrlich: Ließe sich das bewerkstelligen? Die Planetenantriebe waren möglicherweise tatsächlich die bestbewachten Geheimnisse der Konkordanz. Auf sie zuzugreifen, sie zu analysieren, vielleicht gar herauszufinden, wie sie genau funktionierten …
Nein! Seine instinktive Abneigung war völlig richtig gewesen! »Sie würden New Terra hilflos durch die Leere des Alls treiben lassen, um die Outsider zu beschwichtigen?«
Achilles’ Köpfe drehten sich einander zu, bis er sich selbst in die Augen blickte – die Geste verhieß reinen Spott. »Also glauben Sie nicht, das bewerkstelligen zu können.«
»Darum geht es nicht«, tschilpte Baedeker zurück und unterlegte seine Melodie mit einem Moll-Akkord, um seine Bestürzung noch zu betonen. Er selbst war Sklave auf NSW1 gewesen. Das veränderte jeden. Nessus’ drei »Kundschafter« – mit denen hatte Baedeker wirklich ein Problem. Aber eine ganze Welt zu vernichten, nur weil deren Bewohner die Freiheit ersehnten?
Abweisend pfiff Nike: »Er reagiert auch äußerst zögerlich auf eine Vorladung.«
Baedeker zuckte zusammen. »Ein derartiges Vorgehen würde Millionen Lebewesen gefährden.«
»Ausgezeichnet«, flötete Vesta. »Damit implizieren Sie, dass es sich durchaus bewerkstelligen ließe. Sobald wir dieses undankbare Volk hilflos gemacht haben, werden sie darum betteln, sich uns wieder anschließen zu dürfen. Und dann werden wir die Bedingungen festlegen.« Er warf Achilles einen bedeutungsschwangeren Blick zu – was er damit meinte, konnte Baedeker nicht einmal erahnen.
Hatten die beiden ihm nicht zugehört, oder war deren Verzweiflung schon so groß? »Das wäre schlichtweg falsch«, erklärte Baedeker jetzt. »Es ist boshaft. Ich werde damit nichts zu tun haben.«
Auf der anderen Seite der Galerie waren auf einem niedrigen Tisch Tabletts mit bereits geknackten Nüssen und frisch gehackten Gräsern aufgestellt, dahinter in Kristallglaskaraffen eine ganze Reihe verschiedener Säfte. Nun schlenderte Achilles zu den Erfrischungen hinüber und goss sich etwas ein. »Es ist unmöglich, die Outsider zu bezahlen. Es ist unakzeptabel, mit bewaffneten New Terranern Flanke an Flanke zu leben, selbst wenn sie sich bereit erklären würden, sich wieder der Flotte anzuschließen. Und dennoch müssen wir irgendetwas unternehmen, damit die Herde nicht dem Zorn der Outsider schutzlos ausgeliefert ist.«
Achilles hielt inne und nahm genüsslich einen Schluck; sein Gewissen war rein. »Wir wollen doch vernünftig sein, Baedeker. Sie würden etwas Böses tun, wenn Sie uns ohne jegliche Option in dieser Lage alleine ließen. Ohne eine geeignete Alternative wird das Geheime Direktorat stattdessen zum richtigen Zeitpunkt den Antrieb durch eine ungleich direktere Methode ausschalten: durch eine überraschende Bombardierung aus dem All.« Er nahm einen weiteren, tiefen Zug aus seinem Krug. »Der Physiker in mir fragt sich natürlich unweigerlich, was dann wohl passieren wird.«
Der Hinterste trat einen Schritt vor. »Das klingt vielversprechend, Achilles. Wenn wir ihre Welt dazu bringen können, hilflos im All zu treiben, werden die wenigen Schiffe, über die diese New Terranern verfügen, zu Rettungsbooten werden – sie sind dann viel zu wertvoll, um sie für einen Gegenangriff einzusetzen.«
Geheimnisvolle Technologie. Unbekannte Energien, die ausreichten, um eine ganze Welt zu bewegen – augenblicklich und unkontrolliert freigesetzt. Denn alles konnte wirklich geschehen! Und wer konnte schon sagen, ob die Auswirkungen dessen nicht sogar die Flotte selbst erreichen würden?
Der Plan war bösartig und leichtsinnig. Unglücklich sagte Baedeker: »Verschaffen Sie mir Zugang zu unserem eigenen Planetenantrieb. Ich werde sehen, was ich herausfinden kann.«
In der Privatsphäre, die Vestas Büro im Geheimen Direktorat bot, hob Achilles einen Pokal. »Auf den Fortschritt.«
»Auf den Fortschritt«, stimmte Vesta zu. »Die Frage bleibt weiterhin: Wird Baedeker Erfolg haben?«
Achilles leerte sein Gefäß und legte sich bequem auf einen Kissenstapel. Wenn sie alleine waren, bestand nicht mehr die Notwendigkeit, den Eindruck zu erwecken, er würde von seinem gewissenhaftesten Jünger Anweisungen entgegennehmen. »Baedeker wird Erfolg haben. Nachdem er sich jetzt unsinnigerweise derart viel Sorgen um New Terra macht, treibt sie ihn nur um so mehr an, davon bin ich überzeugter denn je.«
Achilles war tatsächlich so sehr davon überzeugt, dass er zu dem Schluss gekommen war, es sei jetzt wirklich an der Zeit, seine offizielle Residenz auf Naturschutzwelt Vier zu planen – seinem zukünftigen Reich.