KAPITEL 56

 

 

Über die Eisfläche hinweg kroch Nessus auf die einzige Funksignalquelle in der Nähe zu. Die Instrumente, die Teil seines Schutzanzugs waren, vermochten die Signale zwar zu orten, aber nicht zu entschlüsseln. Vermutlich war es nur allgemeines Gerede der Kzinti auf dem privaten Kanal.

Jeder Instinkt schrie Nessus zu, er solle umdrehen und im gestreckten Galopp in die entgegengesetzte Richtung davonrasen. Bürger hatten vor Raubtieren zu fliehen! Sie griffen sie doch nicht selbst an!

Anderenkopfs entfernten sich Bürger auch niemals von der Herde. Sie waren nicht als Kundschafter tätig. Wenn Nessus wahnsinnig genug war, diese Aufgaben zum Wohle aller zu übernehmen … dann musste er auch wahnsinnig genug sein, um diese Tnuctipun-Waffe zurückzuholen.

Und selbst neugeborene Bürger wussten, wie man Tritte austeilte.

Nessus erinnerte sich an Achilles’ beinahe legendäre Prahlerei: er sei nur verwundbar, wenn er dem Feind die Ferse zuwandte. Wieder einmal sah Achilles alles genau verkehrt herum. Bis an sein Lebensende würde Chuft-Captain noch an Nessus’ Hinterbein denken.

Während er die kahle Eisfläche überquerte, dachte Nessus erneut über Anne-Maries Worte nach. Die siebte Einstellung. Welchen Sinn sollte es denn haben, diesen Computer zu aktivieren? Er reagierte nicht auf Funksignale; Slaverstudent hatte ihn eigens an Bord des Kzinti-Schiffes gebracht, um ihm eine Antwort zu entlocken – und die war unverständlich gewesen.

Spione. Waffen. Längst ausgestorbene Sprachen. Mit nichts davon kannte sich Nessus aus. Er war wirklich wahnsinnig. Er erging sich in Wahnvorstellungen!

Sigmund Ausfaller ist Buchhalter gewesen. Und jetzt denk doch nur daran, was er alles bewirkt hat.

Eine Art Manie trieb Nessus immer weiter vorwärts. Seine Instrumente ermöglichten es ihm, immer weiter Kurs auf das Kzinti-Schiff zu halten. Ein Lichtschein glomm über einem nahe gelegenen Hügel, und dann begriff Nessus, dass er sein Ziel fast erreicht hatte. Vorsichtig streckte er beide Köpfe über den Felskamm hinweg. Dort lag die Klaue des Verräters; die Außenluke der Luftschleuse war geöffnet. Das Licht, das er gesehen hatte, kam aus dem Schiffsinneren. Nessus fragte sich, ob Jason und Anne-Marie überhaupt noch lebten.

Ein einzelner Kzin in einem Vakuumanzug stapfte über die Eisfläche. Auch wenn das Gerät, das er in seinen Pfoten hielt, Nessus nicht vertraut war, galt doch Gleiches nicht für den Griff. Es war Chuft-Captain; er trug die Tnuctipun-Waffe in ihrer bislang unbekannten, gewiss todbringenden Konfiguration.

Waffen. Spione. Längst ausgestorbene Sprachen. Übersah Nessus hier irgendetwas Entscheidendes, oder schob er hier seinen Ansturm auf einen bewaffneten Kzin auf – und legte dabei äußerst seltene, wenngleich durch das Unterbewusstsein gesteuerte, Vernunft an den Tag?

Was würde Ausfaller hier wohl sehen? Nessus starrte die Waffe in Chuft-Captains Pfoten an. Der Lauf war zylinderförmig. Jason hatte einen ›Kegel‹ erwähnt. Selbst wenn es zwei bislang unentdeckte Einstellungen geben sollte – wann hatte Jason dann diese zweite entdeckt?

Chuft-Captain nahm die Körperhaltung eines Scharfschützen an.

Wie sollte Nessus diese unbekannte Sprache so weit erlernen, dass er den Selbstzerstörungsmechanismus auslösen konnte?

Rasch zog Nessus die Köpfe hinter den Felskamm zurück. Als die Welt rings um ihn gleißend hell aufblitzte, rollte sich Nessus schon, so schnell und so fest er konnte, zu einer engen Kugel zusammen. Der Boden wogte wie ein Ozean bei Sturm. Nessus wurde hoch in die Luft geschleudert, dann landete er wieder auf dem Eis, nur um sofort wieder emporgerissen zu werden. Und noch einmal. Dieses Mal landete er genau auf seinem Hirnbuckel.

Und wieder wurde ihm schwarz vor Augen.

 

Als Nessus erwachte, ragten seine Beine geradewegs in die Höhe.

Mit steifen Bewegungen kam er wieder auf die Hufe, sein ganzer Körper schmerzte, und dann sah er, dass er weit von dem Felskamm fortgeschleudert worden war, hinter dem er sich verborgen hatte. Als er sich nun umblickte, konnte er erkennen, dass die Klaue des Verräters lautlos und majestätisch über dem Felskamm aufstieg; langsam drehte sie sich, dann krachte sie auf die gefrorene Ebene hinab. Eine Seite des Schiffes war rotglühend heiß. Umgeben von immer dichter werdendem Wasserdampf versank das Wrack nach und nach in der Eisdecke, aus der es vor so kurzer Zeit erst wieder aufgetaucht war.

Niemand an Bord konnte das überlebt haben.

Vorsichtig schlich sich Nessus näher heran. Die Außenluke der Luftschleuse war fort; der Aufprall hatte sie glatt abgerissen. Nur die Lichtkegel seiner Helmlampen erhellten jetzt die Luftschleuse; anscheinend hatte es die gesamte Innenbeleuchtung des Schiffes zerstört. Die Innenluke der Schleuse war geschlossen und sorgte dafür, dass im Schiffsinneren immer noch eine Atmosphäre bestand; Nessus musste eine Sicherheitsvorkehrung außer Kraft setzen, um in das Innere zu gelangen.

Er kämpfte gegen den heulenden Sturm an, als die Luft entwich, und schloss die Luke dann rasch wieder von der Innenseite. Das Heulen wurde schwächer, doch es hörte nicht ganz auf: Das Lebenserhaltungssystem mühte sich nach Kräften, die Luft zu ersetzen, die Nessus eben hatte entweichen lassen.

Methodisch durchsuchte Nessus Kabinen, Frachträume und Korridore, und er fand nicht das Geringste, bis er …

Eine weiträumig verschmierte Masse, die Nessus nur mit Mühe als die Überreste zahlreicher Kzinti erkannte, bedeckte die Wände des Raumes, in dem – daran erinnerte sich Nessus jetzt – sie alle befragt worden waren. Orangefarbenes Blut troff an den Wänden herab und bildete immer weitere Lachen. In der Mitte des Raumes, durch das Polizei-Haltefeld mitten in der Luft gehalten, hingen Jason und Anne-Marie.

Beide waren bewusstlos, und ganz offensichtlich fiel es ihnen schwer, überhaupt zu atmen. Dieses Mal musste das Haltefeld auch ihre Köpfe umfasst haben – was ein Glück war, sonst hätte der Aufprall ihnen das Genick gebrochen. Nessus versuchte, das Blutbad rings um sich zu ignorieren, während er versuchte, die Polizei-Haltefelder zu deaktivieren. Endlich fand er das entsprechende Steuerfeld. Jason und Anne-Marie sackten zu Boden.

Völlig erschöpft tat Nessus es ihnen gleich und wurde ebenfalls bewusstlos.

 

Die wohlbekannten Surr-, Klick- und Summlaute der Court Jester umgaben Nessus von allen Seiten. In der vertrauten Sicherheit seiner Kabine, hinter einer verriegelten Luke, sog er aus einem tragbaren Synthesizer mit heftigen Zügen künstliche Herdenpheromone in seine Lungen.

Dann kauerte er sich zu einer winzigen Kugel zusammen.

Der Kzin in der Nachbarkabine war die geringste von Nessus’ Sorgen. Tiefgefroren, wie er war, hatte Telepath den Absturz überlebt. Die Behörden von Jinx, die sie in wenigen Tagen erreichen sollten, würden darüber zu entscheiden haben, wann er wieder aufgetaut werden sollte. Nein, ein anderer Kzin ging Nessus nicht mehr aus dem Kopf …

Wenn er doch nur dieses befriedigende Knacken vergessen könnte, mit dem seine Hufe Chuft-Captain die Rippen zerschmettert hatten!

Deutlich beunruhigender war die Nachricht, die Nessus würde absenden müssen – sobald er alleine und in Sicherheit an Bord der Aegis wäre. Gewiss, der Schatten des Sonnensystems aus Antimaterie hing nicht mehr drohend über der Flotte. Stattdessen gab es dort jetzt den ungleich größeren Schatten der allmächtigen Outsider.

Gewaltige Ereignisse standen bevor. Nessus zitterte am ganzen Leib und wünschte sich, wieder auf Hearth zu sein. Dorthin gehörte er; er musste an den bevorstehenden Debatten teilnehmen.

Doch bevor er nach Hause zurückkehren konnte, musste er eine noch dringendere Aufgabe erfüllen …

Ringwelt 12: Weltenwandler
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