KAPITEL 50

 

 

Auf den Wettersatellitenbildern im öffentlich zugänglichen Netzwerk von Fafnir verfolgte Sigmund einen winzigen Punkt, der von Insel zu Insel hin und her zog. Dieser Punkt war das Luftschiff Wyvern; Endpunkt ihrer Fahrt war ein Ankerturm nur wenige Kilometer vom Shasht North Spaceport entfernt, dem Terminal von Outbound Enterprises und Sigmunds Hotel.

Einer der Passagiere an Bord der Wyvern hieß Martin Wallace Graynor. Der Peilsender, den Ander Beo unbemerkt untergeschoben hatte, bestätigte das.

Nachdem Shaeffer ihm also ›entkommen‹ war, hatte Ander ihn in diskretem Abstand verfolgt. Bedauerlicherweise ging Shaeffer nicht zurück zum Autodoc, um weiter zu genesen. Die letzte Insel, die die Wyvern planmäßig ansteuerte, befand sich in Transferkabinen-Reichweite zu Shasht, und so schnellte Ander das letzte Stück der Strecke dem Luftschiff voraus.

Ander hatte es tatsächlich fertig gebracht, Sigmund aus seinem Zimmer zu locken: Jetzt befanden sie sich im Hauptspeisesaal des Drake Hotels. Sigmund saß mit dem Rücken zum riesigen Panoramafenster, von dem aus man eine herrliche Aussicht auf endlose Wellen und einen einfach irgendwie falschen Himmel hatte. Als zwei Kzinti den Raum betraten, tauschten Sigmund und Ander die Plätze; auf einmal waren ein Ozean und ein Himmel doch nicht das Schlimmste, was man hier betrachten konnte. Habt ihr meine Eltern gefressen?

»Ist ja fast schon grausam«, sagte Ander. »Dass Beo jetzt glaubt, er sei mir entkommen.«

Wohin, außer dem Abflugterminal, konnte Beowulf denn jetzt gehen? Sharrol lag vermutlich schon steif gefroren an Bord des nächsten Eisfrachters nach Home. Bevor Ander Shaeffer gefolgt war, hatte er noch das verlassene Apartment der Graynors aufgesucht, und ebenso das Hotelzimmer, das Persial January Hebert, der berühmte Monster-Überlebende, angemietet hatte. Vermutlich hatte Sharrol vor ihrer Abreise aus Pacifica dieses Zimmer für Beo organisiert.

Gefunden hatte Ander überhaupt nichts, nicht einmal ein Holo von Sharrol und den Kindern. Sämtliches Privateigentum war gründlich desinfiziert. Auch für die Frage, wo sich der Autodoc wohl befinden mochte, fanden sich keinerlei Hinweise.

Vielleicht konnte Ander Beo ja noch einmal »zufällig treffen«, um diese Farce mit dem ›heimlichen‹ Handel zu einem Abschluss zu bringen. Wenn Ander Beo tatsächlich dazu bringen konnte, einen vernünftigen Preis zu fordern, wäre Sigmund durchaus geneigt, Beo das Geld auch tatsächlich zukommen zu lassen – und den Graynors die Flucht zu ermöglichen. Shaeffer hatte gegen zahllose Gesetze verstoßen – von den Einreisebestimmungen über Identitätsdiebstahl bis hin zu Eingriffen in die Verkehrssicherheit. Na und? Die Schuld lag doch eher bei Feather als bei ihm.

Der winzige Teil von Sigmunds Verstand, der noch nicht ganz durch die Trauer gelähmt war, fragte sich, wie Shaeffer es wohl aufnehmen würde, erneut gefasst zu werden. Ob er bereit wäre, für seine Freilassung die Koordinaten dieses Antimaterie-Sonnensystems preiszugeben?

Ander blätterte in der Weinkarte – natürlich in dem Teil, in dem statt der Preise immer nur ›Bitte fragen Sie den Sommelier‹ stand. »Sigmund, ich habe das Gefühl, wir haben hier richtig gute Arbeit geleistet. Vielleicht wäre es angemessen, eine Magnum …«

Feather war tot, und Ander wollte feiern? Sigmund konnte unmöglich darüber sprechen, aber er wollte jetzt ganz gewiss keinen Champagner bestellen. »Wir rechnen die Kosten für diese Flasche dann zu dem, was du mir sonst noch schuldest. Diese Überwachungslinsen und Ohrstecker, die du verloren hast, sind nicht gerade billig.«

»Ich habe sie nicht ›verloren‹.« Mit wehmütiger Miene schloss Ander die Weinkarte. »Sigmund, diese Dinger kann man nicht tagelang ohne Unterbrechung tragen. Meine Augen und Ohren haben mich fast in den Wahnsinn getrieben. Ich habe sie abgelegt und dann nur eine Zeit lang auf einem Beistelltisch liegen lassen.«

»Vergiss es.« Sigmund hatte einfach keine Lust, sich jetzt noch Anders Gejammer über die mangelnde Sorgfalt der Reinigungskräfte seines Hotels in Pacifica anzuhören.

 

»Er ist hier«, sagte Medusa.

Hier war in diesem Falle die Lobby von Outbound Express, zehn Stockwerke unterhalb von Sigmund, genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die KI-Assistentin überwachte die Sensoren, die Ander dort vor Stunden untergebracht hatte.

»Viel Zeit hat er ja nicht gerade verschwendet«, merkte Sigmund an. Shaeffers Luftschiff hatte erst vor einer Stunde angedockt. »Zeig’s mir.«

Der neue Beowulf Shaeffer, jetzt nur noch so groß wie ein typischer Flatlander, unterhielt sich mit der Frau hinter dem runden Tisch in der Haupt-Empfangshalle. Er hatte sich die Haare rot gefärbt und offensichtlich auch Tannin-Pillen geschluckt, doch es war zweifelsohne Beo. Als er sich vom Tisch abwandte – anscheinend waren die Formalitäten des Check-in jetzt abgeschlossen –, sagte Sigmund: »Medusa? Stell eine Verbindung zur Lobby her.«

»Outbound Express. Mein Name ist Machti, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Ausfaller. Ich muss dringend mit dem rothaarigen Mann sprechen, der gerade eben eingecheckt hat.« Miss Machti machte Beo auf sich aufmerksam und leitete das Gespräch an ein Telefon-Podest neben einer Fensterreihe in der Lobby weiter. Auge in Auge mit Shaeffer zu sprechen, fühlte sich sonderbar an.

Anscheinend ging es Shaeffer genauso. »Das ist eine lange Geschichte. Fragen Sie doch Ander.«

»Dann lautet Ihr Name jetzt also Graynor?«

»Braynard«, gab Beo mit beachtlicher Überbetonung der feinen Unterschiede zurück. Netter Versuch. »Wo stecken Sie?«

»Wo sollte ich denn sein?«, stellte Sigmund die Gegenfrage.

»Vielleicht damit beschäftigt, Carlos Wus Autodoc zu bergen?«

»Alles zu seiner Zeit. Er sollte auf keinen Fall hier bleiben.« Natürlich spielte Sigmund nur mit Shaeffer – aber besonders gut fühlte er sich dabei nicht. War das eine schlechte Angewohnheit? Versuchte Sigmund hier irgendwie, jemand anderem die Schuld für etwas zu geben, wofür derjenige doch eigentlich nichts konnte? Unaussprechliche Müdigkeit überkam ihn. Es wurde Zeit, dem Ganzen hier ein Ende zu bereiten.

Sigmund trat an das Fenster heran. Nach unten zu blicken war gar nicht so schlimm. Er winkte. »Sehen Sie nach draußen, Beo. Richten Sie den Blick nach links. Weiter. Hoch.

Ich bin Ihnen einen Schritt voraus. Es würde Stunden dauern, bis Sie eingefroren sind, vielleicht Tage, bis man sie verstaut hat und das Schiff gestartet ist. Ich muss nur die Straße überqueren, um Ihre Pläne zu vereiteln. Lassen Sie uns vernünftig miteinander reden, Beowulf.«

»Sie unterbreiten offensichtlich immer wieder Angebote, die ich unmöglich ausschlagen kann. Warum ausgerechnet ich, Sigmund? Ich habe Ander alles erzählt, was er wissen wollte.«

»Ich habe nichts von Ander gehört«, erwiderte Sigmund. Zumindest nicht seit dem Frühstück.

»Feather. Carlos. Die Pierson-Puppenspieler.«

»Trotzdem müssen Sie mit mir nach Hause zurückkommen, Beowulf.« Und dann begann der Tanz: Beo blieb bei der Geschichte, die er auch Ander erzählt hatte, und Sigmund tat so, als glaube er ihm jedes Wort. »Beowulf, sind Sie sich sicher, was Carlos anbelangt?«

»Feather hat ihn durchlöchert. Der Nanotech-Doc ist sein letztes Vermächtnis. Der Apparat ist Eigentum der Vereinten Nationen, und ich könnte vielleicht arrangieren, dass Sie ihn zurückbekommen.«

Sigmund hatte alle guten Karten auf der Hand, doch Shaeffer zog es dennoch bis zum bitteren Ende durch. Ich werde dich vermissen, dachte Sigmund.

 

Die Augen fest geschlossen, die Köpfe gegen die Unterseite seines Bauches gepresst, kauerte Nessus – zusammengerollt zu einer Kugel, im Inneren des so-gut-wie-unzerstörbaren Rumpfes der Aegis – unbemerkt am Grunde des Ozeans von Fafnir.

Er wagte es nicht, Ausfaller entgegenzutreten. Auch wagte er nicht, wieder nach Hause zurückzukehren, ohne es auch nur versucht zu haben. Und die ganze Zeit über ging die Planung für das voran, was Achilles so klinisch als ›die Rückgewinnung dessen, was wir so achtlos freigelassen haben‹ bezeichnete.

Mit gewaltiger Willensanstrengung entrollte sich Nessus. Das Stimmengewirr wurde lauter, ein Großteil dessen war unverständlich – die Signale wurden von den Sensoren weitergeleitet, die den Rand der Stepperscheiben in Sigmunds und Anders Zimmern säumten. Die Computer der Aegis konnten nur einen Bruchteil dessen auswerten, was dort geschehen und besprochen worden war: Sie mussten Störfelder und Verschlüsselungssysteme überwinden. Doch dass mehrmals davon gesprochen wurde, jemand wolle ›an Bord gehen‹ – ob es sich nur auf eine Fahrt zurück zur Erde bezog oder auf eine Fahrt nach Home –, verriet deutlich, dass Nessus die Zeit davonlief. Sigmund rechnete damit, schon sehr bald abzureisen.

Nessus hatte diesen ganzen, weiten Weg zurückgelegt, um einen mächtigen Recken in seinen Dienst zu nehmen. Seitdem hatte die Furcht Nessus fast pausenlos gelähmt. Wenn er tatsächlich persönlich mit Ausfaller zusammentreffen wollte, dann musste das bald geschehen.

Und warum dann nicht jetzt gleich?

Zitternd kam Nessus wieder auf die Hufe. Die Sensoren meldeten aus Anders Zimmer völlige Stille. Mit den Lippen betätigte Nessus die Transportsteuerung und schnellte davon.

Mit einem Flashlaser, auf äußerste Strahlbündelung eingestellt, bohrte er dann ein winziges Loch durch die Trennwand der beiden Zimmer. Sigmund war alleine; er sprach gerade an einem Videofon. Nessus nahm all seinen Mut zusammen und wollte gerade zu der Stepperscheibe hinüberschnellen, die verborgen in Sigmunds Zimmer untergebracht war.

Dann hörte er ein ganz leises Ping. Durch das winzige Loch in der Wand sah er, wie sich Ausfallers Zimmertür öffnete, und dann …

Nessus sprang auf die Stepperscheibe und schnellte sich zurück an Bord der Aegis. In Sicherheit.

 

Erst klingelte es leise an der Tür, dann hörte Sigmund, wie jemand vorsichtig anklopfte. Klopf. Klopf-klopf-klopf. Klopfklopf. Das musste Ander sein, der endlich die Checkliste für die Startvorbereitungen der Seeker abgearbeitet hatte.

»Tür öffnen, bitte!«, wies Sigmund die Zimmerautomatik an. Dann wandte er sich wieder Beos Holo-Abbild zu. »Und Feather? Wissen Sie, wir hatten niemals vor, sie auf einer fremden Welt frei herumlaufen zu lassen. Und es gibt da eine Waffe, die wir zurückwollen.« Er musste einfach fragen, auch wenn die großkalibrige Waffe, die Feather gestohlen hatte, vermutlich irgendwo am Meeresgrund lag, mittlerweile verkrustet vom Fafnir-Analogon zu Muscheln.

Ein Elefant versetzte Sigmund einen gewaltigen Tritt in den Rücken. Große Blutflecken platschten plötzlich auf das Videofon und die geborstenen, Funken sprühenden Überreste seiner Computer und Bildschirme. Im Fallen wirbelte Sigmund herum, kraftlos drehte er den Kopf in Richtung Tür.

Ander! Er hielt eine großkalibrige Waffe in der Hand; aus dem stummeligen Lauf stieg immer noch Rauch auf. War das Feathers Waffe? Derart todbringendes Kriegsgerät war nicht einfach zu finden.

Unvorstellbarer Schmerz ebbte ab, bis Sigmund überhaupt nichts mehr spürte – was noch viel erschreckender war. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, lösten sich einfach auf. Was war …

Irgendetwas packte ihn am Haarschopf und riss seinen Kopf in die Höhe, sodass er wieder in die Kamera blickte. Shaeffer starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sigmund bemerkte, dass in der zerfetzten Brust seines Spiegelbilds, das er im Fenster sah, eine entsetzliche Wunde klaffte.

Hatte er gehört, dass Beo protestierte? Sigmund wollte es gerne glauben.

Aus weiter Ferne hörte er Ander sagen: »Beowulf … unsere … Nanotechmaschine kaum verkaufen, ohne … Sigmund herausf… woher … haben.«

Verraten …

Sigmund hatte kaum noch Zeit für den Gedanken: Ich habe schon immer gewusst, dass es irgendwann einmal ein fürchterliches Ende nehmen würde, bevor alles in einem Mahlstrom aus purer Finsternis versank.

Ringwelt 12: Weltenwandler
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