GESPRÄCHE MIT REESE MAC ISAAC

Das Leben geht weiter, Marlais. So wie das Leben eben weitergeht. Ich komme nie zu spät zur Arbeit. Und so pünktlich, wie ich bei der Arbeit bin, so pünktlich sitze ich jeden Sonntag vor dem Radio und höre mir die verschiedenen Sendungen an. Ich bekomme den Sender aus Buffalo herein. Da läuft The Jack Benny Hour und Our Miss Brooks, außerdem eine Krimiserie namens Dragnet, eine andere über einen Detektiv mit dem Titel Yours Truly, Johnny Dollar und ein Mystery-Hörspiel mit dem Titel Lights Out. Diese Sendungen gelten heute als altmodisch oder nostalgisch, aber ich mag sie immer noch am liebsten. Und nicht zuletzt natürlich die Classical Hour. Manchmal feiern sie in der Classical Hour den Geburtstag eines Komponisten, indem sie so viel von seinem Werk spielen, wie in eine Stunde passt.

Und sonst? Freitags nach der Arbeit schau ich im Ballade & Fugue vorbei, und das schon seit Jahren. Randall Webb hat seinen Laden jetzt in der Argyle Street in der Nähe der City Hall. 1955 heiratete er »seine beste Kundin«, wie er es ausdrückte, eine gewisse Helen Duoma, die aus den Niederlanden stammt. Helen erzählte einmal, dass sie sich praktisch ausschließlich hier im Laden nähergekommen waren. Sie ist in der International Refugee Organization tätig, meistens als Dolmetscherin. Dreimal in der Woche arbeitet sie am Pier 21 mit einer Frau zusammen, die unter dem Spitznamen »German Sister« bekannt ist – sie heißt eigentlich Florence Kelly. Pier 21 ist die Stelle, über die Einwanderer nach Kanada gelangen. Die »German Sister« arbeitet in einer Gruppe namens »Sisters of Service«. Viele fragen sich, wie jemand mit dem irischen Namen Kelly dazu kommt, Deutsch zu dolmetschen. In Wahrheit ist Florence Kelly in Neuschottland geboren und aufgewachsen und hat erst an der Universität so gut Deutsch gelernt. Dennoch, so erzählte Helen Duoma, geschehe es oft, dass ein Einwanderer aus Deutschland behauptete, er erkenne an ihrem Akzent, aus welcher Gegend in Deutschland die »German Sister« komme.

Helen und Randall haben einen Sohn namens Talbot, mit vollem Namen Talbot Frederic Duoma Webb – Frederic nach Frédéric Chopin, der sowohl Helens als auch Randalls Lieblingskomponist ist. Randall verbringt ungefähr die Hälfte seiner Zeit zu Hause und die andere Hälfte im Laden, deshalb sehen wir uns nur an diesen beiden Orten. Helen und Randall laden mich regelmäßig zum kanadischen Thanksgiving und zu Weihnachten ein, und das ist immer nett. Wir verbringen auch den Silvesterabend zusammen, und bei dieser Gelegenheit fragen mich Helen und Randall jedes Mal unabhängig voneinander: »Wann heiratest du denn mal, Wyatt?« Und wenn ich dann nach Hause gehe, frage ich mich, ob sie das vorher abgesprochen hatten.

Ballade & Fugue hat Freitag und Samstag bis zehn Uhr abends geöffnet, sonst immer bis sechs Uhr. Randall hat Gipsbüsten von den großen Komponisten auf einem Regal stehen (es ist kein Kanadier dabei). Ich setze mich oft auf das Sofa und höre mir verschiedene Schallplatten an, während die Kunden kommen und gehen. Manchmal übernehme ich die Kasse, wenn Randall und Helen in ein Restaurant essen gehen, meistens ins Rex Hotel. Randall bleibt aber nie länger als eineinhalb Stunden weg. Zum Geburtstag schenken sie mir immer irgendeine Aufnahme. Dieses Jahr, zu meinem 43., waren es die Violinsonaten op. 5 von Arcangelo Corelli – meine erste Schallplatte von Corelli –, und ich ging sofort ins Hotel und hörte sie mir zweimal hintereinander an.

Es sind in letzter Zeit aber auch überraschende Dinge passiert. Zum Beispiel gibt es da ein Pfandhaus in der Salter Street. Es heißt J.P’s Pawn, nach der Inhaberin, einer gewissen J.P. MacPherson, die über Pier 21 aus Schottland gekommen ist. Wofür J.P. steht, weiß ich nicht. Ich bin an ihrem Laden schon so oft vorbeigegangen, dass ich es gar nicht zählen könnte. Oft schaute ich durch das Fenster hinein und sah J.P. mit einem Kunden reden. Ich sah auch das Schild über ihrer Theke, auf dem stand: KEIN FEILSCHEN – KEINE AUSNAH-MEN! Soweit ich das von draußen sagen konnte, war sie Ende vierzig, ein wenig rundlich, hatte rotes Haar und einen festen, entschlossenen Blick. Aber ich hatte ihr Pfandhaus nie betreten, bis vor ungefähr einem Jahr. An einem frostigen Samstag Nachmittag war ich ungefähr zehn Schritte von ihrer Markise entfernt, die sich unter der Last des Schnees durchbog – sie hätte sie einrollen sollen –, als ich sie mit einer Schneeschaufel vor dem Laden sah. Plötzlich rutschte sie aus und stürzte hart auf den Bürgersteig. Ich trat zu ihr und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich weiß nicht – können Sie?«, gab sie zurück.

Sie ließ sich von mir aufhelfen. Die Ärmel ihres Mantels waren voller Schneematsch. »Danke«, sagte sie. »Wie Sie sehen, haben wir eine Menge feine Waren im Schaufenster.« So schnell war sie wieder beim Geschäft. Als J.P. MacPherson in ihren Laden zurückging, fielen meine Augen auf fünf Radios mitten im Schaufenster. Und ich muss zugeben, Marlais, dass ich – obwohl ich nicht mehr ganz jung bin – fast in Tränen ausbrach, auf dem Bürgersteig. Da war ein Emerson Snow White, ein Majestic mit einem Charlie-McCarthy-Aufkleber, ein RCA von der Expo in San Francisco, ein RCA Victor La Siesta und ein Stewart-Warner-Gerät mit einem Aufkleber der Dionne-Fünflinge.

Mir war natürlich klar, dass diese Geräte in großer Zahl hergestellt worden waren. Trotzdem ging ich hinein und sagte zu J.P. MacPherson: »Ich würde gern die Radios in der Auslage kaufen.«

»Obwohl Weihnachten noch so weit weg ist?«, fragte sie.

»Ich will sie nicht als Geschenke.«

»Ich kann sie Ihnen einzeln herausholen, damit Sie sie eins nach dem anderen prüfen können, oder wollen Sie gleich alle sehen?«

»Gleich alle«, antwortete ich.

»Gut.«

Sie stellte die Radios auf der Theke auf. Ich sah sie mir an. »Hat zufällig einmal jemand viele Radios auf einen Schwung zu Ihnen gebracht?«, fragte ich. »So wie die hier – keine gewöhnlichen Radios.«

»So war’s wirklich«, antwortete sie. »Ich hab sie hinten stehen. Jedes einzelne ein besonderes Modell. Ich nehme an, Sie sind eine Art Sammler.«

»Darf ich auch die anderen sehen?«, fragte ich.

Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis J.P. weitere dreiundzwanzig Radios hereingebracht hatte, die nun den gesamten Ladentisch belegten.

»Ich habe sie schon eine ganze Weile hier«, sagte sie. »Einen Teil hab ich recht schnell verkauft, aber dann kein einziges mehr. Darum habe ich sie rausgenommen und hinten verstaut. Die fünf da hab ich erst letzte Woche wieder ins Schaufenster gestellt. Ein Glück für mich.«

»Ein Glück für uns beide«, sagte ich.

»Der Mann, von dem ich sie habe, hat insgesamt 58 Radios gebracht«, berichtete sie. »So etwas vergisst man nicht.«

»Ich weiß, auf Ihrem Schild da steht, dass Sie nicht feilschen, also will ich auch nicht lang den Preis verhandeln. Aber ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen.«

»Was für eins?«

»Ich nehme alle achtundzwanzig, wenn Sie mir sagen, wer sie Ihnen gebracht hat.«

Sie zögerte keinen Augenblick. Sie öffnete eine Schublade in einem Metallschrank und zog nach kurzem Suchen eine Rechnung heraus. »Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie.

»Mein Name ist Wyatt Hillyer«, sagte ich. »Ich kann Ihnen eine Telefonnummer geben, falls Sie’s überprüfen wollen – ich arbeite auf einem Müllsammelboot der Stadt Halifax. Stellen Sie die Radios für mich zurück, ich mache eine Anzahlung. Wie wär’s damit?«

»Auf einem Müllsammelboot, verstehe«, sagte sie. »Ich sehe euch oft draußen im Hafen.«

»Wir sind kaum zu übersehen, schätze ich.«

»Hören Sie«, schlug sie vor, »wenn Sie da einmal etwas finden, von dem Sie glauben, dass es sich verpfänden lässt …«

»Wir müssen alles melden, was wir aufgabeln«, erwiderte ich. »Aber das meiste, was wir finden, ist kaputt oder einfach unbrauchbar – allerdings nicht alles. Einmal haben wir zum Beispiel ein ganzes mehrbändiges Lexikon herausgefischt.«

»Im Ernst? Nun, Sie wissen jedenfalls, wo mein Laden ist, für alle Fälle.«

Sie betrachtete die Rechnung in ihrer Hand und sagte schließlich: »Diese Radios wurden von einem Mr. Paulson Lessard verpfändet, die Adresse lautet Robie Street 56 in Halifax.«

»Danke«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn ich Ihnen als Anzahlung alles gebe, was ich in der Brieftasche habe? Achtzehn Dollar. «

»Sie tragen viel Geld mit sich herum«, meinte sie. »Kommen Sie doch am Montag wieder, dann zahlen Sie alles auf einmal – was halten Sie davon?«

»Ich werde mir extra den Tag freinehmen«, antwortete ich. »Ich glaube, ich werde krank werden. Wann genau meinen Sie?«

J.P. lachte kurz, so als würde es ihr Spaß bereiten, bei dem kleinen Trick mitzumachen. »Also, Mr. Hillyer, Sie kennen Ihre Vorgesetzten – ich nicht. Aber damit Sie überzeugend wirken, würde ich vorschlagen, dass Sie um ungefähr drei Uhr nachts mit starkem Fieber aufwachen. Von Sonntag auf Montag. Sagen Sie, Sie seien mit starkem Fieber aufgewacht – genau so. Wenn Sie am Montag nicht auf der Straße gesehen werden wollen, kann ich meinen Mann Oliver Tecosky zu Ihnen rüberschicken. Er bringt Ihnen die Radios, und Sie geben ihm das Geld und unterschreiben den Kaufvertrag.«

»Eine Pfandleihe mit Hauszustellung. Das ist schon was«, meinte ich.

»Ich schreibe mir Ihre Adresse auf«, sagte sie.

»Ich wohne seit einem halben Jahr im Waverly Hotel«, antwortete ich. »Barrington 274.«

Sie notierte sich die Adresse. »Mal sehen, die Banken öffnen um neun, also wie wär’s um elf Uhr vormittags?«

»Ich bin unten in der Lobby.«

»Ich seh schon, dass ich mich bei Ihnen drauf verlassen kann, mein Geld zu bekommen, Mr. Hillyer«, sagte sie.

»Und ich seh schon, dass ich mich bei Ihnen drauf verlassen kann, einen fairen Preis zu bekommen«, gab ich zurück.

»Eines wird Sie vielleicht noch interessieren. Ich mache mit diesen Radios einen hundertprozentigen Gewinn, weil Mr. Lessard nicht mehr unter uns weilt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich glaube das, was in den Todesanzeigen in der Mail steht.«

»Es kommt nicht jeden Tag vor, dass jemand achtundfünfzig Radios verpfändet, stimmt’s?«

»Das war wirklich unvergesslich«, meinte sie. »Und wissen Sie, als Mr. Lessard diese Radios herbrachte, sagte er, dass er das Geld dafür verwenden will, nach New York City zu fahren, sich ein Hotelzimmer zu nehmen und in ein Orchesterkonzert zu gehen. Ich weiß nicht mehr, welches Orchester er meinte.«

Marlais, in diesem Moment war ich doch ziemlich sauer auf Paulson Lessard, diesen durchtriebenen alten Mistkerl, aber das behielt ich für mich. Ich wollte meinen Zorn nicht an J.P. auslassen.

Am folgenden Montag kam, wie versprochen, Oliver Tecosky, übrigens ein netter Mann, zu mir ins Hotel. Wir mussten einige Male mit dem Aufzug hinauffahren, bis auch das letzte Radio auf meinem Bett stand. Er nannte mir den Preis, ich zahlte den vollen Betrag, und er ging, nachdem wir in der ganzen Zeit vielleicht zehn Worte gewechselt hatten. Ich machte mir Kaffee, als das Telefon klingelte. Ich dachte mir, es könnte Mr. Tecosky sein, der ein Radio vergessen hätte, aber es war die Hotelbuchhalterin Frances Banner. Sie erinnerte mich, dass ich mit der Miete drei Wochen im Rückstand war. »Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Mr. Hillyer«, meinte sie. »Sonst sind Sie – nach meinen Aufzeichnungen – höchstens zwei Wochen im Rückstand.«

»Na ja, ich habe gerade viel Geld für achtundzwanzig Radios ausgegeben«, erklärte ich.

»Warum, um Himmels willen?«

»Darum habe ich mein Konto ein bisschen überzogen. Das heißt, dass ich die Miete noch nicht zahlen kann«, fügte ich hinzu. »Aber ich kann Überstunden machen, und dann zahle ich sofort.«

»Ich rufe auf Anweisung von oben an, Mr. Hillyer«, erklärte sie mir.

»Dann hat also Mr. Brockman gesagt, dass Sie anrufen sollen? «

»Ja, Mr. Brockman«, bestätigte sie. »Der Hotelmanager.«

»Kann ich ihn bitte sprechen?«

»Das wird nicht viel nützen, Mr. Hillyer«, erwiderte sie. »Ich habe mich bei anderen Hotels erkundigt, und Mr. Brockman schlägt das Homestead Hotel in der Duke Street vor. Das Zimmer dort ist um zwölf Dollar pro Monat billiger als bei uns, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Das ist keine gute Nachricht«, sagte ich.

»Es könnte schlimmer sein«, meinte sie. »Mr. Brockman berechnet Ihnen für diesen Monat keine Miete.«

»Das ist sehr anständig von ihm.«

»Im Homestead ist schon ein Zimmer für Sie reserviert. Mr. Brockman hat sich erlaubt, das zu erledigen.«

»Der Grund, warum er dort angerufen hat, ist nicht gerade eine Empfehlung für mich«, sagte ich.

»So schlimm ist das gar nicht, Mr. Hillyer«, meinte sie. »Sie sind nicht der Erste, für den wir die Sache so lösen. Und die Hotels in Halifax versuchen einander entgegenzukommen. Soweit es geht.«

Ich brauchte nur zwei Tage, um überzusiedeln. Ich wohnte jetzt in Zimmer 301 im Homestead Hotel, das zwar ein bisschen schäbiger als das Waverly war, aber mein Zimmer hatte saubere Fenster, und der Schrank bot genug Platz für die Radios. Das Bett hatte eine gute Matratze, und meine Nachbarn neben, über und unter mir waren recht ruhig. Ich hatte zwei Pagen vom Waverly überredet, mir zu helfen, meine Sachen durch die Stadt zu tragen. Ich zahlte ihnen ein Bier im Rigolo’s.

Eine Woche später kam ich von einem anstrengenden Arbeitstag auf rauer See zurück. Noch in den Arbeitskleidern setzte ich mich an meinen Tisch, aß Heilbutt und grüne Bohnen, die ich mir auf der Kochplatte warmgemacht hatte, dazu Karottenstäbchen, und hörte Corelli, nicht zu laut aufgedreht, als mir plötzlich die Idee kam, dass ich Cornelia Tell anrufen könnte. Vielleicht wollte ich einfach nur die Stimme einer guten Freundin hören, auch wenn es vielleicht nicht viel zu sagen gab. Ich rief in der Telefonzentrale an, und die Telefonistin fragte: »Zimmer 301, was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern mit einer Mrs. Cornelia Tell in Middle Economy sprechen«, sagte ich. »Ich habe die Nummer hier. Soll ich sie Ihnen ansagen?«

Eine Weile hörte ich gar nichts. Vielleicht war die Telefonistin neu in ihrem Job und wusste noch nicht, wie man ein Ferngespräch herstellte. »Wyatt Hillyer«, sagte sie schließlich, »ich habe Ihren Namen schon im Gästebuch gesehen.«

»Wie bitte?«

»Ich bin’s, Ihre frühere Nachbarin, Reese«, sagte sie. »Reese Mac Isaac.«

Ich kann dir garantieren, Marlais, ich fiel fast vom Sessel. Es war nicht so sehr die Tatsache, dass Reese Mac Isaac in Halifax lebte. Ja, ich hatte sie sogar zwei- oder dreimal auf der Straße gesehen, und einmal durch ein Restaurantfenster, aber da war ich mir nie ganz sicher gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie »Ihre frühere Nachbarin« gesagt hatte. So als wäre alles, was irgendwann vorgefallen war, gar nicht der Rede wert, und als hätten wir nur ein ganz normales nachbarschaftliches Verhältnis gehabt.

»Wissen Sie, ich habe Sie damals gesehen«, fuhr sie fort. »Wie viele Jahre ist das jetzt her? Sie standen mit zwei Leuten am Kai, beide ein ganzes Stück älter als Sie, und ich ging an Bord der Victoria, um nach New York City zu fahren. Das war nicht lange nachdem Katherine und Joe gestorben waren. Ich wurde damals von Zeitungsreportern verfolgt und musste für eine Weile weg. Ich blieb aber nicht lange in New York. Ich war so dumm und ehrgeizig, wissen Sie. Ich dachte mir, ich such mir einfach Arbeit als Schauspielerin, und stellte schnell fest, dass es Hunderte gab, die das Gleiche wollten. Das können Sie sich nicht vorstellen. Ich ging viel herum, dann saß ich wieder im Hotelzimmer. Aber ich wusste einfach nicht, was ich anfangen sollte, und so kehrte ich nach ein paar Wochen zurück. Wechselte von einem Job zum anderen, bis ich vor zwei Jahren hier im Homestead gelandet bin.«

»Dann sind Sie wohl ganz schön herumgekommen in Halifax«, sagte ich. »Genau wie ich, von Hotel zu Hotel.«

»Ja, stimmt.«

»Und Sie arbeiten als Telefonistin, wie damals«, fügte ich hinzu.

»Ich brauche eben einen Job, und in dem hier kenne ich mich aus.«

»Meine Eltern und ich, wir haben Sie damals in Widow’s Walk gesehen«, erzählte ich.

»Und – hat es Sie überrascht, dass sie mich nicht für den Oscar nominiert haben?«

»Was mich wirklich überrascht hat, war, was Sie meiner Mutter und meinem Vater bedeutet haben, unabhängig voneinander«, erwiderte ich. »Das hat mich wirklich überrascht.«

»Das hat uns drei genauso überrascht«, gab sie zurück.

»Ja, und meine Eltern so sehr, dass sie von einer Brücke gesprungen sind.«

Wieder schwieg sie eine ganze Weile. »Ich versuche jetzt, die Verbindung für Sie herzustellen, Wyatt«, sagte sie schließlich.

Ungefähr zehn Minuten später rief Reese Mac Isaac erneut an. »Ich habe es mindestens dreißigmal läuten lassen, doch Ihre Cornelia Tell hat nicht abgehoben. Soll ich es später noch einmal versuchen?«

»Vielleicht morgen«, antwortete ich.

»Ich darf das Telefon hier eigentlich nicht für Privatgespräche benutzen«, sagte sie. »Aber ich wohne wieder im selben Haus wie damals, in der Robie Street 60. Nur damit Sie’s wissen. «

»Auf Wiederhören, Frau Telefonistin«, sagte ich.

»Haben Sie gewusst, dass der alte Paulson Lessard angezeigt wurde und Strafe zahlen musste, wegen Ruhestörung?«

»Ich habe keinen Kontakt mit Paulson Lessard«, gab ich zurück.

»Das hat niemand, weil er tot und begraben ist, Wyatt«, sagte sie.

»Er hat die Radios meiner Mutter verpfändet.«

»Das war nicht nett von ihm.«

»Das war Diebstahl.«

»Ich weiß, das ist nichts Besonderes, dass er wegen Ruhestörung angezeigt wurde. Ich meine, wir haben schlimmere Dinge erlebt, wenn ich an den Krieg denke, oder? Was zählt da schon eine kleine Ruhestörung? Aber es war so – als Sie damals weggingen, da haben Sie doch mit Paulson Lessard vereinbart, dass er sich ums Haus kümmert. Sie haben ihm den Schlüssel gegeben.«

»Stimmt.«

»Nun, an einem Sonntagabend drehte er Katherines Radios alle zusammen auf volle Lautstärke auf. Wenn ein Geist in einem Zoo auftauchen würde, gäbe es auch keinen größeren Lärm. Wissen Sie, ich war gerade zurück aus New York und schlief, als es passierte. Ich wachte auf und schaute aus dem Küchenfenster, aber ich sah niemanden in Ihrem Haus. Eine Nachbarin von gegenüber rief die Polizei. Ich ging hinaus auf die Veranda. Die Nachbarin stand auf dem Rasen vor eurem Haus. Sie hat nie viel mit mir geredet. Eigentlich hat niemand mit mir geredet – außer den Zeitungsreportern, und was die über mich schrieben, war das Letzte, lauter Mist über mich und Katherine, über mich und Joe. Eine Zeitung bot mir sogar Geld an, damit ich meine ›wahre Geschichte‹ erzähle.«

»Die wahre Geschichte einer Hure«, warf ich ein.

»Ja, so ungefähr«, fuhr sie fort. »Jedenfalls kam dann ein Streifenwagen, und zwei Polizisten klopften an die Tür. Da hatten sich schon mindestens zehn Leute bei euch vor dem Haus versammelt. Ich sah wieder aus dem Küchenfenster. Ein Polizist stand auf eurer Veranda und leuchtete mit der Taschenlampe ins Esszimmerfenster, und da sah ich dann Mr. Lessard – er stand auf eurem Esszimmertisch, splitterfasernackt. Kein hübscher Anblick. Und er fuchtelte mit einem Spachtel in der Luft herum, so als würde er ein Orchester dirigieren.«

»Und wie ging es weiter?«, fragte ich.

»Sie machten die Haustür auf und redeten erst mal ein Wörtchen mit Paulson Lessard«, erzählte Reese. »Er hatte sich in ein Tischtuch gewickelt. Am Ende wurde er nur wegen Ruhestörung angezeigt.«

»Ich schätze, das hat den Ruf meines Hauses nicht gerade verbessert«, bemerkte ich.

»Eins muss man ihm lassen«, fuhr Reese fort, »die Pflanzen hat er immer gegossen. Er hat den Rasen gemäht und den Schnee weggeschaufelt. Er war ja schon alt, aber er stieg sogar auf eine Leiter, um die Fenster zu putzen.«

»Er hat die Radios meiner Mutter verpfändet«, erwiderte ich. »Aber ich hab sie zurückgeholt.«

»Aus dem Pfandhaus?«, fragte Reese.

»Genau.«

»Du meine Güte … Sie mussten also Ihre eigenen Erbstücke zurückkaufen.«

»So kann man’s auch sehen.«

»Wyatt, meine Schicht dauert von vier Uhr bis Mitternacht, siebenmal die Woche, aber sonntags darf ich schon um zehn aufhören. Also, wenn Sie mir aus dem Weg gehen wollen – und das könnte ich verstehen –, dann telefonieren Sie besser nicht in dieser Zeit, okay?«

»Ich muss vielleicht sowieso wieder mal das Hotel wechseln«, sagte ich.

»So geht’s natürlich auch«, meinte sie.

Ich hörte das Summen der Telefonzentrale im Hintergrund – Reese musste einen Anrufer vermitteln, hielt aber die Verbindung mit mir nicht und beendete unser Gespräch ganz abrupt.

Als ich nachdachte, schien es mir dann doch nicht mehr ein so unglaublicher Zufall zu sein, dass Reese Mac Isaac ausgerechnet in dem Hotel arbeitete, in dem ich wohnte. Schließlich war sie schon früher Telefonistin gewesen. Die meisten Hotels in Halifax hatten eine Telefonzentrale. Und wenn ich so oft das Hotel wechselte – warum sollte sie es dann nicht auch machen?

Aber weißt du was, Marlais? Da hätte schon Lenore Teachout unsere Telefonate mithören und notieren und mir eine Abschrift geben müssen, damit ich noch sagen könnte, worum es in den Dutzenden Gesprächen ging, die ich in den nächsten sechs oder sieben Monaten mit Reese Mac Isaac führte.

Ich kann dir jedoch versichern, dass es sehr lange gedauert hat, bis wir uns das erste Mal gegenübersaßen. Unsere Gespräche spielten sich zwischen der Telefonzentrale und Zimmer 301 ab. Wenn wir uns zufällig in der Lobby sahen, gab es höchstens einen kurzen Gruß, ein Hallo, ein flüchtiges Lächeln, wenn überhaupt. Oft vergingen ein paar Tage, ohne dass wir voneinander hörten, dann redeten wir wieder eine Stunde und länger, je nachdem, wie beschäftigt Reese in der Zentrale war. Es gab aber ein Gespräch, von dem ich dir unbedingt erzählen möchte, und das verlief so.

Es quälte mich schon lange, dass ich sehr wenig über den Tag wusste, an dem meine Eltern von diesen Brücken gesprungen waren. Und so sagte ich eines Abends gegen zehn Uhr zu Reese: »Haben Sie eigentlich noch mit meiner Mutter oder mit meinem Vater gesprochen an dem Tag, an dem sie starben?«

Wahrscheinlich muss man es ihr zugutehalten, dass sie nicht zögerte zu antworten. Dafür war ich dankbar. »Nicht an diesem Tag, nein«, sagte sie. »Am Abend davor habe ich mit Katherine gesprochen, jedoch nicht mit Joe. Ich wollte mich am nächsten Abend mit Joe treffen, aber es gab keinen nächsten Abend.«

»Nein, den gab es nicht mehr.« »Wyatt, wollen Sie wissen, worüber Katherine und ich gesprochen haben?«

»Dann müsste ich mich nicht mehr mit der Frage quälen.«

»Also, Katherine war sehr philosophisch an dem Tag. Wir redeten über die Unmöglichkeit des Lebens. Nein, das stimmt nicht ganz. Eigentlich redeten wir darüber, wie unmöglich das mit uns ist.« Sie hielt inne, wie um sich zu sammeln, bevor sie weitersprach. »Ich erzähle es Ihnen ganz direkt – geht das für Sie in Ordnung, Wyatt?«

»Sagen Sie’s einfach.«

»… wie unmöglich es ist, dass wir eine Liebesbeziehung haben können. Eine richtige Beziehung. Ich meine körperlich, Wyatt. Und auch alle anderen Aspekte. Oh, wir konnten so wunderbar reden. Vor allem über Theater und Filme, aber im Grunde über so gut wie alles. Wir haben auch über ihre Ehe geredet – verzeihen Sie, dass ich das sage. Ihr Vater hat selten über seine Ehe gesprochen. Es war auch nicht seine Art, voreilig über Dinge zu reden. Wenn er etwas sagte, dann hatte er schon darüber nachgedacht. Sowohl über die Sache selbst als auch darüber, ob er es mir sagen sollte. Und er hat nie – kein einziges Mal – ein scharfes Wort zu Katherine gesagt. Joseph blieb immer sehr beherrscht. Und wie gesagt, Katherine war an dem Abend in einer sehr philosophischen Stimmung. Wir sprachen von der Unmöglichkeit, dass ein Mensch in seinem Alltagsleben noch ein geheimes Leben führen kann. Auch wenn dieses geheime Leben das ist, was einen am tiefsten berührt. Und glauben Sie mir, Wyatt, sie hat wirklich gelitten, weil ihr geheimes Leben sie am tiefsten berührt hat. Es ist sicher nicht leicht, so etwas zu hören, aber Sie haben mich gefragt. «

»Und Sie hatten natürlich zwei geheime Leben, nicht wahr, Reese?«, erwiderte ich.

»Ja. Beide hatten mit derselben Adresse zu tun«, antwortete Reese. »Das Haus nebenan.«

»Haben Sie an dem Abend lange mit meiner Mutter gesprochen? «, fragte ich.

»Wir haben zwei Kannen Tee getrunken und noch ein paar andere Sachen«, antwortete Reese. »Joe hatte an dem Abend sein Geschäft länger geöffnet. Also haben wir geredet und geredet, Katherine und ich. Und wenn man einmal einen Menschen findet, mit dem man wirklich reden kann, dann passiert es durchaus, dass man sich in diesen Menschen verliebt. Wir haben einander bestimmte Dinge gestanden. Es wurden keine Versprechungen gemacht. Aber wir haben einander Dinge gestanden, an denen wir auch gelitten haben. Und was mich jede Nacht meines Lebens quält, ist der Gedanke, dass Katherine in dieser Nacht Joseph alles gebeichtet hat. Es muss so gewesen sein. Sie wusste einfach nicht mehr ein noch aus. Und genauso sicher bin ich mir, dass auch Joseph alles Katherine gebeichtet hat. Sie waren zwei gute Menschen in einer furchtbaren Situation. « Reese weinte ein bisschen, dann sagte sie: »Es tut mir leid.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, erwiderte ich.

»Doch, das wäre schon ein Grund«, beharrte sie. »Aber ich weiß es einfach nicht. Ich weiß nicht, was sie miteinander gesprochen haben. Und die Wahrheit ist, dass ich das mit den Brücken genauso erfahren habe wie alle anderen. Aus dem Radio. «

Ich legte den Hörer auf. Aber Reese rief mich gleich wieder an.

»Sie haben mich etwas gefragt, Wyatt«, sagte sie. »Jetzt muss ich Sie auch etwas fragen. Sie hassen mich für das, was damals passiert ist, richtig? Das ist meine Frage. Hassen Sie mich, weil Sie glauben, dass es meine Schuld war, dass Katherine und Joe von diesen Brücken gesprungen sind?«

»Kann Ihnen das nicht egal sein, ob ich Sie hasse oder nicht?«

»Ich erwarte kein Verständnis und keine Sympathie. Das habe ich gar nicht verdient. Aber ich habe eine Menge üble Briefe bekommen – die meisten davon übrigens anonym. Alles gute Christen, doch ihre Briefe verschicken sie anonym.«

»Klingt schlimm.«

»Bitte beantworten Sie meine Frage.«

»Ich habe Sie gehasst, und ich habe das gehasst, was meine Eltern getan haben. Es ist vorbei. Lassen wir’s dabei.«

»Okay. Das ist immerhin etwas. Danke.«

»Zehntausend Leute hier in Halifax haben davon gelesen. Das hat’s mir nicht gerade erleichtert, damit klarzukommen. Ehrlich gesagt weiß ich immer noch nicht, wie ich damit meinen Frieden machen soll.«

»Ich habe mich jedenfalls für Sie gefreut damals, dass Ihre Tante und Ihr Onkel Sie zu sich genommen haben. So wurden Sie wenigstens nicht von den Reportern verfolgt.«

»Ja, aber es war dort auch nicht immer einfach.«

»Ich weiß. Ich habe Zeitung gelesen. Der Mord an dem deutschen Studenten war auf Seite zwei. Der Name Ihres Onkels stand genauso drin wie der Ihre. Und ich dachte mir – mein Gott, das ist der Junge von Katherine und Joe.«

Und das war das drittletzte Mal, dass ich mich mit Reese Mac Isaac unterhalten habe.

Das vorletzte Mal war am 9. November 1962. Halifax hatte gerade einen der schlimmsten Stürme seiner Geschichte erlebt. Er dauerte gut drei Tage. Orkanartiger Wind, Hagel und Eisregen. Es wurde sogar davor gewarnt, es könnte zu Wasserhosen kommen, also zu Tornados auf dem Meer, und das war hier in der Gegend etwas Gefürchtetes. Jemand hat mir erzählt, dass 1940 ein Angehöriger des Müllsammelteams, ein Mr. Paul Syberg, Opfer einer Wasserhose wurde, die plötzlich über den Schlepper hereinbrach, auf dem er arbeitete. Er wurde über Bord geschleudert, und selbst der Schlepper wäre beinahe gekentert.

In einer etwas ruhigeren Phase in dem Sturm nützte mein Team die Gelegenheit, um ein bisschen aufzuräumen. Hermione Rexroth und ich waren beim Pier 21 im Einsatz, wo die Cascania angelegt hatte. Hermione machte mich darauf aufmerksam, wie hoch an den Schiffsrumpf die Wellen den Seetang gespült hatten.

In ihrer Freizeit – sie war nicht verheiratet – beschäftigte sich Hermione mit der Geschichte von Pier 21 und mit Einwanderung ganz allgemein. »Das Härteste in meinen Augen«, sagte sie einmal zu mir, »und das, wofür wir uns vielleicht am meisten schämen müssen, ist, dass damals im Krieg die kanadische Regierung diejenigen Leute nicht ins Land ließ, die am schlimmsten dran waren. Das war, bevor jüdische Flüchtlinge und Waisenkinder aufgenommen wurden, mit dem Kriegswaisenprojekt von 1947. Da wurden, wenn ich mich richtig erinnere, ungefähr elfhundert jüdische Waisenkinder hereingelassen und fünfzehntausend jüdische Flüchtlinge.«

»Das ist ja gut«, meinte ich.

»Das schon – aber es kam verdammt spät, Wyatt. Außerdem gab es in Halifax nicht nur Heilige, das kann ich dir sagen. Wenn du zu dem Sportverein an der Ecke Gottingen und Gerrish Street gehst, siehst du vorne am Tor noch die Aufschrift: ZUTRITT FÜR JUDEN VERBOTEN. Sicher, sie haben es abgeschrubbt, aber wenn du genau hinguckst, dann erkennst du’s trotzdem. Genauso am öffentlichen Schwimmbad, Ecke Northpark und Cornwallis Street.«

»Du meine Güte, schau dir all die Leute auf der Gangway an«, sagte ich.

»Das sind alles Ungarn, steht in der Zeitung«, erklärte Hermione.

»Und hör dir diesen Dudelsack an. Egal ob’s regnet oder schneit – seit wie vielen Jahren jetzt schon? Ein Dudelsackpfeifer ist immer da und begrüßt jedes Schiff.«

»Ich wette, diese Ungarn haben noch nie in ihrem Leben einen Dudelsack gehört.«

Ich wusste nicht, warum, aber ich hatte an diesem Tag mit furchtbaren Kopfschmerzen zu kämpfen, die manchmal so schlimm waren, dass ich alles verschwommen sah. Einmal riss ich die Hände hoch, um eine Möwe abzuwehren, obwohl da überhaupt nichts war. Nach diesem Vorfall hätte ich eigentlich nach Hause gehen sollen. Doch ich sagte nur: »Hermione, machen wir eine Stunde Pause, ja?« Wir fuhren zu einem Schlepper, der die Cascania eskortiert hatte, kletterten an Deck und tranken heißen Tee mit der Vier-Mann-Crew, die wir gut kannten – eine Wohltat nach der beißenden Kälte draußen. Vom Ruderhaus verfolgten wir, wie die Einwanderer mit ihren Koffern in den Händen und ihren Kindern im Schlepptau die Gangway hinunterschritten. Es muss an den Kopfschmerzen gelegen haben, vielleicht auch am Schneeregen, der die Sicht behinderte, und an dem Dampf aus der Kombüse des Schleppers, ich weiß nicht, was schuld war – aber auf einmal glaubte ich deine Mutter langsam über die Gangway gehen zu sehen, zusammen mit einem Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren, also so alt, wie du damals warst.

Natürlich wart ihr es nicht, du und Tilda. Natürlich nicht, Marlais. Es war ein Trugbild, könnte man sagen. Hermione bemerkte jedenfalls, wie ich dreinsah. »Wyatt«, sagte sie, »du siehst irgendwie nicht gut aus, mein Freund.« Ich sagte, dass ich zum Arzt gehen würde. Ich legte mich unten auf eine Koje und deckte mich mit einer groben Decke zu. Glaub mir, du musst schon wirklich hundemüde sein, um auf einem Schlepper neben einem riesigen Schiff schlafen zu können, während ringsum Hunderte Seemöwen kreischen und die Maschinen des Schleppers laufen. Aber ich habe geschlafen. Ich wachte nicht einmal auf, als der Schlepper am Purdy’s Wharf anlegte. Hermione musste mich wecken. Sie stieg in unser Boot hinunter und fuhr ans Ufer, während ich vom Schlepper an Land ging. Auch auf dem Heimweg verschwand dieses Trugbild einfach nicht aus meinem Kopf. Weißt du, Marlais, es war schon sehr merkwürdig.

Ich wohnte immer noch im Homestead Hotel, und als ich in die Lobby kam – ich sah zweifellos mehr wie ein durchnässter Hund aus, nicht wie ein Mensch –, blickte ich weder nach links noch rechts und schritt sofort zum Aufzug, um zu meinem Zimmer hinaufzufahren. Sonst stieg ich immer die Treppe hinauf. Ich badete gleich, dann zog ich Hemd und Hose an, die ich selbst gebügelt hatte. Als das Telefon klingelte, war es Reese Mac Isaac. »Wyatt«, sagte sie etwas beunruhigt, »haben Sie’s denn nicht bemerkt? Ihre Freundin Cornelia Tell ist in der Lobby. Sie wartet schon mindestens fünf Stunden, Wyatt.« Ich legte auf und eilte die Treppe hinunter. In der Ecke, auf dem Sofa neben einer riesigen Topfpflanze, saß Cornelia und schlief, mit ihrem Mantel zugedeckt. Ihre Reisetasche stand neben ihr auf dem Boden.

Ich schüttelte Cornelia sanft wach. »Oh, Wyatt … Gott sei Dank, da bist du ja«, sagte sie. Sie setzte sich auf und nahm meine Hände in die ihren. »Unsere Tilda ist in Dänemark gestorben, Wyatt. Ganz plötzlich, aber ich weiß nicht, woran. «

»War sie krank?«

»Ich weiß nur, was in dem Telegramm steht. Tilda ist vor zwei Tagen gestorben und wird in Kopenhagen begraben.«

»Wer hat das Telegramm geschickt – und an wen?«

»Deine Tochter hat es ans Postamt geschickt. Reverend Witt wollte gerade einen Brief aufgeben. Er hat es angenommen.«

Cornelia fing an zu schluchzen, es klang erschöpft. »Weißt du, Wyatt, als sie ein Mädchen war – und sie ist ja halb bei mir in der Bäckerei aufgewachsen –, wenn ich sie so ansah, da hab ich mir immer gedacht, dass sie sicher nie von Neuschottland weggehen wird. Nicht unsere Tilda. Und jetzt ist sie für immer in Dänemark. Das zeigt wieder einmal, wie viel ich weiß – nämlich gar nichts.«

Ich habe versucht, dich irgendwie zu erreichen, Marlais. Ich habe alles Mögliche versucht, um Kontakt aufzunehmen. Das hatte ich vorher nie getan, aber jetzt tat ich es. Cornelia gab mir deine Adresse. Sind meine Telegramme angekommen? Ist mein Brief angekommen? Sie waren sicher nicht genug, aber sind sie überhaupt angekommen?

Später erfuhr ich, dass Tilda auf dem Heimweg gestorben war, nachdem sie die erste Rate für einen Kurs in Kopenhagen abgeschickt hatte, der in Dänisch und Englisch gehalten wurde und in dem sie sich zur Bibliothekarin ausbilden lassen wollte. Cornelia erzählte mir außerdem, dass Tilda wenige Wochen vor ihrem Tod im Krankenhaus gewesen sei, wegen einer Entzündung der Herzinnenwand.

Cornelia fuhr noch am selben Abend mit dem Bus nach Hause.

Am nächsten Sonntag ging ich in die Harbor Methodist Church, und während die anderen Mitglieder der Gemeinde sich die Predigt anhörten, sangen und beteten, hing ich ganz hinten in der letzten Bank meinen eigenen Gedanken nach und hielt sozusagen eine private Trauerfeier für deine Mutter ab. Einen Moment lang kam mir die Befürchtung, ihre Todesanzeige könnte nur auf Dänisch erscheinen, in einer dänischen Zeitung. Aber dann erfuhr ich, dass Cornelia einen Nachruf geschrieben hatte, der im Gemeindebrief abgedruckt wurde. Er war schön geschrieben.

In der Kirche gab ich mir Mühe, nicht an all den scheinheiligen Schwachsinn – verzeih mir den Ausdruck – zu denken, den man normalerweise auf Begräbnissen hört, als ich ein stilles Gebet sprach: »Möge Tilda Hillyer in Frieden ruhen. Sie war der beste Mensch, den man sich vorstellen kann. Sie war schön …« – bis ich merkte, dass mein Gebet doch nicht so still war, sondern dass ich laut vor mich hin murmelte. Zu beiden Seiten rückten die Leute von mir ab.

Du warst noch auf der Welt, Marlais, weit weg, aber hier auf dieser Welt. Abgesehen von dir hatte ich aber das Gefühl, dass das Leben nichts mehr wert war, dass alles zusammengebrochen war. Nach der Kirche verbrachte ich ganze sieben Stunden auf unserem Boot und arbeitete im Hafen von Halifax. Es hatte aufgehört zu regnen. Auch der Wind war nicht mehr so stark. Wie üblich saß auf jeder Boje ein Kormoran. Ich fischte nicht viel aus dem Wasser. Einen Damenhut mit ausgefransten Federn. Ich fragte mich, ob ihn der Wind einer Ungarin davongeweht hatte, die von der Cascania an Land gegangen war. Eine Spielzeugwasserpistole. Ein Fenster mit gesprungenen Scheiben, aber unbeschädigtem Rahmen. In der Abenddämmerung sah ich am Purdy’s Wharf eine Schar Graugänse herabgleiten. Sie sind das ganze Jahr über hier. Ich folgte ihnen ans Ufer.

Das letzte Mal, dass ich mit Reese Mac Isaac sprach, war am darauffolgenden Sonntagmorgen. An diesem Tag ging ich nicht in die Kirche. Es klopfte an meiner Zimmertür, und als ich öffnete, stand Reese vor mir, schick gekleidet wie immer.

»Ich weiß, man sieht mir mein Alter an«, sagte sie.

»Was kann ich für Sie tun, Reese?«, fragte ich.

»Jeden Sonntagvormittag besuche ich die Gräber von Katherine und Joe. Ich gehe jetzt hin. Ich hab mich gefragt, ob Sie mich wohl begleiten würden. Nur dieses eine Mal.«

Hätte ich Nein gesagt, so hätte sie mich vielleicht noch inständiger gebeten – aber vielleicht wollte ich ja, dass sie mich bittet –, und welchen Grund hätte ich schon gehabt, sie nicht zu begleiten? Also gingen wir gemeinsam zum Friedhof. Wir standen ein paar Minuten am Grab meiner Mutter, dann bei meinem Vater und gingen schließlich wieder zurück ins Homestead. »Wenn ich heute irgendwohin gehe«, sagte Reese, »bleibe ich nie lange – außer vielleicht im Restaurant und im Kino. Wissen Sie, ich glaube, ich lasse mich später einäschern. Ich möchte nirgends länger bleiben, als mein Geld reicht, nicht einmal auf einem Friedhof.«

Ich lachte herzhaft und sagte: »Reese, Sie sagen immer, was Sie sich denken, was? Ich kann mir vorstellen, dass das meiner Mutter und meinem Vater gefallen hat.«

Als ich ein paar Tage später ins Hotel zurückkam, wartete ein Brief auf mich. Ohne Absender. Ich setzte mich auf die Couch in der Lobby und las ihn.

Lieber Wyatt,

es war sehr freundlich von Ihnen, mit mir auf den Friedhof zu gehen. Mein Haus wird gerade zum Verkauf angeboten. Ich verlasse Halifax heute mit dem Zug. Ich werde bei einer entfernten Cousine wohnen; diese Cousine hat mir auch eine Stelle verschafft, im ältesten Hotel in Vancouver – ich brauche wohl nicht zu erwähnen, was für eine Stelle es ist. Sie brauchen sich also nicht zu fragen, ob ich vielleicht nach Hollywood gegangen bin! Ich wünsche Ihnen ein gutes Leben.

Reese Mac Isaac