DAS FOTO IN RIGOLO’s PUB

Ich mache hier eine kleine Anmerkung, Marlais – dass ich nicht vergessen darf, dir von einem Foto in Rigolo’s Pub zu erzählen.

Ich lebte von dem Geld, das ich als Schlittenmacher verdient hatte und das Cornelia in dem Safe in ihrer Bäckerei aufbewahrte, und von der Miete für mein Haus in der Robie Street, während ich den ganzen Winter 1948/49 über Arbeit suchte. In dieser Zeit wechselte ich zweimal das Zimmer im Evangeline Hotel, nahm jedes Mal ein etwas billigeres Zimmer. Es war recht ruhig im Evangeline, der Manager, die Rezeptionisten und Pagen waren freundlich und ließen mich weitgehend in Ruhe, aber die Reinemachefrauen – harte Arbeit übrigens –, Mrs. Tompkins und Mrs. Delft, schienen im Hotel das Sagen zu haben. Zum Beispiel hatten sie keinen bestimmten Plan, nach dem sie vorgingen, und als ich ihnen ziemlich direkt sagte, dass ich nicht gern die ganze Zeit in der Lobby saß und darauf wartete, dass sie sich irgendwann um mein Zimmer kümmerten, machte ich mich damit bei ihnen nicht besonders beliebt.

Ich bewarb mich um alle möglichen Arbeiten und wurde schließlich, Ende Juni 1949, als »Müllfischer« im Hafen von Halifax angestellt. Ich gehörte zu einem Team, das aus zwei Frauen – Evie Michaels und Hermione Rexroth – und drei Männern außer mir bestand: Tom Blackwell, Sam Kitchen und Sebastian Firth. Wir machten am Queen’s Wharf und Smith Wharf sauber, an den Stränden auf der Halifax- und der Dartmouth-Seite und an der ganzen Küste bis hinaus nach Pennant Point. Unsere Hauptaufgabe war es, mit dem Motorboot oder Schlepper hinauszufahren und Treibgut einzusammeln, um den Weg freizuräumen für Fähren, Trawler und die riesigen Frachter. Marlais, du kannst dir gar nicht vorstellen, was da alles im Hafen landet – und ich meine wirklich alles, von Bilderrahmen über Lampenschirme bis zu Schuhen. Einmal fanden wir eine Kiste voll mit Besen, einmal eine Ladung exotischer Topfpflanzen.

Wir mussten alles auflisten, was wir herausfischten. Aber als Evie Michaels und ich einmal eine fast vollständige Encyclopaedia Britanica aus dem Wasser holten – die einzelnen Bände trieben unter der Angus L. Macdonald Bridge –, sagte Evie: »Weißt du was, Wyatt? Wir haben kein solches Lexikon daheim. Also, wenn du nichts dagegen hast, schreib ich das nicht auf. Ich würde die Bände gern trocknen, vielleicht kann man’s ja noch lesen. Meine Kinder könnten sie gut für die Schule gebrauchen. «

Wir waren auch ständig mit Tod und Sterben konfrontiert. Da waren tote Möwen und einmal eine Meeresente, die an einer Plastikhalskette erstickt war. Eines Tages trieb ein Dackel in einer Kiste mit Luftlöchern auf dem Wasser. Als wir näher kamen, hörten wir den Hund bellen und jaulen, und wir wussten, dass er okay war. Leider hatten wir auch einen Selbstmord, einen Mann, der mit dem Gesicht nach unten in der Nähe der Hafenmündung trieb. Die Angelschnur hatte ihm seine eigene Angelrute ans Bein gebunden wie eine Schiene. Es war kein schöner Anblick. Auch an diesem Tag war ich mit Evie unterwegs. Wir hielten den armen Kerl mit unseren Haken am Bootsrumpf, meldeten den Fund mit dem Walkie-Talkie und warteten, bis die Hafenpolizei die Sache übernahm. Wir erfuhren, dass es Selbstmord war, weil am nächsten Morgen in einem Artikel in der Mail stand, dass der Mann – er hieß Russell Leminster – einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. »Wer weiß, was in so einem Menschen vorgeht?«, sagte Evie. »Vielleicht meinte er sogar in dieser Situation, dass eins nach dem anderen kommt. Also ging er zuerst angeln. Und dann folgte das Nächste.«

Wir hatten jeder einen dunkelblauen Overall, dazu eine dunkelblaue Mütze mit der aufgestickten Aufschrift Harbor Associates. Dazu erhielten wir Galoschen, einen Regenmantel, einen dicken Pullover, eine gefütterte Weste, fünf Paar Wollsocken und zwei Paar wasserdichte Handschuhe, und wenn man irgendein Kleidungsstück verlor, bekam man es zwar neu, aber die Kosten wurden einem auf dem nächsten Lohnscheck abgezogen. Ich muss zugeben, dass ich manchmal Socken, Galoschen oder den Pullover auch außerhalb der Arbeit trug.

Ich weiß gar nicht, warum ich »trug« schreibe – vielmehr trage ich sie immer noch, denn ich habe gerade mein achtzehntes Jahr als Müllsammler im Hafen von Halifax begonnen. Zusammen mit Hermione und Tom bin ich jetzt sogar befördert worden und habe eine Lohnerhöhung bekommen. Ich begann mit 18 Dollar in der Woche, plus Weihnachtszulage. Meinen Job empfand ich einerseits als Aufstieg, nachdem ich vorher im Rockhead Prison gewesen war, aber andererseits auch als Abstieg, wenn ich daran dachte, dass ich vorher Schlitten gebaut hatte.

Ich verdiene also meinen Lebensunterhalt damit, Müll aus dem Wasser zu fischen – aber was mir im Leben wirklich Freude bereitet, sind Kinofilme. Ich hoffe, deine Mutter hat dir gesagt, dass ich seit fünfzehn Jahren jeden Monat zwanzig Dollar auf ein Bankkonto unter deinem Namen einzahle. Aber abgesehen davon sind Filme so ziemlich das Einzige, wofür ich etwas mehr Geld ausgebe. Abends esse ich fast immer zu Hause, und ich bekomme mein Frühstück und Mittagessen von Harbor Associates, außer am Samstag und Sonntag, aber ich arbeite ohnehin nur selten am Wochenende.

Seit dem ersten Tag in Halifax fragte ich mich, ob Cornelia Tell sich wirklich einmal bei mir melden würde, damit wir zusammen ins Kino gingen. Wir sahen uns vier Jahre nicht, blieben aber in Kontakt. Wir schrieben uns und telefonierten gelegentlich. Meine Briefe schrieb ich alle auf Hotelbriefpapier. Sie kam auch einige Male nach Halifax, rief mich jedoch nicht an. Es war ihre Sache und ihre Entscheidung. Allerdings schrieb sie mir immer, welchen Film sie gesehen hatte, und dann sah ich ihn mir auch an. Danach schrieb ich ihr zurück und fragte sie, was sie von diesem oder jenem Film hielt, von Flucht von der Teufelsinsel, von Der letzte Sündenfall oder Ball in der Botschaft mit Walter Pidgeon in der Hauptrolle und Xavier Cugat und seinem Orchester. Oder The Strange Woman mit meiner absoluten Lieblingsschauspielerin Hedy Lamarr, für mich die zweitschönste Frau auf der Welt nach Tilda. Alle diese Filme liefen im Casino Theatre. Ich fragte Cornelia nach ihrer Meinung über Eine Lady für den Gangster und The Show-Off. Und ich erinnere mich an ein Plakat draußen am Capital Theatre für Der unbekannte Geliebte mit Robert Taylor und Katharine Hepburn (die mir ein wenig auf die Nerven ging), mit dem Vermerk: FÜR KINDER UNGEEIGNET. Ich sah The Shocking Miss Pilgrim mit Betty Grable, Berüchtigt mit Ingrid Bergman und Cary Grant, No Leave, No Love mit Van Johnson. Und glaub mir, Marlais, Cornelia Tell hat mir ihre Meinungen über Filme seitenweise mitgeteilt, von A bis Z.

Cornelia entschuldigte sich nie dafür, dass sie mich nicht anrief, wenn sie in Halifax war, und ich dachte mir, nun, wenn sie so weit ist, wird sie sich schon melden. Und am Abend des 8. Januar 1953 rief sie mich in meinem Zimmer in dem Hotel an, in dem ich gerade wohnte – es war das Glendale in der Hollis Street. »Ich hab mir gedacht, wie wär’s vielleicht morgen«, sagte sie. »Morgen ist Freitag, da könnte ich zum Wochenendpreis hinein.« Und so holte ich sie am Busbahnhof in Halifax ab. Ich trug ihren kleinen Koffer zum Dresden Arms Hotel in der Dresden Street, wo ich ein Zimmer für sie reserviert hatte. Wir aßen zusammen in Halloran’s Restaurant in der Sackville Street, und sie erzählte mir, was es in Middle Economy Neues gab. Aus irgendeinem Grund, Marlais, erwähnte sie dich und Tilda nicht beim Essen. Es war wie eine stillschweigende Übereinkunft, dass gewisse Themen erst später am Abend angesprochen werden sollten, wenn wir beim Tee in ihrem Hotel saßen. Als wir fast fertig gegessen hatten, griff sie in ihre Handtasche und zog ein Blatt Papier heraus, auf dem sie die Filme notiert hatte, die gerade in der Stadt gezeigt wurden. »Also, ich wäre für Der 49. Breitengrad, ein Kriegsfilm«, meinte sie. »Er lief schon 1941 in den USA, aber aus irgendeinem Grund ist er erst jetzt nach Nova Scotia gelangt. In den Filmen bleibt der Krieg lebendig, was?«

»Ich habe nie davon gehört«, sagte ich.

»Ich muss dich aber warnen – es kommt ein deutsches U-Boot drin vor.«

»Ich habe viele Kriegsfilme gesehen, Cornelia.«

»Ich will nur nicht, dass er dich dann so anwidert, dass du am liebsten mittendrin gehen möchtest. Ich geh oft allein ins Kino. Aber ich möchte nicht nicht allein hingehen und dann plötzlich doch allein dasitzen, weißt du?«

»Das mache ich sicher nicht.«

Der 49. Breitengrad lief im Casino Theatre, sieben Blocks von Halloran’s Restaurant entfernt, und wurde an sieben Tagen die Woche zu verschiedenen Zeiten gezeigt, es gab sogar eine Mitternachtsvorstellung. Wir kamen ein paar Minuten vor der 19:15-Uhr-Vorstellung hin, und als ich die Karten kaufte, sagte Cornelia: »Danke, Wyatt. Ich würd jetzt mit den Augen klimpern, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre.« Wir kauften uns jeder eine Tüte gebuttertes Popcorn, und Cornelia auch noch eine Schachtel Pralinen. Der Platzanweiser führte uns hinein, bis Cornelia sagte: »Ich setze mich hierhin, an den Gang.« Ich setzte mich neben sie. Der Kinosaal war ziemlich voll.

Wir sahen zuerst einmal die Wochenschau, danach zwei Looney-Tunes-Zeichentrickfilme; in einem davon – es war ein Bugs Bunny and Elmer Fudd mit dem Titel »Oper gefällig?« – singt Elmer in wagnerianischem Ton: »Kill the wabbit! Kill the wabbit!«

Dann fing der Film an. Also, es war sicher kein großer Film, obwohl ein paar witzige Bemerkungen vorkamen, und es gab wirklich komische Szenen – zum Beispiel wie die Mannschaft des deutschen U-Bootes U 37 britisches Englisch spricht. Wahrscheinlich hatten sie keine richtigen deutschen Schauspieler für diese Rollen, und warum sollte man dem Teufel auch noch gutes Geld geben? Sie hätten wenigstens verlangen können, dass die Schauspieler sich bemühten, deutsch zu klingen. Vielleicht aber hatte man gedacht, dass sogar ein falscher deutscher Akzent zu schwer zu ertragen wäre, damals im Jahr 1941, wer weiß?

Es geht im Großen und Ganzen darum, dass U 37 an der kanadischen Küste sein Unwesen treibt und dabei so weit von seinem Kurs abkommt, dass es in der Hudson Bay landet, von Eisbergen umringt. Dort wird es entdeckt, von kanadischen Flugzeugen bombardiert und schließlich versenkt. Ein paar Männer sterben dabei, aber der Kommandant und einige andere können entfliehen und verstecken sich in abgelegenen Dörfern, und von da an kommt es zu allen möglichen Abenteuern. Am Ende siegt das Gute über das Böse.

Wie ich schon sagte, mich hat der Film nicht gerade vom Sitz gerissen. Die ersten zehn Minuten oder so sind mir aber sehr lebhaft in Erinnerung geblieben. Da torpediert U 37 ein Passagierschiff auf dem Sankt-Lorenz-Strom. Sie nehmen ein paar Überlebende an Bord, der Nazi-Kommandant verhört einige, dann werden die Überlebenden in Rettungsbooten freigelassen. U 37 verschwindet in der Tiefe, und ein Rettungsflugzeug nähert sich. Zumindest für diese Kanadier ging die Sache also gut aus. Da wurde mir klar, dass der Vorfall, der hier auf der Leinwand dargestellt wurde, vor 1940 stattgefunden haben musste, oder vielleicht gerade noch 1940, denn danach holten U-Boote keine Überlebenden mehr aus dem Wasser. Das wusste ich aus einem Zeitungsartikel, der in der Werkstatt meines Onkels an der Wand gehangen hatte.

Während des Films gab es immer wieder den einen oder anderen Buhruf aus dem Publikum. Und ich hörte Cornelia lachen und weinen und ein paarmal »Mistkerle« sagen. Als wir zu ihrem Hotel zurückgingen, stellte ich fest, dass sie sich schon ihre Gedanken gemacht hatte. »Also, den sehe ich mir nicht noch einmal an«, meinte sie. »Aber ich habe trotzdem etwas daraus erfahren.«

Sicher, Marlais, es war ein Kinofilm und stellte gar nicht den Anspruch, immer bei den Tatsachen zu bleiben, das ist mir klar. Trotzdem gab es da eine Stelle in einem Dialog, die historisch eindeutig falsch war – und es gibt eine gerahmte Fotografie hinter der Bar in Rigolo’s Pub in der Lower Water Street, die das beweist.

Weißt du, zu Anfang des Films fährt die Kamera an eine Karte von Kanada heran, dann sieht man den Sankt-Lorenz-Strom, und schließlich kommt U 37 unheilvoll und drohend an die Oberfläche, und während es landeinwärts fährt, motiviert der Kommandant seine Leute mit den typischen Nazi-Parolen: »Ihr werdet die Ersten unter den gesamten deutschen Streitkräften sein, die kanadischen Boden betreten. Die Ersten von Tausenden, die nach uns kommen werden.«

Aber wenn man dieses Schwarz-Weiß-Foto in Rigolo’s Pub betrachtet, dann sieht man da drei Männer Anfang zwanzig an der Bar stehen, die gut gelaunt mit ihren Biergläsern anstoßen. Sie haben Fischermützen auf und tragen dicke Fischerpullover. Die drei schauen direkt in die Kamera. Und irgendjemand – vielleicht der Fotograf oder der Inhaber des Pubs – hat das Gesicht des Mannes in der Mitte umkringelt. Er hat ein breites rundes Gesicht, Grübchen, ein energisches Kinn und schwere Augenlider vom Trinken. Ins Bild ist etwas hineingeschrieben – es verläuft von der Mitte zur rechten unteren Ecke des Fotos: Nazi-U-Boot-Navigator Werner Timm, U 69, Die lachende Kuh, 12. Oktober 1939. Du erinnerst dich, Marlais, Die lachende Kuh hat die Fähre Caribou versenkt, mit der Constance gefahren ist.

Aus den Zeitungen erfuhr ich, dass in der Zeit, bevor man sich erfolgreich gegen die U-Boote wehren konnte – bevor zum Schutz U-Boot-Sperrnetze gezogen wurden –, deutsche U-Boote an der Küste ankerten (manche sagen, in der Nähe von Peggy’s Cove) und die Besatzungsmitglieder ausstiegen und nach Halifax kamen. Sie gingen ins Pub, ins Kino und ins Restaurant und erzählten allen, sie seien Schweden von einem schwedischen Frachter oder Norweger oder sonst irgendeine Lüge.

Und dieser Werner Timm war einige Male mit einer gewissen Wilma Raymond aus Halifax ausgegangen. Die Leute hatten sie zusammen gesehen, aber niemand hätte je von Timms wahrer Identität erfahren, wenn er sich an ihrem letzten gemeinsamen Abend nicht betrunken und Wilma alles erzählt hätte. Er machte ihr sogar einen Heiratsantrag! Sie wies ihn ab und erzählte später: »Er ist aus meiner Wohnung hinausgetorkelt und in den Straßen verschwunden.«

Wilma Raymond war die Nichte des Barkeepers von Rigolo’s Pub. Sie war entsetzt, als sie das Foto sah, das ihr Onkel hinter der Bar aufgehängt hatte: Werner Timm, leibhaftig. Sie schämte sich so, dass sie sich mit einem deutschen U-Boot-Offizier eingelassen hatte, dass sie ein paar Tage brauchte, bis sie den Mut fand, ihrem Onkel alles zu erzählen, was sie wusste. Natürlich war Die lachende Kuh längst über alle Berge.

Als er Bescheid wusste, schrieb Wilmas Onkel Timms Namen und Rang auf das Foto. Schnell sprach es sich herum, dass ein deutscher U-Boot-Navigator unbemerkt hier gewesen war, was einige Besorgnis in der Stadt hervorrief. Das Foto wurde sogar auf der Titelseite der Mail abgedruckt. Die Pub-Inhaber verlangten von da an einen Ausweis von ihren fremden Gästen. In der Zeitung stand, dass Wilma Raymond Halifax verlassen habe, »um Verwandte in Saskatchewan zu besuchen«. Das kann ich mir vorstellen.

Ich wünschte, der Slogan auf dem Plakat »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold« hätte auch umgekehrt gewirkt, und Die lachende Kuh wäre versenkt worden, weil Werner Timm sich gegenüber Wilma Raymond verraten hatte. Dann hätte das U-Boot nicht drei Jahre später die Caribou versenken können, und meine Tante würde noch leben. Das waren meine Gedanken, nachdem ich das alles erfuhr.

Da war nun jedenfalls dieses Foto, das eindeutig bewies, dass deutsche Militärs schon 1939 kanadischen Boden betreten hatten. Ich war erst letzte Woche wieder in Rigolo’s Pub und habe mir das Foto angesehen. Mittlerweile ist es ja ein historisches Dokument, könnte man sagen.

Aber man muss schon sehr genau hinsehen, wenn man erkennen will, wer da ganz am Ende der Bar steht – Hans Mohring. Hans ist in ein Gespräch mit einem Mann und einer Frau vertieft, wahrscheinlich Studenten. Es wird sein erstes Semester an der Dalhousie University gewesen sein. Hans hat eine Zigarette in der Hand, die Frau hat eine Zigarette im Mundwinkel.

Nach dem Film setzten wir uns in das kleine Café-Restaurant im Dresden Arms Hotel und tranken Tee, und Cornelia aß ihre letzten drei Pralinen vom Kino. »Ich habe neue Fotos von Tilda und Marlais mitgebracht«, sagte sie und schob mir einen Umschlag über den Tisch. Ich nahm die Fotos heraus, und da warst du, Marlais! Sieben Jahre alt, an einem Tisch im Freien zusammen mit fünf anderen Kindern. Auf dem Tisch stand eine Geburtstagstorte, und das Geburtstagskind blies die Kerzen aus. Du warst hübsch gekleidet, das Haar gekräuselt wie das deiner Mutter, du hattest ein breites Lächeln auf den Lippen und einen ausdrucksvollen Blick, so als hättest du gerade einen tiefen Gedanken. Das Geburtstagsfest schien jedenfalls allen Spaß zu machen.

Auf dem zweiten Foto warst du allein drauf, mit dem Meer im Hintergrund. Am rechten Handgelenk hattest du ein Armband aus Papierengeln. Vielleicht hat jedes Mädchen, das zu der Party eingeladen war, so ein Armband bekommen.

»Du solltest nach Dänemark fahren, Wyatt«, meinte Cornelia. »Warum tust du’s nicht einfach?«

»Ich kann mir die Fahrt nicht leisten, aber ich lege jeden Monat Geld für Marlais beiseite. Sie hat hier in Halifax ihr eigenes Bankkonto, das auf sie wartet. Das Geld ist da, wann immer sie es braucht, ich kann es ihr sogar nach Kopenhagen überweisen. Tilda weiß das.«

»Großzügig von dir, Wyatt, aber selbst nach Dänemark zu fahren, wäre wichtiger.«

»Es ist nun mal so, wie es ist.«

»Du unternimmst auch nicht gerade viel, dass es anders wird, oder?«

»Okay, ich kenne jetzt deine Meinung, Cornelia. Vielleicht könntest du mir erzählen, was Tilda in ihren Briefen so schreibt, ganz allgemein.«

»Dies und das. Hauptsächlich, was es von Marlais Neues gibt, über die Schule, ihre Freundinnen, wie das Leben bei den Mohrings ist, wie es nach dem Krieg in Dänemark aussieht, dies und das eben. Sie schreibt sehr lebendig, das konnte sie ja immer schon bestens.«

»Tilda und ich, wir schreiben uns nicht. Sie hat mir noch keinen einzigen Brief geschickt, und ich hab auch nie geschrieben.«

»Wenn jeder auf den anderen wartet, dann kommt nie irgendwo ein Brief an, stimmt’s?«

»Bis jetzt stimmt es, was du sagst.«

»Es ist sehr dumm von euch beiden. Ja, es ist das Dümmste und Selbstsüchtigste, was ich je von zwei Leuten mit einem gemeinsamen Kind gehört habe.«

Wir saßen eine Weile da und schauten auf die Straße hinaus, dann sagte ich: »Sind Marlais und Tilda glücklich, was glaubst du?«

»Lass es mich mal so sagen«, antwortete Cornelia. »In ihren Briefen schreibt sie über sehr persönliche Dinge, aber nicht so, dass man weiß, wie’s wirklich in ihr aussieht. Und glücklich? Na ja, es klingt schon so, als hätte Marlais alles, was einem Kind in Dänemark nur geboten wird. Das ist zwar nicht dasselbe wie eine Kindheit in Neuschottland, aber wer weiß – vielleicht ist es das Zweitbeste auf der Welt. Das wäre immerhin nicht schlecht. Und wenn Marlais eine schöne Kindheit hat, dann kann man annehmen, dass Tilda schon allein darüber glücklich ist, nicht?«

»Noch etwas, Cornelia. Ich habe auch nie einen Brief an meinen Onkel geschrieben. Ich hab ihn nie besucht. Und ich will ihn gar nicht besuchen.«

»Ich war nur zweimal bei ihm. Und da lagen drei Jahre dazwischen. Aber weißt du, was dein Onkel im Gefängnis macht? Sie haben eine Holzwerkstatt dort. Er baut Schlitten. Ich glaube, keine Toboggans, aber Schlitten ganz bestimmt, weil er mir nämlich einen geschenkt hat. Ich hab ihn im Bus nach Hause gebracht. Er ist oben über der Bäckerei, in dem Raum, der einmal die Küche von Tilda und Hans war. Donald bat mich, den Schlitten nach Dänemark zu Marlais zu schicken. Ich glaube, er hat keine Ahnung, was er da verlangt. Tilda würde nie im Leben einen Schlitten von ihm annehmen.«

»Ich bin sicher, Reverend Witt … ist er noch Reverend?«

»Bis er auf der Kanzel tot umfällt.«

»Ich bin sicher, Reverend Witt findet jemanden, der den Schlitten haben will. Er muss ja nicht dazusagen, wer ihn gebaut hat, nicht?«

»Gute Idee. Ich werd’s ihm vorschlagen, wenn ich heimkomme. «

Wir redeten und redeten, und ich erwähnte irgendwann auch das Foto in Rigolo’s Pub, und Cornelia sagte sofort, dass sie es sehen wolle. »Ich war noch nie in einem Pub in Halifax, nicht ein Mal«, sagte sie. Wir gingen also in Rigolo’s Pub und stellten uns an die Bar, wo wir das Bild gut betrachten konnten. Ich nahm ein Bier und Cornelia einen Cognac, obwohl sie, wie sie sagte, so etwas normalerweise nicht trank, doch wenn sie schon einmal in einem Pub war, wollte sie irgendetwas Exotisches wählen. Sie war dann so schockiert von dem Foto, dass sie nicht nur den einen Cognac hinunterkippte, sondern gleich noch einen zweiten bestellte. »Wyatt, ich frage mich, ob irgendjemand außer dir und mir Hans Mohring auf diesem Foto wiedererkennt«, sagte sie. »Ich meine, jemand, der seinen Namen kennt. Das Foto haben sicher schon Hunderte gesehen. Aber es geht ja eigentlich um diese Männer von dem deutschen U-Boot, nicht? Wer achtet da schon auf die Leute im Hintergrund. Was mir so seltsam vorkommt, ist, dass man auf dem Foto verschiedene Deutsche sieht. Da sind die einen, die so viel Schaden angerichtet haben, und Hans, der nichts getan hat. Und ich denke mir, dass sie heute alle irgendwo am Grund des Meeres sind.«

»Weißt du, Cornelia, ich habe in der Mail gelesen, dass Die lachende Kuh 1944 vor der französischen Küste versenkt wurde. «

»Ich habe gehört, dass sie in Port aux Basques ein Denkmal errichtet haben, wo sich die Überlebenden der Caribou jedes Jahr treffen.«

Cornelia trank noch drei Cognacs. Sie sah immer wieder auf das Foto. »Wyatt«, sagte sie schließlich, »ich halte es keine Minute länger hier drin aus.« Sie war so wackelig auf den Beinen, dass wir ein Taxi rufen mussten, obwohl ihr Hotel ganz in der Nähe war.

Am nächsten Morgen gegen acht Uhr klingelte mein Telefon. Als ich abhob, sagte Cornelia: »Ich und mein Brummschädel erwarten dich unten in meinem Hotel zum Frühstück. Geht es in fünfzehn Minuten?«

Es regnete. Ich schlüpfte in Hose und Pullover, zog meinen Regenmantel an, nahm meinen Schirm und eilte zum Dresden Arms hinüber. Cornelia saß an einem Tisch am Fenster. »Ich habe Scones und Kaffee bestellt«, sagte sie. »Was die Scones betrifft, bin ich nicht sehr optimistisch.«

»Dafür musst du das Frühstück nicht extra bezahlen, vergiss das nicht.«

Die Kellnerin brachte jedem einen Heidelbeerscone. Die Scones waren aufgewärmt und wurden mit etwas Butter auf dem Teller serviert. »Nun«, meinte Cornelia, »meiner sieht zumindest wie ein Scone aus.«

Ich biss hinein und sagte: »Es ist der hundertfünfundfünfzigbeste Scone, den ich je gegessen habe, Cornelia.«

»Die ersten hundertvierundfünfzig waren von mir.«

»Deine Rechnung stimmt.«

Sie aß ihren Scone, trank etwas Kaffee dazu und sagte schließlich: »Weißt du, warum ich diesen Scone mag? Vor allem weil ich ihn nicht machen musste. Ja, du hast gerade gesehen, wie ich meinen ersten Scone außerhalb von Middle Economy gegessen habe – und ich hab schon Scones von meiner Großmutter und meiner Mutter gegessen, und meine eigenen. Aber das ist dann auch schon alles. Ich war noch nie in Paris. Ich war noch nie in London. Und jetzt sitze ich hier, in etwas vorgerücktem Alter, und esse meinen ersten Scone in Halifax.«

Es war Sonntag. Ich begleitete Cornelia zum Bus, der um 11:05 Uhr von Halifax abfuhr. In einem solchen Bus hatte Tilda einst Hans Mohring kennengelernt.

Ich muss noch einmal auf das Thema Geburtstagsfeiern zurückkommen. Am selben Abend feierte Evie Michaels’ Tochter Ellen ihren fünften Geburtstag, und ich war eingeladen. Die Party fand um sechs Uhr abends im Haus der Michaels in der St. Harris Street statt, nicht weit vom North Common Park. Evies Mann William – er arbeitet als Hausmeister im General Hospital der Stadt – war auch da, und zehn Freundinnen von Ellen aus dem Kindergarten. Evie hatte Ansteckblumen aus Papier gebastelt, die sich die Mädchen an die Kleider steckten. Es gab Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade, danach eine Geburtstagstorte und Vanilleeis. An die Stühle der Mädchen waren mit Schnüren Ballons gebunden, die über ihnen in der Luft hingen. Sie hatten eine Menge Spaß. Evie hatte ihre Arbeitskollegen eingeladen, und es waren alle gekommen. Ellen erhielt einen ganzen Berg Geschenke, und immer wenn sie eine Schachtel aufmachte, flocht sie sich das Geschenkband ins Haar, sodass es am Ende aussah wie ein Feuerwerk. William hatte sich eine Kamera ausgeliehen und knipste eine Menge Fotos, hauptsächlich natürlich von den Kindern, aber auch ein paar von uns Erwachsenen. Ellen Michaels war so aufgedreht, dass sie einmal den Finger in ihre Geburtstagstorte steckte und sich die Glasur ins Gesicht schmierte. Dann rief sie ihren Hund namens Handy und ließ sich die Torte von ihm vom Gesicht ablecken. Nach der Torte stellte Evie zwei Metallbottiche mit Wasser hin, und die Kinder spielten »Apple Bobbing«, das heißt, sie mussten versuchen, die Äpfel mit dem Mund herauszuholen. Die Spielregeln verlangten, dass sie dabei die Hände hinter dem Rücken falteten, und so wurden natürlich ihre Gesichter nass. Evie trocknete sie mit einem Handtuch ab. Als die Kinder ins Wohnzimmer gingen, um sich eine spannende Serie im Radio anzuhören – es gab am Samstagabend zwei solche Serien –, machten wir Erwachsenen mit dem Spiel weiter. Einer nach dem anderen versuchten wir uns im »Apfelfischen«, bis schließlich Evie Michaels sagte: »Jetzt seht euch das an! Wir Müllfischer von Halifax schaffen’s nicht mal, einen einzigen Apfel aus dem Wasser zu holen!«

Um acht Uhr waren alle Kinder weg. Ellen ging um neun zu Bett, dann hatte Evie noch Lust, eine große Schüssel Spaghetti zu kochen. Wir sahen, dass es ihr viel Spaß machte, für uns zu kochen. Es gab nur Spaghetti, Butter und Petersilie, dazu zwei Flaschen Rotwein, aber es war genug für alle da.

»Evie«, sagte Sebastian Firth, »das finde ich gut, dass du warmes Wasser in die Bottiche gefüllt hast. Die Kinder sollen ja die Äpfel nicht aus eiskaltem Wasser fischen müssen. Das ist mir nämlich als Kind passiert. Aus irgendeinem Grund hat meine Mutter immer kaltes Wasser genommen, wenn ich mit meinen Freunden Apple Bobbing gespielt habe.«

»Sie hat halt nicht an alles denken können«, meinte Evie.

Die Äpfel schwammen noch im Wasser, bis wir gegessen hatten. Dann breitete Evie die Servietten von der Party auf dem Esstisch aus und legte die Äpfel zum Trocknen darauf.

Ich ging als Letzter heim. Als ich meinen Mantel anzog, sagte Evie: »Hey, Wyatt, das musst du dir ansehen.« Sie führte mich ins Wohnzimmer, in dem ringsum Bücherregale standen. Sie zeigte auf die Lexikonbände in einem der Regale. »Es hat eine ganze Woche gedauert, aber William und ich, wir haben sie einzeln am Ofen getrocknet. Viele Seiten kleben zusammen, und die Einbände sind auch teilweise verzogen. Aber meine Kinder benutzen sie trotzdem regelmäßig für ihre Hausaufgaben. Sogar die Nachbarkinder kommen vorbei, wenn sie etwas nachschlagen wollen. Alle hier in der Straße wissen, dass wir das Lexikon haben.«

»Dann hat sich die Mühe ja gelohnt, Evie«, sagte ich.

»Danke«, antwortete sie. »Und, Wyatt, nimm dir doch zwei, drei Äpfel mit ins Hotel.«