DER TAG, AN DEM ICH DEN DEUTSCHEN STUDENTEN HANS MOHRING ZUM ERSTEN MAL SAH

Bis zum Frühjahr 1942 hatte mir mein Onkel fünf neue Kunden übertragen, alle aus der Provinz Quebec. Ich schrieb ihnen Briefe, und drei erklärten sich bereit, ihren Schlitten von mir bauen zu lassen – die beiden anderen meinten, dass sie ihn lieber von Donald hätten, und da kann man ihnen wohl keinen Vorwurf machen. Sie hatten es ganz freundlich ausgedrückt. Natürlich arbeiteten mein Onkel und ich daneben auch weiter zusammen.

Ich musste oft an Tilda denken. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich dachte selten nicht an sie. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich eigentlich sehr wenig von ihr wusste. Und so war jede neue Entdeckung, jedes Detail über ihre Kindheit und ihre Persönlichkeit etwas Besonderes für mich. Zum Beispiel hatte Tilda am 25. August 1942 einen Termin bei einem Heilmagnetiseur, einem gewissen Dr. Everett Sewell in der Ingus Street in Halifax. Donald und Constance hofften, Dr. Sewell könne Tilda durch Hypnose oder »Magnetisieren« dazu bringen, »im Wachschlaf zu reden«, wie Donald es ausdrückte, und zu verraten, warum sie kaum noch an irgendetwas anderes dachte, als über den Tod von Menschen zu trauern, die sie nie gesehen hatte und deren Namen sie teilweise in Todesanzeigen fand. Bis dahin hatte ich über diese Neigung von ihr nicht viel gewusst – nur dass sie die Todesanzeigen und Nachrufe so las, als wäre es die Bibel. Das machte sie schon, seit sie fünfzehn war. Mit siebzehn hatte sie dann begonnen, ihre eigenen erfundenen Nachrufe zu schreiben. Über Personen, die es nicht wirklich gab. Irgendwann ließ sie mich ein paar davon lesen. Ich fand, dass Tilda wirklich Talent zum Schreiben hatte. Ich wusste ja nicht, wie die anderen ihre Arbeiten beurteilen würden, aber in meinen Augen schrieb Tilda einfach traumhaft. Sie hatte jede Menge Fantasie. Ich dachte mir, es müsse für jeden eine Ehre sein, von ihr einen Nachruf geschrieben zu bekommen. Das ist eine Kunst, wenn es ein richtiger Künstler macht.

Doch als sie verkündete, sie wolle eine professionelle Klagefrau werden (es gab in Neuschottland nur zwei Personen, die diese Tätigkeit als Beruf ausübten), zeigten sich Donald und Constance gar nicht erfreut. Ich war dabei – aber Tilda nicht –, als Reverend Witt von der Bayside Methodist Church von Middle Economy bei uns in der Küche Tee trank und den Vorschlag machte, Tilda solle sich hypnotisieren lassen. Witt kannte einen gewissen Dr. Sewell in Halifax und brachte ein Empfehlungsschreiben für Tilda mit. »Es ist ja nicht so, dass das, was sie tun möchte, etwas Unwürdiges wäre«, meinte Witt. »Es kommt ja vor, dass die Angehörigen mit dem Verstorbenen zerstritten waren. Oder dass der Verstorbene einfach alle überlebt hat, die ihn gekannt haben. Es gibt viele Möglichkeiten, warum jemand niemanden mehr hat, der um ihn trauert. Wirklich, das ist eine sehr nützliche Tätigkeit, vielleicht sogar in geistlicher Hinsicht.«

»Wo liegt dann das Problem?«, fragte mein Onkel.

»Es ist nur so … Neulich hatte ich eine Beerdigung auf dem Friedhof von Great Village – Mary Albright ist gestorben –, und ich weiß, dass ihr die Albrights nicht gekannt habt«, erklärte Reverend Witt. »Und da sah ich eure Tilda, wie sie sich vor einem Grabstein auf den Boden warf. Sie hat geweint. Richtig laut.«

»Wollen Sie damit sagen, meine Tochter sollte keinen Beruf lernen?«, warf mein Onkel ein.

»Doch, das gibt ihr Unabhängigkeit. Sie hätte etwas Eigenes, auf das sie stolz sein kann, und das ist gut«, meinte Reverend Witt. »Nach dem, was Sie gesagt haben, ist die Universität nichts für sie. Und die professionelle Totenklage hat hier in Neuschottland durchaus eine gewisse Tradition. Aber wenn Sie mich schon fragen, dann will ich einfach nur sagen, dass es mir ein bisschen seltsam vorkommt, dass eine so schöne junge Frau so etwas machen möchte. Sie ist lebhaft und neugierig auf das Leben, das sieht man doch. Ich habe auch gehört, dass sie sich schon zwei schwarze Kleider für den Beruf genäht hat.«

»Sie ist eine gute Näherin«, warf Tante Constance ein. »Dafür übernehme ich die Verantwortung.«

Mein Onkel trug Reverend Witts Tasse zur Spüle, bevor er seinen Tee ausgetrunken hatte. Er sah aus dem Fenster und sagte: »Wenn Tilda in aller Öffentlichkeit zeigen will, dass sie so viel überschüssige Trauer zu geben hat … Außerdem ist das Ganze auch noch mit ein wenig Einkommen verbunden. Bei dem Begräbnis in Great Village hat Tilda offenbar für ihr Handwerk geübt – während Sie das Ihre ausgeübt haben, Reverend. «

»Aber es kann ja nicht schaden, einmal zu diesem Dr. Sewell zu gehen«, meinte Tante Constance.

»Es schadet der Brieftasche«, erwiderte mein Onkel. »Die Sitzung kostet fünfundzwanzig Dollar, sagt Reverend Witt, nicht wahr?«

Als Reverend Witt gegangen war, sagte meine Tante: »Wyatt, was meinst denn du?«

Ich liebte Tilda insgeheim so sehr, dass ich nur so antworten konnte, als wäre sie hier bei uns im Zimmer und könnte mich hören. »Vielleicht sollte man mit Tilda selbst darüber reden.«

»Klingt vernünftig«, meinte mein Onkel und scheuerte Reverend Witts Teetasse blank.

An diesem Abend sprach Donald das Thema an. Er wiederholte ausführlich, was Reverend Witt gesagt hatte. Tilda hörte mit ernster Miene zu und nickte nachdenklich. Als mein Onkel fertig war, sah er meine Tante an und gab ihr damit zu verstehen, dass nun sie an der Reihe sei, doch sie gab das Wort an Tilda weiter.

»Also, zuerst einmal zu dem, was in Great Village war«, begann Tilda, »und was Reverend Witt gesehen hat. Ich würde sagen, ich war an dem Tag in Hochform. Und was diesen Dr. Sewell angeht – ich bin richtig sauer auf euch, dass ihr anscheinend meint, ich wäre ein bisschen wirr im Kopf. So sauer, dass ich sofort meine Sachen packen werde, mich in den Bus setze und eure sauer verdienten Dollars zum Fenster hinauswerfe, um mich hypnotisieren zu lassen. Ich bin sogar neugierig darauf. Wahrscheinlich bin ich die Erste in Middle Economy, die sich hypnotisieren lässt. Außerdem war ich zwei Jahre nicht mehr in Halifax. Ihr wisst ja, wie sehr es mir dort gefällt. Die Busfahrt hin und zurück, der Zwischenstopp in Truro, um ein Sandwich zu essen. Die vielen Dinge, die es unterwegs zu sehen gibt, da bin ich euch wirklich dankbar.«

»Ich hoffe, du nimmst es uns nicht allzu übel«, sagte meine Tante. »Wir haben es wirklich nur gut gemeint mit dir.«

»Ich mein’s auch gut mit mir«, erwiderte Tilda. »Und ich habe das Gefühl, dass das eine große Chance für mich ist. Und sieh’s mal von der praktischen Seite. Ich könnte von überall Trauer-Aufträge bekommen, sagen wir in Kentville oder bis hinauf nach Prince Edward Island. So könnte ich etwas für Kost und Logis beisteuern, bis ich etwas Eigenes habe.«

»Da hat sie nicht unrecht«, meinte mein Onkel.

»Wisst ihr«, sagte Tilda, »mir ist jetzt der Appetit vergangen, aber bevor ich auf mein Zimmer gehe, möchte ich euch noch etwas sagen. Mutter, Vater – und dir auch, Wyatt. Das Trauern liegt mir einfach, das ist eine Begabung. Und ich kann’s kaum erwarten, dass ich meinen ersten Auftrag bekomme. Wenn ich in Halifax bin, werde ich im Baptist Spa wohnen, das liegt nur einen Block von dem Amt entfernt, wo ich meine Anmeldung einreichen muss. Ich gehe davon aus – und das solltet ihr auch –, dass es keine Probleme geben wird und dass ich sofort anfangen kann.«

Meine Tante hatte mich gebeten, Tilda vom Bus abzuholen, als sie zurückkam. Und so wartete ich am Abend des 27. August vor der Esso-Tankstelle in Great Village. Das war die Bushaltestelle, die Middle Economy am nächsten lag. Ich saß vielleicht zehn Minuten in meinem Wagen, da sah ich den Bus im Rückspiegel kommen. Der blau-weiße Bus von Acadian Line hatte ein schräges Heck und eine senkrecht abfallende Front, außerdem zwei breite Windschutzscheiben mit Scheibenwischern und eine breite silberne Stoßstange vorne. Ich ging zu dem Bus hinüber und löschte meine Chesterfield in meinem Kaffeebecher, in dem sowieso fast nur noch der Kaffeesatz war. Ich hatte erwartet, Tilda würde allein aus dem Bus aussteigen. Aber direkt hinter ihr kam Hans Mohring heraus (natürlich wusste ich noch nicht, dass er so hieß). Sie plauderten lebhaft, und Tilda trug nicht ihre holländische Schultasche – nein, das machte Hans Mohring für sie. Da ist irgendwas, dachte ich mir.

Ich musterte Hans Mohring aufmerksam. Nach meiner Einschätzung war er vielleicht zwei Jahre älter als ich und Tilda. Ich verglich weiter und stellte fest, dass er mich überragte (ich bin barfuß eins fünfundsiebzig). Er trug eine braune Cordhose mit einem Gürtel, der nicht in den Schlaufen steckte, sondern den er einfach um die Taille geschnallt hatte. Das hatte ich erst einmal zuvor gesehen, bei einem betrunkenen Typ in der Barrington Street in Halifax, aber Hans Mohring hatte seinen Gürtel eindeutig nicht so umgeschnallt, weil er betrunken oder zerstreut war. Und er trug ein weißes Hemd, das am Hals zugeknöpft war – sehr förmlich für eine Busfahrt –, dazu einen schwarzen Regenmantel, obwohl es ein klarer Abend war und überhaupt nicht nach Regen aussah.

Als Tilda mit Hans Mohring auf mich zukam, sah ich, dass er ein ziemlich schmales Gesicht hatte, mit einigen Fältchen um die Augen, und dass er attraktiv war. Er hatte dichtes braunes Haar, das hinten bis zum Kragen reichte und recht gepflegt wirkte, aber nicht wirklich gescheitelt war, sondern leicht vom Wind zerzaust. Und er hatte ein offenes, sehr sympathisches Lächeln (das ärgerte mich, weil ich ziemlich schiefe Vorderzähne hatte und es mir schon mit ungefähr fünf Jahren angewöhnt hatte, mit zusammengekniffenen Lippen zu lächeln, um meine Zähne zu verbergen). Ich weiß nicht, worüber sie gelacht hatten, aber sie lachten jedenfalls immer noch, während der Bus bereits wieder aus Great Village abfuhr.

Als sie zum Auto kamen, sagte Tilda: »Wyatt, das ist Hans Mohring. Ich habe ihn im Bus kennengelernt. Er stammt aus Deutschland und besucht die Dalhousie University. Er studiert Philologie.«

»Oh, Philologie«, sagte ich.

Er sah ohne Zweifel, dass ich keine Ahnung hatte, was Philologie war. Er streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie.

»Ja, ja, Philologie«, sagte er. »Ich erklär’s dir nachher, wenn du es wünschst. Tilda hat sofort verstanden, was Philologie ist, aber das kann nicht jeder.« Er sprach mit einem deutlichen Akzent, und irgendetwas in seiner Stimme ließ mich vermuten, dass er sehr unfreundliche Dinge in einem freundschaftlichen Ton sagen konnte. Jedenfalls war nicht zu übersehen, dass Tilda und Hans einander mochten, und das missfiel mir zutiefst. Gleich darauf sagte ich etwas, was Tilda offenbar ziemlich auf die Nerven ging, und sie steckte sich die Daumen in die Ohren, so als hätte sie nicht recht gehört. Diese Geste bedeutete immer, dass sie sich ärgerte.

»Ich wünsche gar nichts«, sagte ich zu Hans. »Darum werde ich nicht wünschen, dass du mir etwas über Philologie erzählst. «

»Gut, vielleicht willst du ja später, dass ich es dir erkläre«, sagte Hans.

»Wo bist du überhaupt hingefahren mit dem Bus?«, fragte ich.

»Ich wollte mir die Gegend ansehen«, antwortete Hans. »Das ist alles. In meinem Zimmer an der Uni ist mir die Decke auf den Kopf gefallen. Ich ging einfach hinaus und kaufte mir ein Ticket. Ich habe eine Landkarte. Ich dachte mir, ich mache eine Rundfahrt durch Neuschottland. Aber jetzt sieht es so aus, als wäre Tilda mein Reiseziel.«

»Siehst du das auch so?«, fragte ich Tilda.

»Ich sehe es so, dass wir uns im Bus unterhalten haben, Hans und ich«, antwortete sie. »Und als er vorgeschlagen hat, ebenfalls hier auszusteigen, habe ich nicht Nein gesagt. So sehe ich das. Nicht anders. Geht das für Sie in Ordnung, Detective Hillyer?«

»Wyatt, bist du ein ausgezeichneter Fahrer?«, fragte Hans. »Ich bin nämlich ein ausgezeichneter Fahrer, und ich kann uns in euer Dorf fahren, wenn du dich auf den Rücksitz setzen möchtest.«

»Wir haben alle drei vorne Platz«, antwortete ich.

»Hans wird eine Weile bleiben«, erklärte Tilda. »Ich dachte mir, dass er die Räume über der Bäckerei mieten kann.«

»Ich bringe ihn hin«, schlug ich vor. »Wir fahren sowieso vorbei.«

»Cornelia Tell hätte bestimmt gerne ein Zusatzeinkommen«, meinte Tilda. »Hans, hast du Geld?«

»Ich habe etwas kanadisches Geld, ja«, antwortete er.

»In Middle Economy geht es auch nur mit kanadischem Geld, Hans«, erklärte Tilda. »Die Bäckerei hat heute länger geöffnet, vielleicht können wir uns nach dem Essen noch einen Liebesknochen genehmigen. Wyatt, würdest du mich begleiten?«

»Wenn du einen Begleiter brauchst, nur um einen Liebesknochen in der Bäckerei zu essen, dann ja, sicher«, sagte ich.

»Im Bus haben wir uns über Hypnose unterhalten«, erzählte Tilda. »Hans hat sich auch schon hypnotisieren lassen, nicht wahr, Hans?«

»Neun Mal sogar«, antwortete er.

»Mir hat ein Mal gereicht«, meinte Tilda. »Ich weiß jetzt, dass es funktioniert.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Na ja, Mom und Dad wollten doch, dass mir der Hypnotiseur den Beruf ausredet, den ich ausüben will, nicht wahr? Aber als ich aus der Hypnose erwachte, sah ich Dr. Sewell an und sagte: ›Ich habe gerade etwas Wunderschönes geträumt – ich habe meine Arbeit auf dem Friedhof von Northport an der Northumberland Strait gemacht, und es ist mir alles ganz wunderbar gelungen. Die Frau, die mich engagiert hat, meinte, sie würde mich ruck, zuck weiterempfehlen.‹ Als sie ›ruck, zuck‹ sagte, wachte ich jedenfalls aus der Trance auf. Es war nicht Dr. Sewell – ich bin von allein aufgewacht. Verstehst du, wir haben fünfundzwanzig Dollar ausgegeben, um mich darin zu bestärken, dass ich das Richtige tue.«

»Reverend Witt hat sich bestimmt etwas anderes davon erwartet«, meinte ich.

»Das glaube ich auch«, antwortete sie. »Aber freust du dich nicht für mich?«

»Es klingt jedenfalls nach einem recht produktiven Besuch in der Stadt«, sagte ich.

Ich fuhr also zur Bäckerei. Cornelia war erfreut, ein Zimmer vermieten zu können. Sie einigte sich mit Hans schnell auf die Miete. Es ärgerte mich, dass Hans Mohring gleich für eine Woche im Voraus bezahlte. »Sie sind mein erster deutscher Gast«, sagte Cornelia. »Ich hatte schon – lasst mich nachdenken – eine vierköpfige holländische Familie. Dann war da ein Schwede und seine Frau, denen Donalds Schlitten sehr gefallen haben. Der Schwede hat gesagt, er könne nicht einschlafen ohne einen richtig starken Kaffee. Ich hab eine Weile gebraucht, um draufzukommen, dass das ein Scherz war – glaub ich jedenfalls. Und dann waren noch einige Französisch sprechende Leute aus Quebec da. Also, die Zimmer über meiner Bäckerei sind gewissermaßen die reinste Touristenfalle, was? Doch eins muss ich gleich sagen, Hans, wenn Sie bei mir europäische Küche oder so erwarten – da muss ich Sie enttäuschen. Dafür ist mein Gebäck berühmt. Ich kann Ihnen kein Mittagessen servieren, aber ein Sandwich mach ich Ihnen gern – mit Fleisch und Käse, wenn Sie möchten. Tomatenscheiben inklusive.«

»Das wäre mir eine Ehre«, sagte Hans.

»Eine Ehre? Meine Sandwiches sind keine Kriegsorden, Hans«, erwiderte Cornelia. »Es sind bloß Sandwiches.«

»Hans studiert Philologie«, warf Tilda ein. »Er geht sehr sorgfältig mit den Worten um. Wenn er Ehre sagt, dann meint er Ehre, schätze ich.«

»Ich hab wohl gerade an den Krieg gedacht«, rechtfertigte sich Cornelia. »Kein Wunder, wo doch diese deutschen Wolfsrudel unsere Küste zu einem Schießstand machen. Stimmt’s nicht, Hans?«

»Ich könnte es verstehen, wenn Sie nicht wollen, dass ich über Ihrer Bäckerei wohne«, sagte Hans.

»Oh, ich weiß schon, dass Sie nur ein Student sind, Hans«, versicherte Cornelia. »Sie werden wohl kaum in Funkkontakt mit den deutschen U-Booten stehen.«

»Also, falls Ihre Behörden nichts dagegen haben«, sagte Hans, »dann würde ich gern kanadischer Staatsbürger werden. Meine Eltern übrigens auch. Und meine Schwester. Sie leben in Dänemark.«

»Sie sind ja offensichtlich kein deutscher Matrose oder Soldat, nicht wahr, Hans, und ich frage mich, wie Sie sich da rausgemogelt haben und der Einberufung entgangen sind. Kommen Sie aus einer einflussreichen Familie?«

»Einflussreich sicher nicht«, antwortete Hans. »Meine Eltern sind nicht reich.«

»Da liegen kanadische Staatsbürger tot am Meeresgrund, hier vor unserer Küste, aber Sie können trotzdem gern so lange hierbleiben wie Sie möchten, Hans Mohring. Ich muss Ihnen allerdings gestehen, dass ich vielleicht jedes Mal, wenn ich Sie ansehe, an den Meeresgrund denke. Das hat aber nichts mit Ihnen persönlich zu tun, wissen Sie.«

»Ich bin nicht in der Armee, weil wir aus Deutschland weggegangen sind«, erklärte Hans.

»Genug vom Krieg«, meinte Cornelia. »Die Wohnung oben ist hübsch und sauber, Hans. Ich habe gestern erst das Bett frisch bezogen. Mein Privatzimmer liegt direkt unter der Wohnung, Hans, also wenn Sie irgendwelche Fragen haben, klopfen Sie ruhig an, und wenn ich nicht gerade im Nachthemd bin, komme ich gern raus und sag Ihnen, was Sie wissen müssen.«

»Wie lautet die Hausordnung?«, fragte Hans.

»Da gibt’s nicht viel«, antwortete Cornelia. »Sie haben die Miete bezahlt, das ist die einzige Hausordnung, die ich habe. Ach, es tut mir leid, dieser Krieg macht mich ganz verrückt. Wenn ich zum Beispiel im Radio irgendwelche Nachrichten über den Krieg höre, dann kann ich gar nicht mehr backen.«

»Ich komme nachher vorbei und esse einen Liebesknochen mit Hans«, sagte Tilda.

»Soll ich die Anstandsdame spielen?«, bot Cornelia an.

»Wyatt hat gesagt, er begleitet mich«, antwortete Tilda.

»Wenn ich nicht hinter der Theke bin, kommt einfach rein«, erklärte Cornelia.

»Okay«, sagte Tilda. »Dann sehen wir uns in zwei Stunden, Hans.«

Hans schüttelte mir, Tilda und Cornelia Tell die Hand, in dieser Reihenfolge. »Wie gelange ich zu meinen Zimmern?«, fragte er.

»Gleich nach der Tür rechts, da kommen Sie zu einer anderen Tür«, erklärte Cornelia. »Die Klinke ist schwarz. Sie können es nicht verfehlen.«

Hans nahm seinen Rucksack und die Tasche und ging hinaus.

»Du stehst nicht zufällig noch unter Hypnose, Tilda?«, fragte Cornelia. »Ich habe gehört, dass manche Leute gar nicht mehr aufwachen, auch wenn es so aussieht.«

»Nein, Cornelia«, antwortete Tilda. »Als ich Hans Mohring vorschlug, in Middle Economy zu bleiben, hab ich genau gewusst, was ich tu, falls du das meinst.«

»Ich hab ihn ganz schön in die Mangel genommen, glaube ich«, meinte Cornelia.

»Wenn du genau hinschaust, dann siehst du, dass er am Kinn und am Hals verfärbt ist«, sagte Tilda. »Blaue Flecken. Sie haben ihn verprügelt in Halifax. Der Kragen deckt es ein bisschen zu. Im Bus hat er gemerkt, dass es mir aufgefallen ist, da hat er den Kragen zugeknöpft. Aber als wir dann ins Gespräch kamen, hat er es mir sofort erzählt. Deutsche sind momentan nicht besonders gern gesehen in Halifax.«

»Die Leute fragen sich vielleicht, ob Hans womöglich Brüder hat, die in einem deutschen U-Boot sitzen«, meinte Cornelia.

»Cornelia, setz dich bitte mal kurz, ja?«, bat Tilda.

Cornelia setzte sich an den nächsten Tisch.

»Hans hat es mit dem Herzen«, erklärte Tilda.

»Na, hat das nicht jeder irgendwie?«, erwiderte Cornelia.

»Aber bei ihm ist es ein Fall für die Ärzte«, fuhr Tilda fort. »Er wird hin und wieder ohnmächtig. Ich weiß ja, wovon ich rede, aber er hat sogar im Bus das Bewusstsein verloren – auf einmal ist er umgekippt. Ich hatte mich schon gefragt, warum er sich nicht neben mich setzt. So bezaubernd wie ich bin. Als er ohnmächtig wurde, habe ich verstanden, dass er es aus Rücksicht tat. Er wollte nicht, dass er gegen meine Schulter fällt, falls es ihm passiert. Mr. Harrison, der Busfahrer, hat ihn im Rückspiegel gesehen, wie er zusammensackte. Er hielt an, kam zu uns und sah nach seinem Puls. Hans war nicht ganz weg. »Sorry, sorry, sorry«, sagte er zu jedem im Bus – das waren zwar nur ich und Mr. Harrison, aber trotzdem. Es war jedenfalls eine ereignisreiche Busfahrt. Und weißt du was, Cornelia? Ich hab ein bisschen Geld übrig und hätte dir seine Miete auch aus der eigenen Tasche gezahlt, ohne zu überlegen.«

Tilda und ich fuhren schweigend nach Hause. Sie sah die ganze Zeit aus dem Fenster.