WIE DEIN VATER EINE LEHRE ALS SCHLITTENMACHER IN MIDDLE ECONOMY, NOVA SCOTIA, BEGANN

Im Highland Book of Platitudes steht unter anderem Folgendes: »Nicht alle Geister verdienen unsere Erinnerung in gleichem Maße.« Ich denke manchmal über diesen Satz nach. Vor allem über das Wort »verdienen«, weil es nahelegt, dass die Toten zu so etwas wie einem bewussten Bemühen fähig sind. Nimmt man diesen Satz ernst, muss man auch an ein Leben nach dem Tod glauben, nicht wahr? Wenn man den Gedanken weiterspinnt, dann scheint es bestimmte Menschen zu geben – nennen wir sie einfach Geister –, die besonders hartnäckig und geschickt sind und denen es besser als anderen gelingt, sich in unser Leben einzuschleichen.

Meine Eltern sind solche Menschen. Wie soll ich das beschreiben? Ich versuch’s mal. Gestern Abend zum Beispiel, da saß ich an meinem Tisch. Es regnete leicht. Ich saß bei einer Tasse Tee und hörte ein Beethoven-Streichquartett – es war das Quartett Nr. 9 in C-Dur, mein Lieblingsquartett – in der Klassik-Sendung im Radio, als die Übertragung plötzlich gestört wurde und man nur noch Rauschen hörte. Vielleicht nehme ich das mit dem Radio zu persönlich, aber ich hatte schon wieder das mulmige Gefühl, dieses Rauschen sei in Wahrheit irgendeine unverständliche Mitteilung meiner Mutter und meines Vaters aus dem Jenseits. Wollten sie mir etwas sagen? Was war die Botschaft?

Ich nehme an, deine Mutter hat dir das erzählt – vielleicht auch nicht –, aber ich sage es dir ganz direkt. Meine Mutter Katherine und mein Vater Joseph sind am selben Abend von verschiedenen Brücken in Halifax gesprungen. Ich war siebzehn. Das gab einen richtigen Skandal damals. Große Schlagzeilen in der Halifax Mail (am nächsten Tag stand es immerhin noch auf Seite zwei und am Tag danach auf Seite vier; es war mitten im Krieg, deshalb war die Titelseite eigentlich den Siegen und Rückschlägen der Alliierten vorbehalten und den Verbrechen der Achsenmächte). Ganz Halifax hat mich bemitleidet, ich war das Opfer einer ANRÜCHIGEN DREIECKSBEZIEHUNG, am 27. August 1941 innerhalb einer Stunde zum Waisen geworden, irgendwann zwischen sechs und sieben Uhr, also kurz bevor es um diese Jahreszeit zu dämmern beginnt. Es klingt vielleicht seltsam, aber nach dem ersten Schock war mir das, was passiert war, vor allem peinlich. Ich weiß noch, wie ich mich für meine Eltern schämte, als ich am Tag nach dem Begräbnis wieder in die Schule ging. Das spricht vielleicht nicht gerade für mich, aber es ist die Wahrheit. Am Abend überkam mich dann doch eine eigenartige Traurigkeit, und alles, was mir bis dahin vertraut war, wurde mir auf einmal fremd.

Es ist jetzt sechsundzwanzig Jahre her, dass mein Vater von der Halifax-Dartmouth-Mautbrücke sprang, die den Highway 111 mit dem Bedford Highway verbindet, und meine Mutter von der Mautbrücke zwischen der North Street und der Windmill Road. Das Wasser war an dem Tag unter allen Brücken aufgewühlt und stürmisch, vom Bedford Basin bis zum Halifax Harbor, der Himmel war dunkel, und die Möwen wurden mehr hin und her getrieben als dass sie flogen – das sah ich von unserem Highschool-Klassenzimmer in der Barrington Street. Die Zeitungsausschnitte bewahre ich übrigens immer noch in einer Schachtel auf. Da finden sich folgende Schlagzeilen: UN-GEWÖHNLICHES LIEBESDREIECK FÜHRT ZU DOPPEL-SELBSTMORD und GEHEIMNISVOLLE FRAU VERURSACHT FAMILIENTRAGÖDIE.

Hast du schon einmal etwas von der Dichterin Emily Dickinson gelesen? Sie sagt, dass man, um zu reisen, nur die Augen schließen muss. Hier in meinem Haus in der Robie Street schließe ich manchmal nachts die Augen, und dann sitze ich wieder draußen auf der Veranda an jenem 27. August 1941, als plötzlich zwei Polizeiwagen vor unserem Haus stehen blieben. Du musst dir vorstellen, nur zehn oder fünfzehn Minuten vorher hatte ich einen Anruf bekommen und erfahren, was passiert war. Und ich saß da und jammerte, weil keiner da war und ich mir das Abendessen selbst machen musste.

Im Highland Book of Platitudes, das ursprünglich in Schottland erschien, steht jedenfalls kein einziges Wort über den Fall, dass sich eine Frau in eine Frau verliebt und ein Mann sich in dieselbe Frau verliebt. Aber genau das war meinen Eltern passiert – und es ging dabei um unsere Nachbarin Reese Mac Isaac. 1941 war Reese Mac Isaac fünfunddreißig Jahre alt. Ihr Haar hatte die Farbe von dunklem Honig, sie war schlank und immer schick angezogen; mir erschien sie jedenfalls genauso attraktiv und geheimnisvoll wie eine der Frauen, die man in einer Parfumwerbung in der Saturday Evening Post sieht. Meine Eltern hatten die Zeitung nicht abonniert, aber sie lag in der Lobby des Lord Nelson Hotels in der Spring Garden Road gegenüber den Public Gardens.

Reese arbeitete nämlich als Telefonistin in dem Hotel. Sie hatte daneben Schauspielunterricht genommen und 1937 in Widow’s Walk mitgespielt. Das war ein Film über eine Frau, deren Ehemann mit seinem Fischerboot in einem Sturm kentert – am selben Abend, an dem sie mit dem gut aussehenden Dorfarzt flirtet. Vor lauter Schuldgefühlen und Reue wird die Frau wahnsinnig und verbringt ihre Nächte fortan auf der Aussichtsplattform auf ihrem Haus. Damals, als Widow’s Walk, übrigens eine »rein kanadische Produktion«, entstand, redete alles über diesen Film. Der größte Teil wurde in der Nähe von Port Medway gedreht – sie hatten sogar einen eigenen Leuchtturm dafür gebaut.

Im Winter des folgenden Jahres lief Widow’s Walk in Halifax, und ich sah mir den Film mit meinen Eltern an. Gleich am Anfang hatte Reese Mac Isaac ihren Auftritt. Sie spielte eine Hoteltelefonistin! »Einen Moment, bitte«, sagte sie, dann hörte sie kurz zu. »Es tut mir leid, Ihr gewünschter Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte, versuchen Sie es später noch einmal. « Die Szene dauerte ungefähr eine halbe Minute. Trotzdem war ich beeindruckt, und auch wenn in Widow’s Walk keine richtigen Stars mitspielten und der Film kein großer Kassenschlager wurde, stellte ich mir doch vor, dass Reese dadurch Zugang zur glitzernden Welt der Schauspieler hatte. Ich fragte mich, ob sie Loretta Young getroffen hatte. Oder Tyrone Power? War sie vielleicht Jean Harlow begegnet? Als die wenigen Zuschauer aus dem Kino gingen, sagte ich: »Da haben sie aber echt Glück gehabt, dass sie jemanden gefunden haben, der so viel Erfahrung als Telefonistin hat wie Reese!«

Meine Eltern bogen sich vor Lachen. »Liebling«, sagte meine Mutter, »ich sag’s ungern, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass Reese Mac Isaac in ihrem Kurzauftritt genau auf dem Platz sitzt, wo sie sowieso jeden Tag außer Sonntag von sechs bis drei arbeitet.«

»Da braucht man nicht gerade großartig zu schauspielern«, fügte mein Vater hinzu.

»Das ist mir egal«, sagte ich. »Sie hat es jedenfalls gut gemacht. «

Eine Woche nach dem Begräbnis, als ich auf dem Sofa lag und Whisky trank, um besser einschlafen zu können, wurde mir klar, dass ich es meinem Vater nicht übelnahm, dass er Reese geliebt hatte. Das Gleiche galt für meine Mutter, auch wenn ich von allen Seiten zu hören bekam, es sei unmoralisch gewesen, was mir aber, ehrlich gesagt, ziemlich schnuppe war. Ich wusste, dass sich meine Eltern nicht mehr liebten. Schon als ich acht oder neun war, wusste ich das, eigentlich noch früher. Sie behandelten einander höflich und korrekt – »Gute Nacht, Schatz«, sagten sie, dann ging er in sein Schlafzimmer und sie in ihres.

Ich glaube, ich war trotzdem froh, dass wir alle unter einem Dach lebten. Außerdem führte ich damals in der Highschool unsere Fechtmannschaft, und Fechten war das, was mich am meisten interessierte. Ich nahm an allen möglichen Turnieren teil, einmal sogar in St. John’s, Neufundland. Nach dem Tod meiner Eltern hörte ich aber mit dem Fechten auf, verlor irgendwie den Bezug dazu. Ich hatte Reese Mac Isaac eigentlich immer sehr nett gefunden – einmal leistete ich mir sogar eine Theaterkarte, als sie in einer Aufführung von Romeo und Julia eine Zofe spielte –, aber ich kann nicht behaupten, dass ich viel über sie wusste. An einem Sommerabend, ich war fünfzehn damals, sah ich Reese in einem Nachthemd – es sah aus wie Seide und hatte ein Muster aus großen Lilien, ein Nachtgewand, das mir für eine Stadt wie Halifax ziemlich exotisch vorkam. Sie goss die drei Pflanzen auf der Fensterbank in der Küche mit einer Pipette. Ich dachte mir: Das ist aber sparsam, vielleicht sogar knausrig.

Nach dem Selbstmord meiner Eltern spielten meine Gefühle verrückt – das reichte von glühendem Zorn über Verwirrung bis hin zu einer Traurigkeit, die mich zu den unmöglichsten Zeiten ins Bett gehen ließ. Sicher ist, dass es in dieser Zeit mit meinen schlaflosen Nächten begann. Meine Eltern sind auf dem Camp-Hill-Friedhof begraben. Sie wurden im Abstand von einer Stunde beerdigt, beide von Reverend Carmichael, damals Pfarrer der Harbor Methodist Church, der Kirche, die meine Eltern eher unregelmäßig besuchten.

Reverend Carmichaels Trauergottesdienste hatten immer den gleichen Wortlaut. Die Fechtmannschaft kam auch zum Begräbnis. Meine Mutter war Buchhalterin in der HMC Dockyard, und viele ihrer Kollegen erwiesen ihr die letzte Ehre. Mein Vater hatte einen Schreibwarenladen mit Schreibmaschinenreparatur in der Grafton Street, und ich erinnere mich, dass sein Geschäftspartner Mr. Amoury zusammen mit Mrs. Amoury und ihren zwei Töchtern an der Beerdigung teilnahm. Als er mir die Hand schüttelte, fiel mir auf, dass Mr. Amourys Finger schwarze Flecken von Schreibmaschinenfarbband hatten.

Nach der Zeremonie gab ich Reverend Carmichael fünfzig Dollar in einem Umschlag. Er sah hinein und wippte mit dem Kopf vor und zurück. »Weißt du«, sagte er, »normalerweise nehme ich fünfzig Dollar pro Person, aber das war ja …« Er fand nicht die Worte, um den Satz zu Ende zu sprechen, sondern drehte sich um und ging. Während der Beerdigungen hatte es genieselt, aber danach hatten die Leute ihre Regenschirme geschlossen. Während sie sich in alle Richtungen verstreuten, sprach ich kaum ein Wort mit jemandem. Wie benommen ließ ich mich treiben und lauschte hier und dort, was die Leute redeten. Da war zum Beispiel Oliver Tapper, der die Kolumne »Canadians at the Front« in der Sunday Mail schrieb. Oliver, der auch eine Sammlung mit patriotischen Gedichten herausgebracht hatte, war Stammkunde im Geschäft meines Vaters. Er hatte es meistens sehr eilig und sagte, er müsse dringend noch einen Artikel abliefern. Wie er da auf dem nassen Gras des Friedhofs stand, meinte er: »Hier liegen sie jetzt, die arme Katherine dort drüben und der arme Joseph vor uns. Und wer läuft weiter frisch und munter herum? Diese Hure! Diese erbärmliche Möchtegernschauspielerin!«

»Was redest du da, Oliver?«, protestierte Mrs. Tapper. »Du willst Gerechtigkeit? Du willst, dass sie für ihr unmoralisches Verhalten bestraft wird? Nun, dann vergiss nicht, dass sie nicht allein daran schuld war. Außerdem sind wir hier auf einer Beerdigung, also gib bitte Acht, was du sagst.«

Oh, fast hätte ich’s vergessen, die merkwürdigste Schlagzeile von allen stand über einem Foto von mir (aus dem Highschool-Jahrbuch): JUNGE AUS HALIFAX VON BRÜCKEN ZUM WAISEN GEMACHT. Dabei war ich schon siebzehn, also kein kleiner Waisenjunge mehr. Die Schlagzeile klang so, als wären die zwei Brücken an allem schuld gewesen und nicht die Menschen, um die es ging.

Man beschäftigt sich im Leben immer nur mit dem, womit man gerade zu tun hat; an jenem 27. August 1941 – es war erst der fünfte Schultag nach den Sommerferien – hatte ich, als ich in der Schule saß, keine Ahnung, welches Schicksal meinen Eltern bevorstand. Wir hatten noch zusammen gefrühstückt. Mein Vater war sehr gesprächig gewesen, und meine Mutter war auch nicht mürrisch oder trübsinnig. Später jedoch begann ich die Dinge ein bisschen anders zu sehen, nachdem ich die Zeitungsberichte gelesen und mit den Polizisten gesprochen hatte, die zu den Brücken geschickt worden waren.

Officer Dhomnaill – er war in Irland zur Welt gekommen und hatte den Akzent beibehalten –, erzählte mir von meiner Mutter. »Ich hab versucht, sie davon abzubringen«, sagte er. »Man redet mit dem Menschen, der in dieser verzweifelten Situation ist, damit er sich vielleicht an irgendwelche schönen Dinge in seinem Leben erinnert. Man versucht es wenigstens. Verstehen Sie, was ich meine? Und es tut mir leid, dass es mir nicht gelungen ist. Ich hab’s einfach nicht geschafft, das tut mir furchtbar leid.« Officer Dhomnaill wirkte ehrlich erschüttert.

»Hat sie nicht einmal irgendwas für mich gesagt? Sie hat nämlich keinen Brief oder so hinterlassen.«

»So verzweifelt wie Ihre Mutter war«, antwortete der Polizist, »und bei dem starken Wind dort oben auf der Brücke, da war es schwer, jedes einzelne Wort zu verstehen. Aber ich glaube, sie hat gesagt: ›Sie werden es bestimmt im Radio bringen. Egal. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen muss.‹«

»Okay. Na gut. Danke.«

»Mein Job ist wirklich nicht immer ein Honiglecken«, sagte der Mann. »Ihre Mutter – sie war mein erster Springer. Manche Polizisten haben nie einen. Ich meine das wirklich nicht beleidigend. Wir Polizisten reden halt so untereinander.«

»Ich verstehe.«

»Es tut mir leid, was passiert ist.«

Ich fürchte, ich habe ihm die Tür vor der Nase zugemacht.

Später kam ein Officer Padgett, um mir das von meinem Vater zu berichten. Er klopfte, und ich ging wieder auf die Veranda hinaus. Wir schüttelten uns die Hand. »Ich weiß, dass Officer Dhomnaill vorhin da war«, sagte er.

»Ja, er war hier.«

»Ich spreche also mit Mr. Wyatt Hillyer, richtig?«

»Richtig.«

»Gut, Wyatt, ich sag Ihnen, was zu sagen ist. Ist nun mal meine Pflicht. Dann kann ich Sie wieder in Ruhe lassen und aufs Revier zurückfahren und den Papierkram erledigen. Sie haben sicher auch genug, über das Sie in Ruhe nachdenken wollen, nicht?«

»Okay.«

Er blätterte in seinem Notizbuch. »Ich kam an diesem Abend um sechs Uhr fünfzehn zu der Brücke«, begann er. »Ich kletterte so nah wie möglich zu Ihrem Vater. Er sah müde aus. Für mich sah er müde aus. Er sagte: ›Es gibt da einen kleinen Scherz, den hab ich nie jemandem erzählt – nicht mal meiner Frau. Es geht darum, was ich auf meinem Grabstein stehen haben will: Ich hab’s ja gewusst, dass es so kommen wird!‹« Er sah wieder in seinen Notizen nach. »Und Ihr Vater sagte noch: ›Beide Frauen waren verdammt interessant, jede auf ihre Weise. Das ist alles. Sagen Sie meinem Sohn Wyatt, dass er mir bitte verzeihen soll. Bitten Sie ihn darum, es wenigstens zu versuchen.‹ Ich fragte ihn nach seinem Namen, und er sagte Joseph Hillyer. Dann sagte ich: ›Joseph, mögen Sie die Steaks im Halloran’s?‹ Weil sie uns in unserer Ausbildung beibringen, dem Menschen möglichst ganz normale Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Man erwähnt zum Beispiel ein beliebtes Restaurant. Oder man fragt ihn, welche Kirche er besucht. Aber Ihr Vater hat trotzdem losgelassen.«

Ich ging wieder hinein und machte die Tür zu. Durch das Fenster sah ich, wie Officer Padgett in seinen Wagen einstieg. Es gab eigentlich keinen Grund dafür, aber er schaltete seine Sirene ein, als er die Straße hinunterfuhr.

Natürlich kamen auch meine Tante Constance Bates-Hillyer und mein Onkel Donald Hillyer aus Middle Economy zum Begräbnis. Sie blieben noch länger, um mir zu helfen, einige Dinge zu regeln, vor allem was das sogenannte Vermögen meiner Eltern betraf. Es bestand aus dem abbezahlten Haus in der Robie Street, einer bescheidenen Lebensversicherung, einem Sparbuch mit 1334 Dollar und der Radiosammlung meiner Mutter. »Ich habe absolut keine Ahnung, was diese Radios wert sind oder wie man das feststellen kann«, meinte mein Onkel. »Aber darum kümmern wir uns später.«

Insgesamt hatte meine Mutter achtundfünfzig Radios. Fast jeden Abend hatte ich in meinem Zimmer die Klänge von Stimmen oder Musik aus dem Radio gehört, und das oft sehr laut, wenn meine Eltern nicht wollten, dass ich mitbekam, wie sie sich stritten. Zu ihrer Sammlung gehörte zum Beispiel ein International Kadette aus dem Jahr 1938, ein weißes Silvertone, vier verschiedene Modelle mit Bakelitgehäusen und ein Philco Transitone. Außerdem besaß sie zwei Fada-Radios, ein 1939er RCA von der Golden Gate International Exposition in San Francisco (die sie nicht besucht hatte), ein Zenith 835 und einige andere Radios mit Holzgehäuse. Sie hatte ein Crosley-Chrom-Radio und ein RCA Victor La Siesta mit dem farbenfrohen Bild eines Mannes mit Sombrero, der vor einem riesigen Saguaro-Kaktus saß, mit Bergen und Wolken im Hintergrund. Sie hatte ein Kadette Topper, ein Emerson Snow White mit einer eingelegten Darstellung von Schneewittchen und den sieben Zwergen (sie sahen ziemlich unheimlich aus), drei Detrola Pee Wee in den Farben Rot-Weiß, Schwarz und Blau-Weiß. Da waren außerdem drei kleine Radios aus Formplastik von der F.A.D. Andrea Corporation, von RCA und Crosley. Sie besaß ein Bendix-Radio mit einem Gehäuse aus Mahagoni-Imitat, das Mittel- und Kurzwelle empfing und das mit Gleichstrom und Wechselstrom betrieben werden konnte. In den letzten drei Jahren ihres Lebens bevorzugte sie modernere Geräte, die mit irgendwelchen Berühmtheiten geschmückt waren. Zum Beispiel ein Stewart-Warner-Radio mit einem Aufkleber der berühmten Dionne-Fünflinge, die man ihren Eltern weggenommen hatte, die aber bei Pflegeeltern zusammenblieben. Meine Mutter verfolgte ihre Geschichte mit einem fast religiösen Eifer. »Herzzerreißend«, sagte sie. »Das ist wirklich mehr, als man ertragen kann.« Auf dem Aufkleber waren die Fünflinge ungefähr drei Jahre alt. Sie standen beisammen, lächelnd und voller Hoffnung.

Am 15. September machten meine Tante, mein Onkel und ich einen Spaziergang zum Hafen hinunter. Wir sahen uns, jeder mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand, die Schiffe an, die Fähren, Schlepper, Frachter und Ozeandampfer. Wir beobachteten, wie die Leute an Bord des Dampfers Victoria gingen, und plötzlich glaubte ich Reese Mac Isaac auf der Gangway zu sehen. Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit, und sie trug einen Kamelhaarmantel und einen schwarzen Schal. In der Hand hielt sie einen Koffer, aber wahrscheinlich hatte sie einen Schrankkoffer mit ihren Sachen schon an Bord. Einmal drehte sie sich um, wie um noch einmal auf Halifax zurückzuschauen, und ich sah ihr Gesicht von vorn. Es war wirklich Reese Mac Isaac. Ich muss einen überraschten Laut von mir gegeben haben, denn meine Tante fragte mich: »Was ist denn, Wyatt?«

»Nichts«, sagte ich. »Gar nichts. Ich hab nur gerade gedacht, wie dankbar ich euch für alles bin, was ihr für mich tut. Ich weiß, ich war kein besonders toller Neffe – ich hab euch fast nie besucht.«

»Das ist schon in Ordnung, mein Lieber«, versicherte meine Tante. »Wenn du gekommen bist, war es immer nett.«

»Wyatt«, sagte mein Onkel, »so wie du den Leuten hinterherschaust, die da an Bord gehen, könnte man fast glauben, du wärst auch gern auf diesem Dampfer nach New York. Mir ist aufgefallen, dass auch ein paar hübsche Frauen dabei sind.«

»Donald, das klingt so, als würdest du selbst gern mitfahren«, warf meine Tante ein.

Alle lachten, und ich sagte: »Ich bin bis jetzt eigentlich nur mit der Fechtmannschaft irgendwohin gekommen. Aber New York würde ich wirklich gern einmal sehen.«

»Was du brauchst, ist ein Beruf, lieber Neffe«, meinte mein Onkel. »Constance und ich, wir haben uns darüber unterhalten. Was hältst du von Schlitten und Toboggans? Ich könnte einen Lehrling gebrauchen. Irgendwann übernimmst du vielleicht sogar das Geschäft, wenn es dann noch so gut läuft wie jetzt. Also, ich habe jede Menge Bestellungen aus drei Provinzen, außerdem aus Maine und Vermont in den Staaten – ich komme mit dem Liefern gar nicht nach.«

»Vergiss nicht diese Familie aus Schweden, die vorbeischaute, um nach dem Weg zu fragen. Sie haben deine Arbeit richtig bewundert«, warf meine Tante ein.

»Sie waren fast eine Stunde da«, fügte er hinzu.

»Ja, die Leute aus diesen Ländern – Schweden, Dänemark, Norwegen und so –, die können einen guten Schlitten immer gebrauchen«, meinte meine Tante.

»Du meine Güte, jetzt ist mir gerade etwas Peinliches eingefallen«, sagte mein Onkel. »Was ist, wenn diese Schweden mit schwedischem Geld bezahlen wollen?«

»Ich würde das Problem vorher klären«, riet meine Tante. »Schreib ihnen doch einen Brief. Dann können wir nur hoffen, dass jetzt im Krieg ein Brief in Schweden ankommt.«

»Klingt vernünftig, Constance«, meinte er. »Dann kann ich ihnen schreiben, dass unsere Banken hier schon wissen, wie man ein solches Geschäft am besten abwickelt.«

Die Victoria zog die Gangway ein. »Was meint ihr – soll ich das Haus verkaufen?«, fragte ich. »Ich meine, falls ich euer großzügiges Angebot annehme.«

»Ich würde es noch nicht verkaufen«, meinte meine Tante.

»Eher vermieten«, fügte mein Onkel hinzu. »Mit der schönen Aussicht auf den Park sollte das nicht schwer sein. Nein, ich würde das Haus behalten, Wyatt. Und die Radios deiner Mutter genauso. Du könntest das Haus natürlich auch leerstehen lassen. Vielleicht möchtest du hin und wieder hier sein. Du bist ein junger Mann. In der Stadt ist viel mehr los als bei uns. Kinos, Pubs, Mädchen und so weiter.«

»Dass hier mehr los ist als bei uns, das will nicht viel heißen«, warf meine Tante ein. »Unsere einzige Unterhaltung ist, den Möwen zuzusehen, wie sie sich auf den Trawlern zanken.«

»Du wirst das schon irgendwie machen, Wyatt, du bist ein kluger Junge«, sagte mein Onkel. »Außerdem hast du ja Joes Wagen, nicht? Du kannst jederzeit nach Halifax fahren, wenn du möchtest.«

Ich schlief erst einmal darüber, und am nächsten Morgen nahm ich die Lehre an. Tatsache war, dass ich keine Minute länger allein in dem Haus bleiben wollte. Ich beschloss, das Haus in der Robie Street 58 leerstehen zu lassen. Meine Tante und mein Onkel fuhren nach Hause. Ein paar Tage später schaute ich in meiner Highschool vorbei und füllte eine Erklärung aus, dass ich nicht vorhatte, die Schule abzuschließen. »Dann viel Glück, Wyatt«, sagte Mrs. Cornish, die stellvertretende Direktorin. »Hast du dich schon von deinen Freunden verabschiedet?«

»Ich hab’s allen gesagt, denen ich es sagen wollte«, antwortete ich.

»Es soll ja recht schön sein an der Bay of Fundy«, sagte sie. »Jetzt lebe ich schon dreiundfünfzig Jahre in Neuschottland und war noch nie dort.«

Direkt von der Schule fuhr ich mit dem Auto meines Vaters, einem schwarzen viertürigen DeSoto, der eigentlich ein paar Reparaturen gebraucht hätte, die aber noch warten konnten, nach Middle Economy. Ich rauchte eine Chesterfield nach der anderen. Heute gibt es auch den Highway 102, doch damals konnte man nur auf der Route 2 nordwärts nach Truro fahren, ins Zentrum der Provinz. Man kommt unterwegs an den Orten Beaver Bank, Home Settlement, Shubenacadie, Alton, Stewiacke, Hilden und Millbrook vorbei, und dazwischen liegen weite Wälder und Felder. In Truro legte ich einen Stopp ein und aß ein Sandwich im Canaan’s Restaurant. Außerdem ging ich in ein Geschäft und suchte eine schöne Schachtel Pralinen für meine Tante aus. Von Truro ging es weiter nach Westen auf der Route 2, zur Linken lag die weite graublaue Fläche des Minas-Beckens, während am Horizont schon Regenwolken heraufzogen. Ich kam durch die Ortschaften Central Onslow, Glenholme, Great Village, Portapique, Bass River, Upper Economy und schließlich Middle Economy. Der Zustand des Autos zwang mich, langsam zu fahren. Die ganze Reise dauerte ungefähr viereinhalb Stunden.

Das Haus meiner Tante und meines Onkels lag einen knappen Kilometer landeinwärts vom Minas Basin an der Cove Road. Ich bekam das Gästezimmer. In diesem ersten Jahr fuhr ich fünf- oder sechsmal nach Halifax, aber ich schlief nie im Haus meiner Eltern in der Robie Street, ja ich fuhr nicht einmal vorbei. Ich übernachtete im Baptist Spa an der Ecke Morris und Barrington Street für einen Dollar fünfundzwanzig Cent die Nacht. Die Toilette war draußen am Gang. Frühstück gab es unten in einem kleinen Esszimmer.

Aber an dem Abend bevor ich Halifax verließ, sagte mir mein Nachbar Mr. Lessard, ein freundlicher älterer Herr, dass er bereit sei, nach meinem Haus zu sehen, den Rasen zu mähen, die Sträucher zu schneiden, mir die Post nachzuschicken – viel würde ohnehin nicht kommen – und abends ein paar Lichter einzuschalten. »Zu dem blühenden Nachtleben von Halifax gehören in letzter Zeit auch Einbrüche«, erklärte er.

»Ich mache mir da keine großen Sorgen«, antwortete ich.

»Also, ich hab Katherine und Joe gemocht«, sagte er. »Und Zeit genug hab ich auch. Ich mach ja jetzt meinen Morgenspaziergang zum Hafen und zurück nicht mehr. Aber zum Haus nebenan kann ich immer noch rübergehen.«

»Ich weiß das wirklich zu schätzen«, versicherte ich.

»Da wär nur eine Sache, und dafür bräuchte ich deine Erlaubnis«, sagte er. »Ich würd gern einmal alle Radios deiner Mutter gleichzeitig einschalten, wenn gerade die Classical Hour aus Buffalo übertragen wird. Ich werd nie ein Konzert mit einem richtigen Orchester erleben – aber das wär ein ganz guter Ersatz, glaub ich. Reese Mac Isaac ist nach New York gegangen, keiner weiß für wie lange. Die Radios werden sie also nicht stören. Ich weiß zwar noch nicht, wie man’s schafft, sie alle einzuschalten, ohne dass die Sicherungen im Haus rausfliegen, aber jemand von Metcalf ’s Electric würde mir helfen.«

»Ich habe sicher nichts dagegen«, sagte ich.

»Ich mach das nur ein Mal«, versicherte Mr. Lessard. »An einem Sonntagabend, da kommt nämlich die Classical Hour. Ich seh das Programm in der Zeitung durch und such mir dann einen Sonntag aus. Ich nehm sicher keinen Abend, an dem sie den verdammten Vivaldi spielen. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Beethoven, Johann Sebastian Bach und ein paar andere – die wären mir recht. Soll ich dir dann sagen, an welchem Sonntag ich alle Radios auf einmal einschalte?«

»Nicht nötig«, antwortete ich.

»Na gut, Wyatt«, sagte er. »Dann viel Glück. Ich kümmer mich hier um alles. Vivaldi kommt mir jedenfalls nicht ins Haus. Nicht solange ich drauf aufpasse.«