PICKNICK IM BUS

Constance und ich stiegen am 7. Oktober um 10:05 Uhr in den Bus der Acadian Line. Wir setzten uns nebeneinander in die dritte Reihe auf der Fahrerseite. Sie trug eine dunkelbraune Hose, eine weiße Bluse, Pullover und Jacke. Bequeme Schuhe rundeten ihre Reisekleidung ab. Ihren Schal hatte sie fein säuberlich zusammengefaltet in der Handtasche. Von Great Village bis Truro waren wir die einzigen Fahrgäste. In Truro stiegen dann zwei Frauen ein, die sich nebeneinandersetzten und dann sofort jede ein Buch herausnahmen und zu lesen begannen. Wir hatten in Truro fünfunddreißig Minuten Aufenthalt, aber meine Tante und ich blieben sitzen. Sie nahm eine Thermosflasche mit Tee heraus, die sie eingepackt hatte. Bald kam ein Verkäufer in den Bus – ein etwas ungeschliffener Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren – und ging durch die Sitzreihen. Er bot Sandwiches mit gebackenem Heilbutt oder mit Schinken und Käse an. Wir nahmen beide den Heilbutt.

Der Verkäufer ging ins Depot zurück. »Picknick im Bus«, sagte Constance. »Das Leben könnte schlimmer sein.«

»Du hättest mir das Sandwich nicht bezahlen müssen«, sagte ich. »Ich habe mein eigenes Reisegeld. Abgesehen von dieser Woche hat Onkel Donald mir meinen Lohn immer pünktlich gegeben.«

»Dann hat er’s eben nicht immer pünktlich getan – und es sollte wirklich immer sein.«

»Ich werd ihn aber nicht drängen.«

»Hast du deinen Koffer ordentlich gepackt?«

»Das verrat ich dir nicht.«

»Wenn wir nach Halifax kommen – darf ich kurz nachsehen? «

»Nein, darfst du nicht, Tante Constance.«

Während des Aufenthalts stand der Fahrer, Mr. Harrison (er und Mr. Standhope fuhren diese Strecke), draußen gegen den Bus gelehnt und rauchte eine Zigarette. Meine Tante wickelte die Hälfte von ihrem Sandwich ein und legte es in ihre Handtasche. Nach ungefähr zwanzig Minuten stieg der Fahrer wieder ein, gefolgt von zwei jungen Männern, kanadischen Soldaten in Uniform, die sich in die letzte Reihe setzten, rauchten, plauderten und lachten. Wir fuhren los, aus Truro hinaus und weiter nach Süden. Dieser Abschnitt sollte laut Fahrplan drei Stunden und fünfzehn Minuten dauern, sodass wir um 17:15 Uhr in Halifax ankommen würden.

»Willst du jetzt dein Nickerchen machen?«, fragte ich.

»Noch nicht.«

»Dann möchte ich dich etwas fragen. Darf ich?«

»Ich hab mich nicht von dir begleiten lassen, damit du dann kein Wort sagen darfst«, antwortete meine Tante.

»Also, es ist Folgendes. Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum Onkel Donald … ich meine, wenn man weiß, wie sehr ihn das mit den U-Booten beschäftigt … warum er …«

»… warum er es zulässt, dass ich die Fähre nehme? Dass ich mit der Caribou rauf nach Sydney und dann hinüber nach Neufundland fahre? Es ist ja nicht ganz ungefährlich, mit den U-Booten und allem. Wolltest du das fragen?«

»Ja.«

Constance öffnete ihre Handtasche und sah auf ihr halbes Sandwich hinunter. Schließlich verdrückte sie es, als wäre sie am Verhungern. Ja, sie tat etwas, was ich noch nie bei ihr gesehen hatte – sie sprach mit vollem Mund: »… ich hab in der Werkstatt geschlafen.«

»Das hab ich jetzt nicht ganz verstanden«, sagte ich.

Ich wartete, bis sie ihr Sandwich aufgegessen hatte. »Ich habe in der Werkstatt geschlafen«, sagte sie noch einmal. »Ich hätte Donald ja erst wieder nach der Taufe gesehen, also ging ich zu ihm rüber. In einer Ehe muss man sich auf verschiedene Situationen einstellen können, weißt du. Ich hab mich eben auf die Werkstatt eingestellt. Und wir haben geredet, als Mann und Frau. Obwohl es wirklich ungemütlich ist da draußen. Allein diese Zeitungsschlagzeilen sind nicht sehr angenehm. Eins muss man ihm lassen – er hat wirklich versucht, mir die Reise auszureden. Aber ich hab zu ihm gesagt, es ist eine Taufe. Es ist Zoes Enkelkind, und Zoe ist meine älteste Freundin. Freundschaft ist nichts Selbstverständliches, Wyatt, man muss sie sich immer wieder verdienen. Wie lange bin ich schon mit Zoe Fielding befreundet – seit wir fünf Jahre alt waren! Daran habe ich Donald erinnert. Wir haben Tee getrunken in der Werkstatt. Das Radio hab ich ausgeschaltet. ›Ich werde die Taufe sicher nicht verpassen‹, sagte ich klipp und klar. Und da hat Donald Kraftausdrücke verwendet, die mir nicht gefallen. Aber er hat nur seine Gefühle ausgedrückt, und das akzeptiere ich.«

»Und was ist dann passiert?«

»Mein Mann und ich, wir haben einen Waffenstillstand geschlossen, und wir haben beide nicht geschlafen.«

»Du hast letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen?«

»Obwohl mir Donald die Pritsche angeboten hat. Doch jetzt werde ich wohl bald ein Nickerchen brauchen.«

»In letzter Zeit schlafen alle schlecht – zumindest die, die mir am wichtigsten sind.«

»Irgendwo in Tildas Buch steht: ›Bitte, schmeichle oder dräng dem anderen deine Meinung auf, wenn du musst, aber das heißt noch nicht, dass du ihn damit überzeugst.‹ Donald hat es bei mir versucht und es nicht geschafft. Die Taufe hat gewonnen, so einfach ist das. Ich habe oft zu Tilda gesagt, diese Weisheiten in dem Buch können einem nicht sagen, was das Leben bringen wird, allerdings fassen sie oft recht gut zusammen, was einem passiert ist.«

»Ich habe dieses Buch noch nie aufgeschlagen. Es liegt neben Tildas Bett.«

»Ihrem ehemaligen Bett, nicht?«

Wir schwiegen eine Weile, dann sagte Constance: »Mein Mann hat mich gefragt, warum ich nicht das erste Stück komplett mit dem Bus fahre. Dann bräuchte ich die Fähre nur noch, um hinüber nach Neufundland zu kommen. Aber soll ich wirklich die ganze Strecke nach Sydney Mines auf Cape Breton auf diesen Straßen fahren? In meinem Alter, mit meinen morschen Knochen?«

»Dass du in die Werkstatt gegangen bist – was willst du mir damit sagen? Dass es da noch etwas gibt, was nicht selbstverständlich ist, außer der Freundschaft?«

»Mit der Ehe ist es genauso. Stimmt.«

»Nach siebenunddreißig Jahren ist es immer noch …«

»Es tut weh, ja, aber auch nach so vielen Jahren ist es nichts, was man sicher hat.«

Meine Tante schloss die Augen. Doch sie schlief nicht – offenbar wollte sie einfach mit geschlossenen Augen reden. »Greif mal in meine Handtasche, Wyatt. Ich erlaube es dir. Da liegt ein zusammengefaltetes Blatt Papier.«

Ich fand das Blatt und las, was darauf stand – ein Gedicht, fein säuberlich mit Tinte niedergeschrieben:

CASABIANCA

Liebe ist der Junge auf dem brennenden Deck, der tapfer seinen Vers aufsagt: »Der Junge stand auf dem brennenden Deck.« Liebe ist der Sohn, der stockend vorträgt, während das brennende Schiff hilflos untergeht.


Liebe ist der hartnäckige Junge, das Schiff, sogar die schwimmenden Matrosen, die auch gern auf einer Schulbühne stünden oder gern einen Grund hätten, um an Deck zu bleiben. Und Liebe ist der brennende Junge.

Nach ein paar Minuten öffnete meine Tante die Augen. »Die Bibliothekarin, Mrs. Oleander, hat Tilda dieses Gedicht gezeigt. Tilda hat es dann für mich aufgeschrieben. Was Mrs. Oleander so bemerkenswert fand – und ich übrigens auch –, ist, dass es eine Frau geschrieben hat, die einen Teil ihrer Kindheit in Great Village verbracht hat. Praktisch eine Nachbarin! Dieses Gedicht wurde sogar veröffentlicht, in der Zeitschrift New Democracy. Von der Dichterin, Miss Elizabeth Bishop, sind noch viele andere Gedichte erschienen. Mrs. Oleander hat gesagt, dass Miss Elizabeth Bishop eine richtige Weltreisende ist, aber immer wieder einmal in unsere Provinz kommt. Und weißt du, was? Wo wir heute früh in den Bus eingestiegen sind – das Haus direkt gegenüber der Esso-Tankstelle, das ist das Haus, in dem die Dichterin einige Jahre gewohnt hat. Sie ging in die Schule von Great Village. Ihre Mutter, und das ist kein Klatsch, sondern eine Tatsache, ihre Mutter kam in ein Sanatorium und blieb auch dort. Irgendein Nervenleiden, glaube ich. Da war Elizabeth erst fünf Jahre alt. Schlimm, nicht? Aber das geht natürlich niemanden etwas an, außer der Familie.«

Ich legte das Gedicht in die Handtasche meiner Tante zurück. »Ich bräuchte zehn Philologen, die mir helfen, es so zu verstehen, wie es gemeint ist«, sagte ich.

»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel«, erwiderte sie. »Ein Gedicht kommt einem den halben Weg entgegen – die andere Hälfte geht man selber, und dann schaut man, was passiert.«

»Wie das, was du vorhin über Freundschaft und Ehe gesagt hast, nicht? Man muss etwas dafür tun.«

»Ich meine nur, wenn du wohlwollend an ein Gedicht herangehst, dann wird das Gedicht auch so sein. Was die Bedeutung betrifft, so sagt es jedem etwas anderes. Mehr musst du nicht wissen.«

»›Während das brennende Schiff hilflos untergeht‹ – das sagt mir etwas«, meinte ich. »Und ›der Sohn, der stockend vorträgt‹ – ich weiß, wie das ist.«

»Siehst du, das wäre schon mal ein guter Anfang, um mit dem Gedicht klarzukommen.«

»Nein, ich hab mich genug bemüht für heute, Tante Constance. Aber es freut mich, dass dir das Gedicht so gefällt.«

»Wenn ich wieder heimkomme, klebe ich es in mein Tagebuch. Mrs. Oleander meint, dass sich Miss Bishop durchaus einen Namen machen kann.«

»Zumindest in Great Village ist sie sicher schon bekannt, meinst du nicht?«

»Natürlich«, antwortete meine Tante. »Trotzdem, stell dir vor, wie es sein muss, wenn man seine ganz privaten Gedanken vor Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten Fremden offenlegt. Die Dichter leiden darunter. Aber wir haben einen Nutzen davon. Natürlich können Gedichte manchmal so verschlüsselt sein, dass der Durchschnittsmensch sie kaum versteht. Und ich würde mich da jetzt durchaus auch als Durchschnittsmenschen sehen.«

Meine Tante blickte eine Weile aus dem Fenster, dann schlief sie schließlich ein. Sie wachte erst auf, als der Bus in Halifax ankam. Mein Onkel hatte eine Art Rollwagen für den Koffer meiner Tante gebastelt – eine kleine Plattform aus Brettern, etwa einen halben mal einen Meter groß, mit Rädern dran, die er von alten Tretrollern genommen hatte. Mr. Harrison und ich luden den Koffer darauf. Das Gestell wackelte ein bisschen, aber es erfüllte seinen Zweck recht gut und sorgte außerdem für einiges Aufsehen unter den Passanten, während wir die vier Blocks bis zum Kai gingen, wo ein Matrose den Koffer über die Gangway zur Fähre St. Michael’s hinaufzog. Die St. Michael’s würde in Sydney Mines auf Cape Breton anlegen, wo die Reise fortgesetzt werden sollte mit der Fähre Caribou, die die Cabot-Straße nach Neufundland überquerte.

»Dann mach dir einen schönen Tag in der Stadt«, meinte meine Tante. »Sieh dir einen Film an. Iss in einem Restaurant. Auf einem Fensterplatz fühlt man sich weniger allein, habe ich mir sagen lassen. Tu, wozu du Lust hast. Aber mach dir keine Gedanken über die Dinge zu Hause, wenigstens solange du hier bist. Ich schicke euch eine Postkarte.«

»Ich wünsche dir eine wunderschöne Zeit«, sagte ich.

»Wyatt, es würde dir vielleicht gut tun, wenn du Joe und Katherine besuchst.«

»Ich könnte gleich von hier aus zum Friedhof rübergehen.«

»Pass auf dich auf, mein Lieber«, sagte meine Tante. »Und viel Glück vor allem im Rekrutierungsbüro. Diese jungen Männer im Bus, sie waren ungefähr in deinem Alter. Ich bete dafür, dass Gott ihnen die Kraft gibt, es durchzustehen, wo immer sie hingeschickt werden. Ich hab dich sehr lieb. Ich glaube, du wirst alles so entscheiden, wie es für dich am besten ist.«

Wir umarmten uns, und ich sah meiner Tante nach, während sie die Gangway zur Fähre hinaufging. An Deck winkte sie mir noch einmal zu, dann verschwand sie. Ich dachte mir, bestimmt serviert man da oben Tee und Kekse, und das lässt sie sich nicht entgehen. Ich öffnete meinen Koffer, um einen Pullover herauszuholen, und fand eine kleine Dose mit Zitronenkeksen. In der Bäckerei gekauft, wie ich wusste. Meine Tante machte nie Zitronenkekse. Ich öffnete die Dose. Da wurde mir klar, dass meine Tante in der Zeit, als ich zusammen mit dem Busfahrer ihren Koffer auf das Gestell gehoben hatte, meinen Koffer begutachtet haben musste, denn sie hatte einen Zettel in die Dose gelegt, auf dem stand: Schon ganz ordentlich.

Ich wanderte durch die Stadt bis zur Morris Street und trat ins Baptist Spa ein. Die Inhaberin, eine Mrs. Campion, empfing mich sehr freundlich. Ich zahlte für das Zimmer, Nummer 4, legte den Koffer auf das Bett und machte mich gleich auf den Weg zum Friedhof. Die Grabsteine meiner Eltern standen in der Nähe des Eingangs, rechts von dem eisernen Tor. Sehr leicht zu finden.

Das erinnert mich an etwas, Marlais. Der Friedhof, den deine Mutter von allen Friedhöfen in Neuschottland am meisten mochte, war der in Great Village. Und glaub mir, Tilda war streng in ihrem Urteil. Ich greife jetzt wieder vor, aber einmal – nach dem Krieg – kam Tilda von einer ihrer Trauerreden auf dem Friedhof von McCallum Settlement nach Hause. »Der Friedhof dort ist eine Schande«, sagte sie. »Da hat ewig niemand mehr Unkraut gejätet. Rowdys haben einige Grabsteine beschmiert, und die Straße hinein ist völlig ausgefahren. Trotzdem habe ich meine Arbeit gut gemacht und wurde auch prompt bezahlt. Aber ich musste mich sehr beherrschen, um nicht den Friedhofsbetreuer zu kritisieren. Der Verstorbene hieß Darwin Timbertea, er war einundneunzig und starb an einer Lungenentzündung. Der einzige Angehörige beim Begräbnis war ein Neffe; als wir fertig waren, fuhr er mich zum Bus. Im Wagen teilte ich ihm recht unverblümt mit, was ich von der Arbeit des Betreuers hielt, und der Neffe sagte: »›Mein Onkel Darwin war der Friedhofsbetreuer.‹«

Um vier Uhr nachmittags ging ich dann zum Rekrutierungsbüro an der Ecke Duke und Argyle Street. Der Mann in Navy-Uniform, der am Empfangstisch saß, war sehr direkt. »Sie sind hoffentlich hier, um Deutsche zu töten und Kanada stolz zu machen. Wie heißen Sie?«

»Wyatt Hillyer, aus Middle Economy.«

»Hat man Ihnen in Middle Economy das Schreiben beigebracht? «, fragte er.

»Das hab ich schon gekonnt, als ich hinkam«, antwortete ich.

»Dann füllen Sie diese Formulare aus«, sagte er.

»Ich hab mich noch nicht entschieden«, erwiderte ich.

Er beugte sich über den Tisch, auf dem jede Menge Broschüren für Rekruten lagen, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war. »Sehen Sie dieses Plakat?«, fragte er. Er fasste mich grob an den Schultern und drehte mich zur Wand, und ich sah ein Rekrutierungsplakat. Es zeigte ein Kriegsschiff der Navy, das Wasserbomben auf ein deutsches U-Boot abwarf, auf dessen Rumpf das Gesicht von Adolf Hitler zu erkennen war. »Ich kann Ihnen nicht helfen, damit Sie sich nicht in die Hose pissen, Hillyer. Wenn Sie auf diesem Schiff sein wollen und das tun wollen, was man auf diesem Schiff macht, dann melden Sie sich. Ich komme aus Nells Harbor, dort fühlt man sich von Geburt an auf dem Wasser zu Hause. Wie steht’s mit euch Jungs aus Middle Economy?« Ich unterschrieb die Papiere. »Verbringen Sie Weihnachten daheim«, sagte er, »und kommen Sie am fünfzehnten Januar wieder hierher. Direkt zu mir.« Er salutierte, und ich salutierte zurück.

Ich musste zwar noch zur Musterung, aber nach menschlichem Ermessen konnte man sagen, dass ich in der Royal Canadian Navy war.

Ich aß in einem Restaurant in der Lower Water Street zu Abend und blieb noch länger sitzen und sah auf den Hafen hinaus. Ich dachte daran, Tilda einen Brief zu schreiben, der so anfangen würde: »Tilda, ich ziehe in den Krieg …« Aber wozu? Den Brief, meine ich.

Vom Restaurant ging ich direkt in ein Pub in der Bedford Row. Ein paar Studenten von der Dalhousie University waren auch dort. Männer und Frauen, die sich über Philosophie und Musik unterhielten. Ich hörte den Namen »Beethoven«. Ich dachte mir, dass Hans Mohring sie vielleicht kannte. Und ich verspürte Neid. Ich hatte auch meine philosophischen Gedanken, aber ich setzte mich nicht zu ihnen. Ungefähr eine Stunde später kam der Mann aus dem Rekrutierungsbüro herein, begleitet von drei weiteren Männern in Uniform. Ich muss gestehen, dass ich mein Geld zum Fenster hinauswarf, indem ich an der Bar einen Whisky nach dem anderen kippte. In dem breiten Spiegel fiel mir auf, dass der Anwerbungsoffizier immer wieder herübersah und den Kopf schüttelte – offenbar spöttisch. Du kannst dir ungefähr vorstellen, wie ich mich fühlte.

An der Wand hing ein perfekt gebauter Schlitten mit einer Dartscheibe in der Mitte. Nach einer Weile setzte sich eine sehr hübsche Frau mit dunkelrotem Haar im Mantel und mit Stiefeln bis zu den Knien neben mich und sprach mich an. »Ich hab dich noch nie an der Uni gesehen. Studierst du auch?« Ich sagte Nein, und sie stellte sich vor. »Ich heiße Mary Conklin und komme aus Dublin. Ich studiere Kunstgeschichte. Spielst du Darts? Ich habe fünf Brüder, ich bin mit Darts aufgewachsen, also muss ich dich warnen, dass dein Stolz leiden könnte.«

Ich stellte mich vor. Dann holten wir uns die Pfeile von dem Schlitten und traten zurück. »Du fängst an«, meinte sie. Also warf ich den ersten Pfeil auf die Scheibe. Ich fühlte mich schon ein wenig wie auf einem Navy-Schiff bei stürmischer See nach dem vielen Whisky, darum sah ich den Anwerbungsoffizier überhaupt nicht, als er, unterwegs zur Jukebox, an der Dartscheibe vorbeiging. Mein Pfeil traf ihn am Oberarm. Er verzog das Gesicht, und ich erwartete das Schlimmste. »Du lieber Himmel, da hast du voll ins Schwarze getroffen – aber anders, als du wolltest«, bemerkte Mary Conklin. Doch der Rekrutierer grinste nur, zog den Pfeil heraus, und ein Blutfleck breitete sich auf seiner Jacke aus. »Wir sehen uns am fünfzehnten Januar, Hillyer«, sagte er. Seine Kumpel brachen in schallendes Gelächter aus. Er ging weiter zur Jukebox und studierte die Liste der Songs. »Das war das kürzeste Dart-Match, das ich je gespielt habe«, meinte Mary Conklin, dann verließ sie mit ihren Freunden das Pub.

Gegen elf Uhr – vielleicht war es auch schon später – zahlte ich und ging in die Stadt hinaus. Ich wankte die Straße hinunter, und das erste Hotel, das mir unterkam, war das Essex House an der Ecke Bishop und Lower Water Street, wo ich für die Nacht bezahlte und es irgendwie die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, Nummer 403, schaffte.

Am nächsten Morgen hörte ich die klagenden Rufe der Dreizehenmöwen und der anderen Möwen so laut und so nahe beim Fenster, dass ich mir dachte, sie müssten eigentlich für das Zimmer mitzahlen. Es war kalt, und es regnete in Strömen, und ich hatte das Fenster offen gelassen. Das Zierdeckchen auf der Kommode war völlig durchnässt, und der gläserne Aschenbecher hatte sich mit Wasser gefüllt. Ich hörte die Ladekräne unten an den Docks. Als ich mir am Waschbecken das Gesicht mit kaltem Wasser wusch, fiel mir plötzlich ein, dass ich mich zur RCN gemeldet hatte, und ich fühlte mich weder gut deswegen noch bereute ich es. Da war auch kein Gefühl, das Richtige zu tun oder ein Patriot zu sein, und ich konnte auch nicht sagen, dass ich der Aufgabe entgegenfieberte. Doch ich musste an die mahnenden Worte meiner Tante denken: »Gleichgültigkeit ist eine Sünde.« Wenn ich mich jetzt hingesetzt und die Fragen niedergeschrieben hätte, die mir durch den Kopf gingen, so wären zum Beispiel die folgenden dabei gewesen: Habe ich mich gemeldet, um Deutsche zu töten und einfach meine Pflicht zu tun? Habe ich mich gemeldet, weil ich ein Feigling wäre, wenn ich’s nicht täte? Trotz der vielen Radioberichte über den Krieg hatte ich keinen blassen Schimmer, wie es in einer Schlacht wirklich zuging. Musste man nicht damit rechnen, dass ein U-Boot mein Schiff treffen würde? Und dass mein Name in einem Zeitungsartikel neben all den anderen erscheinen würde, die vermisst wurden, mit einer großen Schlagzeile, wie sie die Wände in der Werkstatt meines Onkels zierten? Vielleicht war meine Einstellung nicht anders als die von vielen anderen jungen Leuten im Land, die auf ihren Einsatz warteten. Man will, dass es endlich losgeht – und hat gleichzeitig eine Heidenangst.

Als ich an diesem Morgen mit einem Mordskater den ganzen Weg zu einem Café in der Granville Street zu Fuß gelaufen war, um einen Kaffee zu trinken, fiel mir erst ein, dass ich ein Zimmer im Baptist Spa hatte, im Voraus bezahlt. Und auf dem Bett würde immer noch mein Koffer liegen.

An diesem Nachmittag im Bus nach Great Village war ich so aufgewühlt, dass ich zweimal den Platz wechselte. Ich sagte mir, ich hätte meine Französischkenntnisse anwenden sollen, als Constance wegfuhr, um ihr Bon voyage zu wünschen (viel mehr konnte ich ohnehin nicht). Ich hätte länger im Hafen warten und zusehen sollen, wie ihre Fähre hinausfuhr. Warum hatte ich es so eilig gehabt? Der Friedhof hätte warten können. Man kann ja wohl kaum zu spät kommen, wenn man seine Eltern auf dem Friedhof besucht, nicht wahr? Das alles erfüllte mich mit großem Bedauern. Tante Constance sagte oft, wenn sich etwas nicht mehr ändern ließ: »Das ist vorbei und kehrt nicht zurück – wie Wasser, das unter der Brücke durchgeflossen ist.« Aber der Vergleich mit der Brücke widerstrebte mir jetzt.

Und dann auch noch Tildas Hochzeit in zwei Tagen (die Hochzeit der Liebe meines Lebens). Und mein Anzug musste vorher gebügelt und gereinigt werden. Das konnte ich in Middle Economy nicht machen lassen – dazu musste ich nach Truro.