JE FRÜHER DU TILDA SAGST, WAS DU EMPFINDEST, UMSO BESSER

Ich habe mich immer gefragt, wie Hans Mohring darüber dachte, dass meine Tante und mein Onkel keine Bücher im Haus haben. Es muss ihm ja aufgefallen sein, wo er doch Philologie studierte. Ich hatte immer das Gefühl, dass ein Haus, in dem es Bücher gibt (und nicht nur eine Bibel), einen verborgenen Geist besitzt, und vielleicht dachte ich mir das, weil so wenige Menschen in Middle Economy ihre Bücher sichtbar irgendwo stehen hatten. Lesen war etwas sehr Privates, vor allem das Lesen von Romanen. Wenn ich so überlege, Marlais, dann muss ich sagen, dass deine Mutter hauptsächlich in den drei Räumen der Bibliothek von Middle Economy gelesen hat. Es war das einzige Steingebäude im Ort, nicht weit von der Bäckerei entfernt. Ich erinnere mich, dass Tilda eines Abends nach Hause kam und sich am Ofen aufwärmte. »Heute Nachmittag«, erzählte sie, »habe ich Geschichten von Katherine Mansfield gelesen. Das Buch heißt In einer deutschen Pension. Katherine Mansfield kommt aus Neuseeland. Ihre Geschichten sind viel zu gut, als dass man sie irgendwie zusammenfassen könnte.«

Wenn ich sage, es gab keine Bücher im Haus, dann stimmt das nicht ganz, weil Tilda an ihrem achtzehnten Geburtstag das Highland Book of Platitudes auslieh. Woher weiß ich, dass sie es nicht zurückgegeben hat? Weil es hier vor mir auf dem Küchentisch liegt. Ich kann mir vorstellen, dass sie das Highland Book of Platitudes – auch wenn das gegen alle Regeln verstieß – als ein Geburtstagsgeschenk für sich betrachtet hat. Soweit ich weiß, hat die Bibliothekarin damals, Mrs. Bethany Oleander, die aus Newport Station stammte, nie etwas unternommen, damit Tilda es zurückgab. Ich glaube aber nicht, dass das Buch sehr gefragt war. Es hat einen abgenutzten roten Ledereinband. Tildas Lesezeichen aus braunem Leder (sie hatte es per Post in Halifax bestellt) trägt die Initialen TH, und es steckt immer noch dort, wo sie es zuletzt hineingelegt hat, zwischen den Seiten 112 und 113.

Doch bei Tilda war das Highland Book of Platitudes sehr gefragt; sie las jeden Abend darin. Manchmal, spätabends, hörte ich sie laut lesen und nicht bloß flüstern. Ich mache jetzt einen kleinen Sprung, aber ich erinnere mich noch genau an den Tag, als Hans Mohring zum ersten Mal zu uns zum Essen kam. »Na los, Hans, du musst dir meine Bibliothek ansehen«, verlangte sie, nahm ihn an der Hand und führte ihn in ihr Zimmer. Die Tür ließ sie natürlich offen. Ich spielte wieder den Anstandsbegleiter und wartete im Hausflur. »Sieh dir dieses Buch an, Hans«, forderte sie ihn auf. »Es heißt The Highland Book of Platitudes. Es ist wirklich interessant.«

Meine Tante servierte den Tee im Wohnzimmer. Wir waren alle da, mein Onkel, meine Tante, Tilda, ich und Hans. Hans ließ sich ausführlich über das Wort Plattitüde aus, und wir hörten ihm zu. »Es ist ja nicht so, dass eine Plattitüde keine wichtigen Dinge ausdrücken könnte«, dozierte Hans. »Aber nach dem Wörterbuch – und ich gebe das jetzt nicht exakt wieder – handelt es sich um eine nichtssagende, abgedroschene Aussage, die aber oft so präsentiert wird, als wäre es ein neuer Gedanke. Politiker drücken sich zum Beispiel oft so aus, wenn sie ihre Meinungen vertreten.«

»Dann sind die Dinge, die in meinem Buch stehen, keine Plattitüden in diesem Sinn«, wandte Tilda ein. »Ich finde sie nämlich überhaupt nicht abgedroschen.« Mir fielen in diesem Moment zwei Dinge auf. Erstens, dass Tilda nicht erfreut war. Zweitens, dass Hans vielleicht ein bisschen in Ungnade gefallen war. Zumindest hoffte ich das.

»Nun, danke, Hans. Ich habe viel gelernt«, meinte meine Tante. »Aber jetzt ist das Essen fertig.«

Erinnerst du dich, dass ich diese Liebesknochen erwähnt habe? An dem Abend, als Hans Mohring mit dem Bus ankam, trafen wir uns wirklich noch in der Bäckerei. Cornelia saß in der Ecke, und ich wusste, dass ihr auffiel – auch wenn sie nichts sagte –, dass Hans seine Gabel mit den Zinken nach unten in der linken Hand hielt und die fein säuberlich geschnittenen Stücke zum Mund führte, ohne die Gabel in die rechte Hand zu nehmen. Europäer machten das so, erfuhr ich. Am nächsten Tag stellte Tilda Hans meinem Onkel und meiner Tante vor, aber Tilda verschwand gleich wieder mit ihm. »Ich zeige Hans Middle Economy«, verkündete sie. »Alles, was es zu sehen gibt. Das wird in einer halben Stunde erledigt sein, dann werden wir uns an den Kai setzen und drei oder vier Stunden über alles reden, was wir gesehen haben. Erst das Erlebnis, dann das Erinnern – so bleibt es länger erhalten.« Ich wusste, dass Tildas letzter Satz aus dem Highland Book of Platitudes stammte, aber ich weiß nicht, ob es Donald oder Constance auffiel. Und weg waren sie. Eine Woche später verkündete Tilda: »Ich habe Hans Mohring zum Essen eingeladen.«

»Warum so eilig?«, fragte meine Tante.

»Die Einladung ist schon ausgesprochen«, sagte Tilda.

»Für welchen Tag?«

»Morgen Abend«, antwortete Tilda.

»Ich hol mal meine Rezepte raus«, sagte Tante Constance.

»Das wird eine nette Abwechslung für Hans«, meinte Tilda. »Bis jetzt hat er nichts anderes gegessen als Cornelias Sandwiches. «

»Ich hoffe, er hat dir einige davon abgegeben«, bemerkte meine Tante.

»Willst du mir damit sagen, dass du mich in letzter Zeit nicht beim Abendessen gesehen hast?«, fragte Tilda.

Am nächsten Abend um halb sieben war der Tisch mit dem schönsten Geschirr gedeckt, das meine Tante besaß, dazu gab es Stoffservietten. Auf ein Tischtuch hatte sie verzichtet, dafür war das Holz frisch poliert. Hans saß neben Tilda. Ich nahm den einzelnen Stuhl ihnen gegenüber, und so saß ich auffallend allein auf dieser Seite des Tisches. Mein Onkel und meine Tante hatten die Plätze an den beiden Tischenden. Tante Constance servierte gebratenen Lachs, Salzkartoffeln, Brot und – was bei uns selten auf den Tisch kam – Weißwein, dazu einen Krug Wasser. Sie sprach ein Tischgebet. Hans langte ordentlich zu und hielt die Gabel wieder auf diese ungewohnte Weise. »Also, jetzt seht euch mal das an!«, sagte meine Tante, und wir drehten uns alle zum Fenster. Mindestens fünf oder sechs Kinder standen draußen und drückten ihre Nasen an die Scheibe.

»Ich glaube, Cornelia Tell hat jemandem etwas erzählt«, meinte Tilda.

»Sie geben den Kindern eine nette Lektion in deutschen Tischmanieren«, sagte mein Onkel und wechselte seine Gabel von der rechten in die linke Hand, bevor er ein Stück Lachs aufspießte und aß. Hans ging sofort darauf ein.

»Vielleicht setze ich mich nach dem Essen auf die Veranda und erzähle ihnen eins von Grimms Märchen«, schlug er vor.

»Ein grimmiges Märchen?«, erwiderte meine Tante. »Ich weiß nicht. Das sind immerhin die Kinder unserer Nachbarn.«

»Nein, nein«, erwiderte Hans. »Die Brüder Grimm. Sie haben aus überlieferten Geschichten Märchen niedergeschrieben. Sie sind sehr berühmt, auch wenn sie schon lange tot sind. Kennen Sie ›Hänsel und Gretel‹ ?«

»Ich habe es Tilda vorgelesen, als sie klein war«, antwortete meine Tante.

»Das ist ein Märchen der Brüder Grimm«, erklärte Hans.

»Diese Brüder Grimm«, warf mein Onkel ein, »gibt’s von denen ein paar richtig gruselige Geschichten? Wenn Sie welche kennen, Hans, dann gehen Sie raus und machen Sie den kleinen Störenfrieden mal tüchtig Angst. Vielleicht streuen Sie auch noch ein paar deutsche Wörter ein.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, dass Hänsel und Gretel deutsche Kinder waren?«, fragte meine Tante.

»Ja, und auch ›Rapunzel‹ und ›Rumpelstilzchen‹ sind von den Brüdern Grimm«, erklärte Hans.

»Nicht ›Rumpelstilzchen‹!«, war meine Tante überrascht.

»Ich fürchte, schon«, sagte Hans.

»Also, man lernt nie aus.«

Tilda trug ein Kleid, das sie selbst genäht hatte. Es war knöchellang und aus einem Baumwollstoff von einem fast schwarzen Blau. Ich hatte gesehen, wie sie es genäht hatte, aber noch nie, dass sie es trug. Dass Hans Mohring zum Essen kam, war offenbar der Anlass, auf den sie gewartet hatte. Das Kleid hatte einen hohen Kragen mit einer Kamee aus Elfenbein. Hans trug wieder sein weißes Hemd mit zugeknöpftem Kragen, und so erinnerten sie mich beide an ein Porträt eines biederen britischen Paares aus der viktorianischen Zeit, das über dem Kartenkatalog in Mrs. Oleanders Bibliothek hing. Jetzt wird mir klar, warum ich an das Bild in der Bibliothek dachte; offenbar fürchtete ich irgendwie, sie könnten selbst ein altes Ehepaar werden. Wer weiß? Vielleicht würden sie einmal wohlhabend sein und in England leben. Der Gedanke gefiel mir gar nicht, aber du kannst nichts dagegen machen, wohin deine Gedanken schweifen, nicht wahr?

Das Abendessen verlief sehr gesittet. Alle waren höflich – »Kann ich mal bitte das Brot haben?« und »Wie ist es denn so an der Universität, Hans?« –, aber ich sah, dass Hans Tilda richtig toll fand. Außerdem hatte man sie schon zusammen in der Öffentlichkeit gesehen, in Cornelias Bäckerei, am Kai von Parrsboro und wie sie Hand in Hand über den hufeisenförmigen Strand spazierten. Cornelia Tell hatte sie sogar »Turteltauben« genannt. Und als Reverend Witt vorschlug, Tilda solle Hans als Gast in die Kirche mitnehmen, sagte sie, so erzählte Witt später: »Ich habe diesen Sonntag ein anderes Rendezvous vor.« Ich weiß, dass sie viele Stunden in der Bibliothek saßen, ja sogar länger, als sie eigentlich geöffnet war, weil Mrs. Oleander Tilda einen Schlüssel gegeben hatte. So konnten Tilda und Hans über Gott weiß welche Wörter diskutieren und hatten ungestörten Zugang zum großen Webster’s Dictionary.

Beim Essen wurde kein heikles Thema angeschnitten; mein Onkel vermied es, über deutsche U-Boote oder auch nur über den Krieg ganz allgemein zu reden, und Hans hielt uns keine Vorträge über Philologie. Hans nahm sich noch ein paar Kartoffeln, und ich und mein Onkel ebenso. Zwei- oder dreimal herrschte beim Essen ein leicht peinliches Schweigen. Es war aber nicht so ein Gefühl, das man manchmal hat, als hätte irgendetwas von außen die menschlichen Stimmen verstummen lassen. In solchen Fällen sagte meine Tante nämlich immer: »Ein Engel fliegt vorbei.« Das Essen verlief ohne besondere Vorkommnisse. Doch als Tilda verspielt einen Löffelvoll von Hans’ Vanilleeis stahl (er hatte auf den Ahornsirup verzichtet), wurde es mir doch zu viel. »Hans«, platzte es aus mir heraus, »wie kommt man eigentlich auf die verrückte Idee, sich neunmal hypnotisieren zu lassen?«

Tilda steckte sich die Daumen in die Ohren. Es war nicht nur leichtsinnig von mir, den Grund anzusprechen, warum Reverend Witt vorgeschlagen hatte, Tilda solle einen Hypnotiseur aufsuchen – das war ein heikles Thema in unserem Haus –, nein, ich hatte gleichzeitig angedeutet, dass Hans ebenfalls nicht ganz richtig im Kopf sei.

»Hans, meine Familie – auch Wyatt – hat nicht viel Erfahrung mit Hypnose«, erläuterte Tilda. »Wyatt hat es nicht so gemeint.«

»Ja, aber nehmen wir einfach mal an, dass Wyatt sehr wohl etwas Bestimmtes damit sagen wollte«, antwortete Hans. »Da kann ich ihm nämlich ein bisschen Nachhilfeunterricht geben …«

»Nicht nötig – ich hätte fast die Highschool abgeschlossen. Ich hab nur ein Jahr früher aufgehört«, wandte ich ein.

»Ich kann dir jedenfalls erklären, warum ich die Hypnose so oft gebraucht habe«, fuhr Hans fort.

»Na, dann erklären Sie’s doch uns allen«, schlug Onkel Donald vor.

»Das können Sie aber auch im Wohnzimmer machen«, warf meine Tante ein. »Tilda, Liebes, sei so gut und räum das Geschirr ab. Wyatt, hol mir bitte meinen grauen Pullover. Es wird ein bisschen kühl.« Als wir alle im Wohnzimmer waren – ich saß auf dem Sofa, Tilda auf dem Schaukelstuhl, Donald und Hans auf Stühlen, die sie aus der Küche mitgenommen hatten – , sagte Donald: »Also, schießen Sie los, Hans. Erzählen Sie uns den Grund für die neun Hypnosen.«

Meine Tante kam mit einem Tablett und verteilte Tee und Kekse, dann setzte sie sich neben mich. Hans biss von einem Keks ab, dann beugte er sich vor: »Ich habe früher oft geschlafwandelt. Mit zehn Jahren bin ich recht fleißig herumgewandert, könnte man sagen. Und das ging noch Jahre so weiter. Wir lebten in einem kleinen Ort. Ein bisschen größer als der Ihre hier, aber für ein Dorf in Deutschland ziemlich klein. Es ist nicht weit von München entfernt. Wir hatten ein kleines Haus. Meine Eltern sind gute Leute, wissen Sie, und ich fürchte, sie hatten es nicht leicht mit mir. Nachts war ich oft lange unterwegs. Meistens haben sie mich draußen auf der Straße gefunden. Einmal wollte ich gerade in einen Teich steigen und schwimmen. Ein paarmal haben sie mich im Garten eines Nachbarn gefunden.«

»Sind Sie auch mal im Schlaf Rad gefahren?«, fragte mein Onkel. »Ich habe mich immer gefragt, ob das möglich ist.«

»Nein, Rad gefahren bin ich nie, Mr. Hillyer«, antwortete Hans. »Zumindest hat mir niemand so etwas erzählt. Meistens sahen mich meine Mutter oder mein Vater einfach nur am Küchentisch sitzen, manchmal aß ich etwas, das ich mir aus dem Kühlschrank genommen hatte. Schließlich kaufte mein Vater zusätzliche Schlösser und verriegelte jeden Abend die Türen und Fenster. Aber ich wanderte weiter im ganzen Haus herum. Ich ging in jedes Zimmer. Am Morgen war ich meistens völlig erschöpft. In der Schule konnte ich mich kaum wachhalten. Schließlich wurde uns ein Hypnotiseur in München empfohlen. Ich ging neunmal hin, wie ich Tilda schon erzählt habe. Doch die Hypnose hat nicht geholfen. Es ging noch ein paar Jahre weiter mit dem Schlafwandeln. In Dänemark hörte es dann auf. Ich habe in Dänemark kein einziges Mal geschlafwandelt. «

»Dänemark?«, fragte mein Onkel.

»Wir mussten aus Deutschland weg. Mein Onkel – der Bruder meines Vaters – hat schon in Dänemark gelebt. Er ist recht wohlhabend, ja, er unterstützt mich, damit ich an der Dalhousie University studieren kann.«

»Von Deutschland nach Dänemark und weiter nach Kanada«, warf meine Tante ein. »Du meine Güte. Ich war noch nie weiter weg als Neufundland.«

»Wir sind 1935 nach Dänemark geflüchtet. Die Reisen, die Adolf Hitler veranstaltet, sind die schrecklichsten der Welt – das hat mein Vater oft im Scherz gesagt«, erzählte Hans. »Mein Vater versucht die Dinge immer ein bisschen leicht zu nehmen. Meine Mutter ist da ganz anders. Sie glaubt immer, dass alles nur noch schlimmer wird. Sie sind eben sehr verschieden.«

»Tilda hat Ihr Herzleiden erwähnt«, warf meine Tante ein. »Entschuldigen Sie meine Neugier.«

»Ja, ich bin damit auf die Welt gekommen«, erklärte Hans. »Aber ich habe mich daran gewöhnt. Es gehört für mich einfach zum Leben.«

»Nun, dann sieh zu, dass du nicht in Ohnmacht fällst, bevor du noch einen Keks gegessen hast«, bemerkte ich.

»Ich werde mich bemühen«, meinte Hans und nahm sich einen Keks vom Teller.

»Tilda«, sagte meine Tante, »warum holst du nicht das Criss Cross raus, dann könnt ihr drei noch ein bisschen spielen. Donald und ich müssen euch junge Leute jetzt allein lassen.«

»Criss Cross?«, fragte Hans.

»Wir sind die Einzigen in Middle Economy, die eins haben«, erklärte mein Onkel.

»Nicht mehr lange«, warf meine Tante ein. »Reverend Witt hat auch eins bestellt. Er will es in der Kinderbibelstunde verwenden. «

»Wissen Sie, Hans«, erläuterte mein Onkel, »das ist ein Brettspiel, das ein gewisser Alfred M. Butts 1931 erfunden hat. Er war Architekt und hat es ganz genau geplant und ein Modell davon auf ein Schachbrett geklebt. Es ist so ähnlich wie Kreuzworträtsel. Man muss senkrecht und waagerecht Wörter aus einzelnen Buchstaben legen, aber so, dass sie wie bei einem Kreuzworträtsel miteinander verbunden sind. Es ist nicht erlaubt, im Wörterbuch nachzuschlagen. Wir haben sowieso keins im Haus.«

»Ich geh mit Hans die Regeln durch, okay, Pop?«, sagte Tilda.

»Also, angefangen hat es damit, dass Constance ihre Jugendfreundin in St. John’s, Neufundland, besucht hat«, fuhr mein Onkel fort. »Du fährst ja bald wieder hin, stimmt’s, Constance? «

»Zum Glück, ja«, stimmte meine Tante zu.

»Ihre Freundin heißt Zoe Fielding«, erklärte mein Onkel. »Und Zoe hatte ein Criss-Cross-Spiel zu Weihnachten bekommen, von einer Amerikanerin. Zoe hat Constance beim letzten Besuch das Spiel gezeigt, und Constance hat sofort eins bestellt, als sie wieder zu Hause war. Und so ist Criss Cross in unser bescheidenes Heim gelangt.«

»Hans, glaub mir«, sagte Tilda, »du wirst das Spiel mögen. «

»Du meine Güte, das stimmt«, warf meine Tante ein. »Criss Cross ist ja richtig maßgeschneidert für einen Philologen.«

»Ich bin nicht so gut«, sagte ich.

»Vielleicht werden wir beide besser, wenn wir mit Hans spielen«, meinte Tilda.

»Wissen Sie, Hans, Sie können aber keine deutschen Wörter legen«, gab mein Onkel zu bedenken. »Das ist gegen die Spielregeln. « Mein Onkel ging nun im Zimmer auf und ab. Das tat er sonst nur, wenn er irgendwelche schlimmen Radionachrichten vom Krieg hörte.

»Verstehe«, sagte Hans.

»Sie können zum Beispiel nicht Germaniawerft nehmen … «, fuhr mein Onkel fort. »… wo sie so viele U-Boote bauen. Germaniawerft – ich weiß, dass ich’s nicht ganz richtig ausspreche, Hans.«

»Donald … bitte«, sagte meine Tante.

»Oder Deutsche Werft, wo sie dieses U 553 gebaut haben, das die Nicoya vor Gaspé versenkt hat«, fuhr mein Onkel unbeirrt fort, »und Sie können auch nicht den Namen des gottverdammten Scheißkerls von einem Kommandanten legen, diesem Karl Thurmann.«

»Ich verstehe«, sagte Hans.

»Wenn ich’s recht bedenke – es ist nicht mal ›Rapunzel‹ oder ›Rumpelstilzchen‹ zulässig«, fügte mein Onkel hinzu.

Tilda nahm das Criss-Cross-Spiel vom Regal. Tante Constance wusch das Geschirr ab, und Onkel Donald ging hinaus, um sich mit einer Zigarette zu beruhigen. Tilda legte die kleinen hölzernen Criss-Cross-Buchstaben in ordentlichen Reihen auf den Tisch. »Du hast immer genau zehn Buchstaben, mit denen du arbeiten kannst, Hans«, erklärte sie.

»Dann ginge ›Rumpelstilzchen‹ sowieso nicht«, meinte Hans.

»Jedes Mal, wenn du dran bist, legst du ein Wort aus den Buchstaben, dann nimmst du dir neue. Wir spielen, bis alle Buchstaben aufgebraucht sind«, fügte Tilda hinzu und legte das Spielbrett auf den Esszimmertisch. Donald kam wieder ins Haus. Er und Constance wünschten uns eine gute Nacht und zogen sich ins Schlafzimmer zurück. Tilda, Hans und ich setzten uns an den Tisch.

Tilda erklärte noch den Rest der Spielregeln. »… jeder Buchstabe hat einen bestimmten Wert«, fügte sie schließlich hinzu. »Gewonnen hat, wer am Ende die meisten Punkte hat.«

»Das ähnelt einem Buchstabierwettbewerb«, meinte Hans.

»Du musst auf den Wert achten, Hans. Kurze Wörter können viel wert sein«, erklärte Tilda. »Die Hauptsache ist, dass du dein Wort an das Wort eines anderen anfügst.« Sie machte ein Kreuz mit ihren Zeigefingern. »Die Wörter kreuzen sich – wie zwei Straßen.«

»Von mir aus können wir anfangen«, sagte Hans.

Wir spielten eine Stunde, dann holten wir uns noch ein Eis. Tilda kochte Kaffee, den wir im Wohnzimmer tranken. Als wir mit dem Spiel weitermachten, war Hans dran. Er legte das Wort hinreißend.

»Das gibt viele Punkte«, bemerkte Tilda.

»Kennst du dieses Wort, Wyatt – hinreißend?«, fragte Hans. »Die Definition ist – nun, mit einem Wort: Tilda. Findest du nicht auch?«

Ich stieg aus dem Spiel aus, verließ das Haus und ging zum Kai hinunter. Da stand ich nun im kalten Nebel, niedergeschlagen, trug nur mein Hemd am Leib. Aufgewühlt. Und mit dem bitteren Gefühl, dass ich in Herzensdingen ein völliger Analphabet war. Das heißt, ich empfand es auch so, dass Tilda hinreißend war, aber mir war dieses Wort nicht eingefallen, das sie so perfekt beschrieb. Ich stand eine ganze Weile dort unten. Schließlich erschien der Pick-up meines Onkels. Meine Tante saß auf dem Beifahrersitz. Sie waren beide für dieses Wetter passend angezogen. »Du holst dir den Tod hier draußen, Wyatt«, sagte mein Onkel. Ich setzte mich vorne neben meine Tante ins Auto. Aber Donald machte die Tür auf und stieg aus. Er ging ans Ende des Kais und rauchte eine Zigarette.

»Tilda hat gemeint, dass du hier unten sein könntest«, sagte meine Tante.

»Wo ist Tilda jetzt?«, fragte ich.

»Sie ist nicht zu Hause.«

»Ich hätte gute Lust, zur Bäckerei rüberzugehen.«

»Und was willst du dort tun? Du gehst in die Bäckerei – und was dann?«

»Dann holen wir Onkel Donald und fahren halt nach Hause.«

»Donald wird die Zigarette nicht fertig rauchen – wir haben also nicht viel Zeit, drum hör mir bitte gut zu.«

»Okay.«

»Erstens, mir ist dein ungehöriges Benehmen aufgefallen, Wyatt. Ich meine, beim Essen und später, als ich mal kurz gelauscht hab bei eurem Spiel. Und Donald und ich haben auch bemerkt, dass Tilda und dieser deutsche Junge einander ziemlich toll finden. Weißt du, Hans Mohring ist es, glaub ich, ziemlich ernst mit ihr.«

»Das weiß ich.«

»Wir müssen uns da raushalten, Donald und ich. Tilda muss ihre Erfahrungen als junge Frau machen können, nicht wahr? Andererseits … weißt du, ich habe ja keine besonders tolle Menschenkenntnis. Aber wenn du und Tilda im selben Zimmer seid, dann fängst du an zu strahlen, das solltest du mal sehen. Du hast sicher auch schon öfter dieses Sprichwort gehört: ›Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt‹ . Nun, es gibt vielleicht Momente, wo man’s gebrauchen kann.«

»Also, du meinst, dass ich in Tilda verliebt bin, Tante Constance? «

»Ja, das meine ich. Wie würdest du es denn bezeichnen, Wyatt?«

»Genauso.«

»Wyatt, ich bin kein großer Ratgeber, aber ich sag’s trotzdem: Je länger Hans Mohring über der Bäckerei wohnt, umso eher solltest du Tilda sagen, was du empfindest. Gib dir selbst eine Chance zu kämpfen, junger Mann!«

»Da wäre noch etwas … Steht in der Bibel oder im Gesetz von Nova Scotia irgendwas dazu, wie das ist – zwischen Cousin und Cousine?«

»Tilda ist ja nicht wirklich deine Cousine, weil wir sie ja adoptiert haben. Ich habe auch mit Reverend Witt darüber gesprochen, und er hat mir recht geben müssen, wenn auch ungern. Er hat gesagt, dass sogar die Kirche eine solche Verbindung anerkennt. Außerdem, selbst wenn Donald und ich aus der Mongolei wären, würde uns Tilda nicht weniger ähnlich sehen, als sie’s tut. Das sieht doch jeder, dass wir äußerlich um Welten auseinander sind.«

»Du hast dir also schon einige Gedanken gemacht, Tante Constance.«

»Was ich meine, ist, wenn du etwas für Tilda empfindest – ethisch gäbe es keine Hindernisse. Wir haben bis jetzt nie einen Grund gesehen, mit dir darüber zu reden, Wyatt, doch die Dinge haben sich ein bisschen geändert.«

»Also, danke, dass ihr rausgekommen seid. Eine richtige Rettungsmission. «

»Bei Tilda könntest du vielleicht mit ein paar Dingen nachhelfen, die manche für Aberglauben halten – aber manche glauben an so etwas. Falls es nicht funktioniert, passiert gar nichts. Falls doch, dann ändert sich das Leben zum Besseren.«

»Was meinst du genau?«

»Nun, ganz einfache Sachen – du kannst zum Beispiel deine Bettpfosten nach dem Mädchen benennen, das du liebst.«

»Ich soll meine Bettpfosten Tilda Hillyer nennen? Ist es das, was du vorschlägst?«

»Ich meine, dass es nicht schaden kann.«

Als ich zum Kai hinübersah, machte mein Onkel gerade seine Zigarette aus, indem er sie einfach hochhielt und in der nebelfeuchten Luft wedelte. Er warf den Stummel auf den Boden, nicht ins Meer. Mein Onkel war sonst nicht abergläubisch. Aber ich habe ihn öfters sagen gehört, dass man das Meer nie beschmutzen solle, weil es sich sonst eines Tages bitter rächen würde.