GEISTERKIND

Einige unter den ältesten Bewohnern von Middle Economy verwenden den Ausdruck vielleicht heute noch, aber es war einmal sehr gebräuchlich, dass ein Kind, das vor der Geburt starb, ein Geisterkind genannt wurde. Das drückt wohl aus, dass ein Kind fort ist und doch immer noch irgendwie da. Ich kann mich erinnern, als eine Freundin von Constance, eine gewisse Lillian Swinaver, eine Fehlgeburt hatte, da sagte meine Tante: »Armes kleines Geisterkind.« Dann war da eine Frau namens Anna How, die in Glenholme lebte und vier Fehlgeburten hatte. Es heißt, dass sie einmal bei einem Gemeindefest zusammen mit ihrem Mann an einem Tisch saß, der für sechs Personen gedeckt war. »Wir sind eben eine stille Familie«, soll sie gesagt haben.

Und dann war da Tilda Hillyer, die am 2. Januar 1943 ein Kind verlor. Cornelia hatte es mir in dem einen Brief mitgeteilt, den sie mir ins Rockhead Prison schickte, das hinter Africville nördlich von Halifax lag. Der Brief war vom 5. Januar und brauchte, über Umwege, zehn Tage, bis er bei mir ankam.

Lieber Wyatt,

unsere Tilda hat ihr Kind verloren, und ich kümmere mich für eine Weile um sie, weil es jetzt keine Krankenschwester braucht, sondern einfach nur ein bisschen Einfühlungsvermögen und gesunden Menschenverstand, wie Dr. Bryce Stady aus Montrose meinte, der sie untersucht hat und Tilda über Nacht in seinem Gästezimmer behielt. Mrs. Stady ist in solchen Dingen sehr praktisch, und sie kümmerte sich um Tilda. Ich habe eine Karte mit Briefmarke beigelegt, mit der du ihr alles Gute wünschen kannst – ich vermute, dass du solche alltäglichen Dinge im Moment nicht kaufen kannst. Du solltest ihr die Karte schicken.

Von Reverend Witts Kanzel kommen oft Gebete, und weniger für Hans Mohring, muss ich sagen, als vielmehr Gebete um Vergebung für Donald, und das gefällt manchen meiner Kunden nicht so besonders, während andere es in Ordnung finden. Ich würde sagen, die Meinungen hier im Ort halten sich ungefähr die Waage. Tilda hat jedenfalls einen langen Brief an Hans’ Eltern in Dänemark geschrieben. Die Adresse hat sie vom Präsidenten der Dalhousie University persönlich erhalten, habe ich gehört. Tilda kann ja wirklich gut mit Worten umgehen, aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, was sie geschrieben haben mag. Sie hofft, dass der Brief ankommt. Nun, Wyatt, dann bis bald – nur fürchte ich, es wird nicht so bald sein. Vorausgesetzt, du willst überhaupt noch einmal nach Hause zurückkehren – doch vielleicht siehst du Middle Economy ja nicht mehr als Zuhause. Was in meinen Augen verständlich wäre, aber trotzdem ein Fehler.

Cornelia Tell

Unmittelbar nach der Verhandlung war Donald von zwei Polizisten der RCMP zurück ins Gefängnis von Truro gebracht worden und später ins Dorchester Prison, wo er für den Rest seines Lebens bleiben würde. Dann, am 10. Dezember, fuhr mich Cornelia nach Halifax. Nachdem ich eigentlich der RCN angehörte, wurde ich ins Militärgefängnis in der Nähe der Zitadelle im Zentrum von Halifax überstellt, doch die Navy entließ mich schon nach einer Woche.

Und so kam es, Marlais, dass dein Vater diesem Land keinen einzigen Tag im Krieg gedient hat.

Da noch eine Menge anderer Fälle darauf warteten, behandelt zu werden, bekam ich erst am 15. Dezember 1942 eine eigene Gerichtsverhandlung in Halifax. Ein Friedensrichter Quill führte den Vorsitz, und Lenore Teachout war wieder die Stenografin. Es war immerhin nett, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Meine Verhandlung dauerte keine ganze Stunde. Ich musste auch den Ablauf des Mordes nicht noch einmal selbst schildern. Ich stimmte einfach der Anklageschrift zu, die Friedensrichter Quill verlas, weil sie in allen Punkten richtig war. Die Wahrheit ist nun einmal die Wahrheit, und man kann sie nicht hinterher durch irgendwelche Ausreden oder Lügen aufweichen. Es bestand kein Zweifel, dass ich zu der widerwärtigen Tat Beihilfe geleistet hatte. »Sie können nicht davon freigesprochen werden«, ist der eine Satz, an den ich mich noch gut erinnere. Ich liebte Tilda nun einmal so sehr, dass ihre Trauer und ihr Schmerz für mich so etwas wie eine Verpflichtung war, die Schuld auf mich zu nehmen. Ich wurde »der Beihilfe zum Mord« schuldig gesprochen und kam schon am nächsten Tag ins Rockhead Prison. Meine Gefängnisstrafe sollte bis Anfang Juni 1945 dauern.

Hans war ermordet worden. Ich fand das Urteil angemessen. Vor allem nachdem Cornelia gemeint hatte, dass noch Schlimmeres zu befürchten wäre.

Die Tage und Nächte im Gefängnis waren leer, bis auf das Radio. Die Gefängnisbibliothek rettete mich. Ich las dort alles von Charles Dickens. Alles von Victor Hugo. Drei Romane von einem anderen Franzosen namens Stendhal, von dem mir Rot und Schwarz am besten gefiel. Was meine Stimmung betrifft, so hätte ich schon eine ganz normale Melancholie als Erleichterung empfunden. Ich arbeitete während meiner gesamten Gefängnisstrafe in der Holzwerkstatt, wo ich Vogelfutterhäuschen baute, die in ganz Kanada verkauft wurden; der Erlös ging an den Fonds für Kriegswaisen in Ottawa. Die Bibliothek hatte ein ziemlich großes Fenster, von dem man auf Halifax hinunterschaute. Ja, die Stadt war so nahe, dass ich das Feuer sah, das in der Barrington und der Sackville Street wütete und das einen Schaden von 130 000 Dollar verursachte. Ich sah die Queen Mary am Pier 20 anlegen und die Menschenmenge – es waren sicher Tausende –, die auf die Ankunft von Winston Churchill wartete. »Das ist nicht das erste Mal, dass ich in Halifax bin«, hörte ich ihn im Radio sagen, »aber das erste Mal, dass ich so empfangen werde.« Die Mail brachte auf der Titelseite ein Foto von Churchill mit der Londoner Times in der Hand, deren Schlagzeile lautete: VORMARSCH DER ALLIIERTEN ZUR SIEGFRIED-LINIE. Ich hatte absolut keinen Kontakt zu meinem Onkel Donald, abgesehen von einem Umschlag, den er mir aus seinem Gefängnis schickte. Darin lagen nur Zeitungsausschnitte, in denen berichtet wurde, wie ein deutsches U-Boot am 24. Dezember 1944 das Minensuchboot HMCS Clayoquot versenkte, nur fünf Meilen vor dem Leuchtturm auf Sambro Island vor dem Hafen von Halifax. Ich stellte mir vor, dass die Wände seiner Zelle voll waren mit Zeitungsausschnitten.

Und, Marlais, ich las zwar auch die Geschichten in der Mail, in denen all die Dinge berichtet wurden, die vorher streng geheim waren, aber am V-E Day selbst – es war Dienstag, der 8. Mai 1945 – lag ich mit Husten und Grippe im Bett. Durch das Bibliotheksfenster bekam ich aber doch etwas mit von den Feiern, die völlig aus dem Ruder liefen. Ich hörte die Sirenen und die Krawalle – das, was die Mail als »von Matrosen angefachte Plünderungen« beschrieb.

Ich vergaß zu erwähnen, dass gegen Ende meiner Gefängniszeit einige Änderungen eingeführt wurden und wir Häftlinge auch Filme sehen durften. Am 30. April 1945 konnten elf von uns – in Begleitung von drei RCMP-Beamten – den Film Mr. Winkle Goes to War sehen, mit Edward G. Robinson in der Hauptrolle.

Es gab einige bürokratische Pannen, aber schließlich wurde ich am 15. Juni 1945 entlassen. Ich nahm mir ein Zimmer im Baptist Spa – seit ich das letzte Mal dort übernachtet hatte, waren die Preise um 15 Cent pro Nacht gestiegen – und schrieb sofort einen Brief an Cornelia Tell, in dem ich ihr mitteilte, mit welchem Bus ich nach Hause kommen würde. Sie muss es Tilda erzählt haben – jedenfalls war es für mich die größte Überraschung der Welt, dass Tilda am 19. Juni um sieben Uhr abends an der Esso-Tankstelle in Great Village auf mich wartete. Warum sie das entgegen aller Logik tat, konnte ich mir absolut nicht erklären.

Es war ein angenehmer Abend, die Dämmerung verfärbte den wolkenlosen Himmel rosa und magentarot. Tilda war mit dem Pick-up ihres Vaters gekommen. »Du siehst ein bisschen wie eine Vogelscheuche aus«, meinte sie, weil ich im Gefängnis ziemlich dünn geworden war.

»Es freut mich, dich zu sehen.«

»Ich hab ja sonst niemanden mehr von der Familie.«

Tilda sah doch etwas verändert aus. Zum einen trug sie ihr Haar kurz geschnitten, sodass das Widerspenstige nicht mehr ganz so zur Geltung kam. Außerdem trug sie eine Hornbrille, und als sie die Brille zur Nasenwurzel hochschob, fiel mir auf, dass ihre Fingernägel völlig abgekaut waren. Tilda merkte, dass mir die Brille aufgefallen war, und sagte: »Ich bekam immer Kopfweh. Dr. Stady in Montrose meinte, ich sollte mal meine Augen überprüfen lassen, und so fuhr ich nach Halifax. Es hat sich herausgestellt, dass ich ein bisschen weitsichtig bin. Ich trage die Brille vor allem, wenn ich ein Buch lese.«

»Liest du viel?«

»Fast jeden Abend. In der Bibliothek.«

Der Busfahrer, Mr. Standhope, kam zu mir und sagte: »Sie möchten den Schrankkoffer ja sicher mit nach Hause nehmen. Ich helfe Ihnen.«

Er öffnete die Tür des Gepäckraums und zog den Koffer nach vorne. Ich nahm ihn an dem einen Ledergriff, er an dem anderen, und so hievten wir ihn auf die Ladefläche des Trucks. Als Tilda zu dem Koffer hinaufstieg und mit der Hand darüberstrich, wurden ihre Augen feucht. »Ich habe nicht gewusst, dass er im Bus ist«, sagte ich. »Wirklich, ich hab’s nicht gewusst. «

Mr. Standhope stieg zurück in den Bus und fuhr weiter. Aus irgendeinem Grund wollte Tilda sofort einen Blick in den Koffer werfen. Sie hob den Deckel und inspizierte die Schubladen. Ein Kleid, eine Hose und zwei Blusen auf hölzernen Kleiderbügeln. Es schien alles da zu sein. Ich fragte mich, ob Constance überhaupt noch dazugekommen war, ihr National Geographic zu lesen oder ihren Reader’s Digest.

»Es hat ganz schön lang gedauert, bis er endlich zurückgekehrt ist«, meinte ich. »Sie haben wahrscheinlich sehr viele gefunden. «

»Es freut mich jedenfalls, dass er da ist«, sagte Tilda. »Ich hätte nicht mehr damit gerechnet.«

Tilda entdeckte einen Umschlag unter dem Kragen des obersten Pullovers. Sie riss ihn auf, zog ein Blatt Papier hervor und las laut: »Kleider gewaschen und mit unserem ausdrücklichen Beileid zurückgegeben von der Christian Ladies’ Auxiliary in Sydney, Nova Scotia

»Alles sauber und ordentlich, nicht wahr?«, sagte sie. »Sie haben alles wieder so hineingelegt, dass man glauben könnte, Mom wäre noch gar nicht nach Neufundland aufgebrochen. Diese christlichen Ladys wissen offenbar einiges über nachträgliches Wunschdenken.« Sie steckte die Nachricht zurück in den Umschlag, legte ihn auf den Pullover und schloss den Koffer. Dann sprang sie von der Ladefläche und setzte sich ans Lenkrad. Ich legte meinen Koffer neben den großen Schrankkoffer und nahm Platz auf dem Beifahrersitz.

»Ich bin wirklich froh, dass du mich abgeholt hast«, sagte ich. »Ich hab’s nicht erwartet.«

»Also, ich bin nicht ganz so froh, dich zu sehen, Wyatt, aber ich habe trotzdem etwas gekocht. Nur weil Mom das auch getan hätte.« Sie hätte viel, viel schlimmere Dinge sagen können.

Sie startete den Motor und fuhr Richtung Middle Economy. Ich wollte schon sagen: »Schöner Abend«, doch ich ließ es sein. Und wir waren kaum hundert Meter gefahren, da hielt sie am Straßenrand. Den Blick starr geradeaus gerichtet, sagte sie: »Und erwähne ja nie Hans oder mein Geisterkind. Nicht die kleinste Bemerkung. Kein einziges Mal, nie.« Dann fuhr sie weiter. Als sich die Straße zum Wasser hinunterschlängelte, sahen wir zwei Kormorane fliegen, und Tilda sagte: »Seit du weg warst, ist mir dieser Vogel nicht sympathischer geworden – im Gegenteil.«

Als wir beim Haus ankamen, trugen wir den Schrankkoffer meiner Tante hinein und legten ihn auf das Ehebett. Ich holte meinen Koffer aus dem Wagen, und Tilda sagte: »Dann richte dich hier ein, so gut es geht.« Zuerst stellte ich meinen Koffer in mein altes Zimmer. Ich zog die Schuhe aus, einfach um den vertrauten knarrenden Holzboden besser zu spüren. »Dein Polstersessel steht in der Bibliothek«, sagte Tilda vom Flur. »Sie haben einen bequemen Stuhl gebraucht, auf dem man am Kamin lesen kann.« Ich sah mich erst einmal um. Der Rest des Hauses kam mir vertraut und doch auch ein bisschen fremd vor. Tilda hatte die Möbel umgestellt, das Wohnzimmer neu tapeziert und den weißen Küchenwänden einen gelben Anstrich verpasst. Mir fielen ein paar Grammofonplatten in einem eisernen Regal auf. »Steven Parish hat das für mich gebaut«, sagte sie. »Die Schallplatten sind aus Randalls Laden. Er ist ans Ende der Morris Street übergesiedelt – billigere Miete. Diese Kerle von der RCN haben sie laufen lassen, ohne Strafe, obwohl sie Randall fast umgebracht haben. In der Zeitung haben sie geschrieben, sie wären einfach Hitzköpfe. Und weißt du, was? Randall hört auf einem Ohr nichts mehr, nach dem, was sie mit ihm angestellt haben. Aber er hat gemeint, wenn er an Beethoven denkt, der schon so früh taub wurde, dann vergeht ihm das Selbstmitleid. Ich war fünf- oder sechsmal in seinem neuen Laden.«

»Wie lebst du denn so, Tilda? Ich meine, wie bezahlst du alles?«

»Ich mache meine Arbeit auf Begräbnissen in der ganzen Provinz.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass man damit genug verdient. «

»Mom und Dad hatten etwas gespart. Nicht viel, doch immerhin. Und du weißt ja, wie sparsam ich bin. Ich schneide den Apfel in zwei Hälften und hebe drei Viertel für später auf.«

»Das riecht gut, was da auf dem Herd steht. Ich bin am Verhungern. Darf ich?«

»Greif zu, Wyatt. Ich setz mich nicht zu dir, aber es ist Moms französischer Eintopf. Du hast ja sicher schon bemerkt, dass es hier ein bisschen anders aussieht als früher – und die beiden Radios sind auch weg. Ich hab sie der Wohlfahrt überlassen.«

»Das Grammofon steht noch da. Das ist nett.«

»Du kannst Schallplatten auflegen, so viel zu willst. Du hast meine Erlaubnis.«

»Vielleicht sitze ich einfach eine Weile hier in der Küche. Sie ist größer als meine Zelle in Rockhead.«

»Gute Idee. Morgen kannst du dann ja wieder in die weite Welt hinausgehen. Warum fährst du nicht nach Advocate Harbor und machst einen langen Spaziergang? Runter an den Strand und ein bisschen Meeresluft schnuppern. Du hast noch nie viel über dich geredet, Wyatt, also kann ich mir vorstellen, dass du auch nicht gern erzählen wirst, wie es in Rockhead für dich war. Außerdem, was schmerzhaft zu erzählen ist, ist schmerzhaft anzuhören. Eine Plattitüde aus den Highlands.«

»Ich bin froh, dass es vorbei ist – mehr habe ich darüber nicht zu erzählen«, sagte ich.

»Ich wohne wieder in den Räumen über der Bäckerei. Ich wollte nicht in einem Haus sein mit jemandem, für den ich immer noch einen solchen Hass habe.«

Als Tilda gegangen war, setzte ich mich zum Abendessen. Ich aß so hastig wie im Gefängnis – eine Gewohnheit, die sich wohl mit der Zeit wieder ändern würde.

Es gibt da so ein Sprichwort: »Mord hält sich an keine Uhrzeit. « Ich habe das einige Male von einem Reverend Oostdijk gehört, einem Holländer, der in zweiter Generation in Halifax lebt und der die Häftlinge in Rockhead betreut hat. Er meinte damit: Hat man ein Verbrechen begangen, dann darf man sich nicht wundern, wenn es einen irgendwann unerwartet wieder heimsucht. Das sei gleichzeitig Strafe und Erlösung, wie er es ausdrückte (das mit der Strafe habe ich verstanden). Das kann jederzeit passieren, Tag und Nacht. Vormittags und nachmittags. Oder in meinem Fall, wenn man den Eintopf aß, den Tilda zubereitet hatte. Ich blickte von meinem Teller auf und »sah« mich und Onkel Donald in der Tür stehen, die Kleider durchnässt, aufgewühlt, und hinter uns die Scheinwerfer des Pickups im Nebel. Ich saß genau an dem Platz, an dem Tilda an jenem Oktoberabend des Jahres 1942 gesessen hatte, als sie uns hereinkommen sah, während Hans Mohring schon draußen in der Fundy-Bucht trieb und der Regen Blindenschrift in die Pfützen vor dem Haus schrieb.

Es ist eine Sache, wenn dir jemand sagt, dass sich »Mord an keine Uhrzeit hält«, aber etwas ganz anderes ist es, wenn du das selbst erlebst, wie es mir gerade widerfahren war. Ich taumelte vom Tisch zur Spüle hinüber, drehte den Wasserhahn auf und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Sollte das noch einmal passieren, dachte ich, dann kann ich nicht hierbleiben. Ich fragte mich, ob Tilda das auch passierte. Und wenn ja, wie oft? Jede Nacht?

Gegen neun Uhr abends war ich völlig fertig und schlief in den Kleidern ein, auf meinem alten Bett. Am Morgen war ich überrascht, als ich Vögel singen hörte. Ich fand den Autoschlüssel meines Wagens über der Sonnenblende auf der Beifahrerseite. Etwas skeptisch drehte ich den Zündschlüssel, doch die alte Karre sprang sofort an, was bedeutete, dass Tilda oder jemand anderes den Wagen während meiner Abwesenheit in Schuss gehalten hatte.

Ich fuhr zur Bäckerei. Es war ungefähr halb acht, und Cornelia putzte gerade ihr Schaufenster. Sie hatte das Reinigungsmittel in dicken weißen Spiralen aufgetragen, sodass es nur wenige freie Stellen gab, wo man durch die Scheibe ins Innere schauen konnte. Cornelia stand als schattenhafte Gestalt auf der Trittleiter und wischte mit ihrem Schwamm mit schwungvollen Bewegungen über die Scheibe. Ich wartete draußen, während sie sich streckte und sich dann nach unten vorarbeitete, bis sie zu einer Stelle kam, von der aus sie einen Blick auf die Straße hatte und mich schließlich erkannte. Sie lächelte und hob den Schwamm an den Mund, offenbar eine Aufforderung, hereinzukommen und eine Tasse Kaffee oder Tee zu trinken. Ich trat ein, setzte mich an einen Ecktisch und sah zu, wie sie das Fenster fertig machte. Dann trat sie einen Schritt zurück und begutachtete ihre Arbeit. »So«, sagte sie, »jetzt kann ich diesen schönen Junitag so sehen, als wär ich draußen, nicht wahr, Wyatt, mein verlorener Freund.«

»Gute Arbeit, Cornelia«, sagte ich.

»Das einzige Problem mit einem so sauberen Fenster ist, dass hin und wieder eine Amsel oder ein Spatz gegen die Scheibe kracht, er fliegt sorglos vor sich hin, und im nächsten Moment ist es vorbei für ihn. Hattest du ein Fenster in Rockhead?«

»Die Gefängnisbibliothek hatte zwei.«

»Nun, du kannst jederzeit hierherkommen und aus diesem Fenster schauen, wenn du magst. Zu den Öffnungszeiten, versteht sich.«

»Das hört sich gut an, wirklich.«

»Mit wem hast du denn schon gesprochen in Middle Economy? Tilda, nehme ich an.«

»Nur mit dir und Tilda.«

Cornelia schlüpfte aus ihren Gummihandschuhen, warf sie in die Spüle und brachte mir eine Tasse Kaffee an meinen Tisch. »Hast du schon irgendwelche Pläne?«, fragte sie. »Außer deinen Kaffee hier zu trinken, meine ich.«

»Ich werde erst einmal nachschauen, in welchem Zustand die Werkstatt ist. Das wird das Erste sein, denke ich. Es sieht wahrscheinlich nicht so rosig aus. Unser Auftragsbuch war ja voll, aber ich glaube, das kann ich jetzt alles abschreiben.«

»Oh, ich hab ganz vergessen zu fragen – wie wär’s mit einem Scone? Ich bin ein bisschen aus der Übung mit dir.«

»Preiselbeere?«

»Drei sind noch da – willst du sie alle drei?«

»Ja, bitte.«

»Das Frühstück geht aufs Haus, aber sag’s niemandem.«

»Von mir erfährt’s keiner.«

»Du bist dünn wie ein Brett, ich werde ein bisschen Butter auf die Scones streichen.«

Die Scones waren köstlich nach dem eintönigen Gefängnisessen. Am liebsten hätte ich auch noch in die Butter auf dem Teller gebissen, an der Scone-Krümel vom Streichmesser klebten. Das Beste war dieses saubere, klare Fenster. Und hier bei Cornelia zu sitzen war auch sehr schön. Doch dann sah sie auf ihre Uhr und sagte: »Wyatt, ich muss dich vorwarnen. Letzten Oktober ist Leonard Marquette gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen. Er musste wochenlang liegen. Er hat die Fischerei aufgegeben, der Arzt hat’s verboten, und jetzt sitzt er halbtags auf einem Gabelstapler in einem Lager in Truro. Angeblich ist er dort so ziemlich sein eigener Herr und kann wegen seiner Hüfte eine Pause einlegen, sooft er mag. Warum ich dir das alles erzähle – nun, Leonard schaut jeden Tag Punkt acht Uhr auf einen Kaffee und einen Heidelbeermuffin vorbei, er bleibt höchstens eine Viertelstunde, dann fährt er schon wieder, damit er nicht zu spät zu seiner Schicht kommt.«

»Dann wird Leonard gleich da sein – und?«

»Also, es könnte sein, dass Leonard nicht so gut auf dich zu sprechen ist, das will ich damit sagen. Es könnte sein, dass er ziemlich unfreundlich wird. Bei Leonard weiß man nie – seit sein Neffe in Frankreich gefallen ist.«

»Philip Marquette?«

»Ja, Philip – er hat auch in Dalhousie studiert, wie Hans Mohring. Er war der erste Marquette, der eine Universität besucht hat, und das ist eine große Familie. Aufgewachsen ist er in Pembroke, wo Leonards Schwester und sein Schwager immer noch leben. Als er älter wurde, war Philip oft bei mir in der Bäckerei. Mein lieber Mann, der Junge konnte Holz schnitzen, als wäre er nur dafür auf die Welt gekommen.«

»Ich glaube, mein Onkel wollte ihn gern einstellen.«

»Das stimmt. Aber Philip ging lieber an die Uni.«

»Was hat er denn studiert?«

»Meereswissenschaften heißt es, glaube ich. In Pembroke muss er siebzehn Jahre lang jeden Tag aufs Meer hinausgeschaut haben, dann wollte er eben mehr darüber erfahren, was er da genau gesehen hat. Das klingt irgendwie schön und einleuchtend, nicht wahr?«

»Ich weiß noch, dass er Bowlingkegel geschnitzt hat«, sagte ich.

»Ja, das ist eine nette Geschichte. Als er zehn war, hat er die kleineren Kegel gemacht, diese Duckpins, für eine Bowlingbahn bei Shediac Bridge – kurioserweise kreuzten dort die Bowlingbahnen die Grenzlinie zu New Brunswick. Natürlich kann man sagen, dass das ziemlich egal ist, ich meine, wer schmuggelt schon Bowlingkugeln über die Grenze? Damals waren Duckpin-Bahnen nicht mehr so beliebt, aber die bei Shediac Bridge muss sehr gut gegangen sein, weil Philip Marquette nämlich eine hübsche Summe für die fünfzig Kegel bekam, die er schnitzte. Seine Eltern haben das Geld weggelegt. Wer weiß, vielleicht hat er später damit Bücher für sein Studium gekauft.«

»Willst du damit sagen, ich soll Philip nicht erwähnen, weil es zu schmerzvoll wäre?«

»Nein, das ist es nicht, Wyatt. Leonard grübelt halt immer noch viel nach über das, was damals passiert ist, dass ihr sein Boot genommen habt, Donald und du.«

»Aber ich habe nicht gewusst, dass wir Leonards Boot nehmen würden.«

»Das ist den meisten Leuten auch völlig klar.«

Und wirklich, um acht Uhr – vielleicht eine Minute früher oder später – parkte Leonard seinen klapprigen dunkelgrünen Wagen vor der Bäckerei. Er muss mich gesehen haben durch das frisch geputzte Fenster. Leonard kam jedenfalls herein und ging zur Theke. Cornelia stellte ihm einen Heidelbeermuffin und eine Tasse Kaffee auf den Tisch vor der Theke. Aber Leonard blieb stehen. Er griff nach der Tasse und nahm einen Schluck Kaffee. »Wyatt, die Zeit in Rockhead muss dir wie eine Ewigkeit vorgekommen sein«, sagte er. »Für meinen Geschmack ist sie viel zu schnell vergangen.«

»Es tut mir leid, was ich über Philip gehört habe«, sagte ich.

Leonard sah Cornelia an. »Wie ich dich kenne, Cornelia, hast du Wyatt Hillyer diese Scones gratis gegeben. Als Willkommensgeschenk, so wie ich dich kenne.«

»Geht dich nichts an, Leonard«, erwiderte sie.

Leonard schlang den Muffin in wenigen Bissen hinunter, nahm seine Kaffeetasse und setzte sich an einen Tisch. »Wyatt, ist dir aufgefallen, dass ich jetzt hinke?«, fragte er mich. »Ich bin auf dem Deck meines Boots ausgerutscht und hab mir die Hüfte gebrochen. Ich kriege Tabletten gegen die Schmerzen. Die nächste schlucke ich gleich jetzt hier vor euch.« Er griff in seine Jackentasche, zog ein Glasfläschchen heraus, öffnete es und schüttelte eine Tablette auf den Tisch. Er legte sie sich auf die Zunge und ließ den Mund ein paar Sekunden offen, damit wir die Tablette auch ja gut sahen, bevor er sie endlich schluckte und laut schlürfend mit Kaffee hinunterspülte. »Ich brauche frühmorgens eine ganze Minute, um aus dem Bett zu kommen, und noch viel länger, um in meinen Wagen zu steigen.«

»Das ist doch gar nichts, Leonard«, erwiderte Cornelia. »Ich brauche drei Minuten, um aus dem Bett zu kommen, und ich hab mir noch nie die Hüfte gebrochen.«

Leonard runzelte missbilligend die Stirn. »Ich bin auch nicht einfach so in meinem Boot ausgerutscht. Ich bin auf unsichtbarem Blut ausgerutscht. Du findest das wohl weit hergeholt, Wyatt? Nun, du bist ja auch nicht drauf ausgerutscht – woher solltest du’s also wissen?«

»Leonard, bitte zahle und geh dann«, sagte Cornelia.

»Ich war draußen auf meinem Boot«, sprach Leonard weiter. »Es war ein klarer Tag. Praktisch keine Wellen. Die Ruhe zwischen zwei Stürmen. Das Deck trocken wie Papier. Und doch bin ich ausgerutscht. Also, nicht mal ein Hypnotiseur, der fünfundzwanzig Dollar für die Sitzung verlangt, könnte mir ausreden, dass auf meinem Boot unheimliche Dinge vor sich gehen. Nein, Sir, das Blut dieses deutschen Jungen war da, ich konnte es bloß nicht sehen. Und schon lag ich da. Gott sei Dank war Tom Ekhert an diesem Tag mit mir draußen, sonst hätte ich meine erste und letzte Schwimmstunde gehabt. Er hat mich gerade noch erwischt.«

»Ich hoffe, der Gabelstapler bricht dir dann die andere Hüfte, Leonard«, versetzte Cornelia.

»Hat mich auch gefreut, dich zu sehen, Cornelia. Und der Muffin schmeckte gut wie immer«, sagte Leonard und legte etwas Geld auf die Theke. »Ich bin ein zahlender Kunde.«

Als Leonard weg war, setzte sich Cornelia zu mir, und wir tranken Kaffee, ohne zu reden, genossen für einige Minuten nur den neuen Tag durch ihr sauberes Fenster.

»Na, wie findest du deinen Empfang zu Hause?«, sagte sie schließlich.

»Nicht so schlimm, dass mir der Appetit auf diese Scones vergangen wäre«, antwortete ich, und sie lachte. »Hast du übrigens Tilda heute schon gesehen?«

»Sie hat jeden Tag um diese Zeit ein Rendezvous«, antwortete Cornelia.

»Wo … mit wem?«, fragte ich.

»Am Kai in Parrsboro – mit ihrem verstorbenen Mann. Und ich meine wirklich jeden Morgen. Sie trauert um ihren Mann. Und es ist ihr egal, wer ihr dabei zusieht, Schulkinder oder Fischer, ganz egal. Wenn man etwas so regelmäßig tut, dann gewöhnen sich die Leute nicht nur dran, sondern es wird für manche etwas völlig Normales, das einfach dazugehört. Man sagt, sie macht es sehr würdevoll.«

»Ich verstehe es auch – Hans war immerhin ihre große Liebe. «

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sie redet laut und erzählt Hans, wie es gestern bei ihr gelaufen ist. Solche Sachen eben.«

»Wann hat das mit den Rendezvous angefangen?«, fragte ich.

»Am ersten Tag nachdem du und Donald nach Halifax gebracht worden seid«, sagte Cornelia. »Manchmal finde ich es bewundernswert, aber eines steht fest – es ist schon irgendwie ein Rätsel und geht viel weiter als eine normale Verbundenheit einer Frau mit ihrem Mann.«

»Ist sie verrückt geworden, Cornelia? Könnte das sein?«

»Na ja, in einer Ehe kommt es ja öfter vor, dass die Frau das Gefühl hat, der Mann hört ihr nicht richtig zu. Dann redet sie eben immer weiter, bis er’s hört«, sagte Cornelia lächelnd. »Nein, Scherz beiseite – wenn Tilda verrückt ist, dann höchstens verrückt vor Schuldgefühlen. Wenn sie nicht jeden Morgen runter zum Kai ginge, dann würden die Schuldgefühle sie auffressen.«

»Was denn für Schuldgefühle?«, fragte ich.

»Tilda hat mir selbst gesagt, sie hätte Hans an dem Abend nicht mit dir zum Haus gehen lassen dürfen. Sie glaubt, wenn sie dabei gewesen wäre, hätte Donald den Mord nicht begehen können. Ich bin mir da nicht so sicher, aber auf meine Meinung kommt’s ja nicht an.«

Als ich wieder zu Hause war, ging ich hinüber in die Werkstatt. Drinnen roch es muffig, und die Schlitten standen kreuz und quer herum. Tilda hatte die Zeitungsausschnitte von den Wänden genommen. Ich machte die Fenster auf und ließ frische Luft herein. In den Ecken hingen Spinnweben. Ich wischte sie mit einem Besen weg. Es musste ebenfalls Tilda gewesen sein, die den Papierkram in drei getrennten Stapeln, die mit Gummibändern zusammengehalten waren, auf die Werkbank gelegt hatte: Rechnungen, Bestellungen und sonstige Korrespondenz. Ich setzte mich hin und sah alles durch. Nach einer Stunde dachte ich mir: Na ja, von irgendwas musst du ja leben, also sehen wir mal, was wir tun können.

Ich ließ das Mittagessen aus und schrieb an alle Kunden, die einen Schlitten bestellt hatten – der natürlich längst hätte geliefert werden sollen. Ich begann jeden Brief mit den Worten: Mein Onkel Donald Hillyer ist nicht mehr in diesem Geschäft tätig. Ich bin Wyatt Hillyer, sein Neffe, und habe das Handwerk bei ihm gelernt. Ich werde das Geschäft weiterführen, und ich denke, Sie werden mit meiner Arbeit zufrieden sein.

Aber weißt du, Marlais, in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, ob ich den Papierkram ganz allein schaffen würde, geschweige denn all die Schlitten allein bauen konnte. Außerdem wusste ich ja gar nicht, wie viele von diesen Kunden überhaupt noch einen Schlitten haben wollten. Aber was blieb mir anderes übrig? Ich war fast dreiundzwanzig, und ich hatte nichts anderes gelernt. Die Vorstellung, mir Arbeit auf einem Hummer-oder Fischerboot zu suchen, war ebenso beängstigend wie lächerlich. Wer hätte mich denn schon angeheuert? Was war ich überhaupt noch in diesem Dorf?

Ein Außenseiter, dachte ich. Der Groll, den mich Leonard spüren ließ, bestätigte meine Befürchtung, dass ich Schande über meine Nachbarn gebracht hatte. Und was war eigentlich meine persönliche Meinung – sollte Reverend Witt für Hans Mohring beten oder für die Erlösung meines Onkels? Warum betete er nicht einfach für beide gleichermaßen? Immer wieder überlegte ich, wie sich das Ganze zum Guten wenden könnte, doch am Ende war ich doch wieder ratlos. Natürlich dachte ich auch daran, aus Middle Economy wegzugehen und alles hinter mir zu lassen. Ich stellte mir sogar vor, von Randall Webb in seinem Musikladen angestellt zu werden. Das Haus meiner Eltern war vermietet – an ein kinderloses Paar namens Pullman. Ich konnte ihnen mitteilen, dass ich das Haus selbst brauchte, und wieder dort einziehen.

Meine Gedanken schweiften von einem zum anderen, ohne irgendwo anzukommen. Am Ende war ich froh, etwas Eintopf vom Abend zuvor übrig zu haben. Dieser französische Eintopf schmeckte aufgewärmt sogar noch intensiver. Fällt dir das auch auf, dass die Reste vom Vortag oft noch besser werden?

Nach dem Essen – es war schon ganz dunkel draußen – schaltete ich das Licht auf der Veranda ein. Beim Geschirrabwaschen blickte ich aus dem Fenster und sah, wie das eiserne Vogelbad, das Tilda ihrer Mutter im Sommer 1940 geschenkt hatte, vom Regen überlief. Steven Parish hatte es wie ein Bildhauer angefertigt – die schwere Bodenplatte war mit tanzenden Engeln umrahmt. Der Regen wurde immer stärker. Ich legte eine Grammofonplatte aus einem Album mit Beethovens Sonaten für Cello und Klavier auf – der Sonate in A-Dur, der Sonate in C-Dur und der Sonate in D-Dur –, dann sank ich aufs Sofa. Ich hatte gehofft, Beethoven würde mich die Welt um mich herum vergessen lassen, aber nach kurzer Zeit verstärkte die Musik eher meine Unruhe, als dass sie sie linderte. Ich schaltete das Grammofon aus, nahm eine Kerosinlampe von einem Regal, zündete den Docht an und ging mit der Lampe in die Werkstatt hinüber.

Drinnen zündete ich eine zweite Lampe an, stellte jede der beiden an ein Ende des Arbeitstisches und hatte damit ausreichend Licht. Ich begann mit dem Schlitten, den Mr. und Mrs. Kormiker schon lange bestellt hatten; sie stammten aus Island, lebten aber jetzt in Kopenhagen. Mr. Kormiker arbeitete bei einer Bank. Während eines Besuchs in Halifax hatten sie die Broschüre meines Onkels gesehen, wahrscheinlich in einem Hotel. Die Broschüre vermittelte einen sehr professionellen Eindruck – sie war aber auch nicht billig gewesen. Sie enthielt verschiedene Schlitten-Zeichnungen, angefertigt von Steven Parish, der auch die Zeichnungen für seine eigene Broschüre machte, in der er seine Eisenarbeiten anbot – Feuerzangen, Kandelaber, Ofenrohre und so weiter.

Jetzt wirst du dich vielleicht fragen, Marlais, warum ich ausgerechnet mit diesem Schlitten angefangen habe.

Es war deshalb dieser Schlitten, weil ich beim Durchsehen der Korrespondenz die Briefe las, die Mrs. Kormiker an Donald und Constance geschrieben hatte. Elf Briefe insgesamt, alle sehr herzlich und in ausgezeichnetem Englisch, auch wenn jeder nur etwa eine Dreiviertelseite Briefpapier füllte. In einem der Briefe schrieb Mrs. Kormiker: »Unsere Enkeltochter ist jetzt zwei Jahre alt. Wäre es möglich, dass Sie einen Schlitten bauen, den sie zu ihrem sechsten Geburtstag erhalten soll?« Der Brief datierte auf den 11. April 1941 – er war trotz des Krieges über den Atlantik gekommen. Was ich so bemerkenswert fand, war das offensichtliche Vertrauen darauf, dass Leute, die durch einen Ozean getrennt waren, ein Geschäft abschließen konnten, das so weit in die Zukunft reichte. Eine geschäftliche Vereinbarung war getroffen worden, und ich hatte eine Verpflichtung geerbt. Ich hatte ein so starkes Bedürfnis, irgendeine ehrliche Aufgabe zu erfüllen, und mochte es auch nur etwas ganz Alltägliches sein. Ich dachte mir, wenn die Enkeltochter 1941 zwei Jahre alt war, dann würde ich, wenn ich fleißig arbeitete, den Schlitten mit nicht allzu großer Verspätung liefern können.

Mr. und Mrs. Kormiker wollten einen sogenannten »Dog Toboggan« mit Rückenlehne. Ich musste mich an Steven Parish wenden, damit er mir das dreieckige Verbindungsstück mit dem Griff schmiedete. Ich hatte befürchtet, dass er sich vielleicht weigern würde, mit mir zusammenzuarbeiten. Aber wie sich herausstellte, war er nur ein bisschen weniger freundlich als früher – und besonders freundlich war er ohnehin nie gewesen. Er sah sich meine grobe Skizze des Schlittens an und sagte: »Das geht in Ordnung. Allerdings mache ich es nur, weil Donald gesagt hat, dass Sie ihm kein schlechter Neffe waren, im Großen und Ganzen. Aber Sie zahlen im Voraus.« Zwei Tage später hatte ich das Verbindungsstück. Als ich hinfuhr, um mir das Teil zu holen, sagte Parish: »Wenn Sie wieder etwas zu tun haben, Wyatt, dann bringen Sie’s mir einfach. Ich war übrigens schon fünf- oder sechsmal in Dorchester. Ziemlich trostloses Kittchen, was? Ich habe Donald voriges Jahr zu Weihnachten einen Kerzenhalter gemacht. Ich hab gar nicht gefragt, ob er überhaupt Kerzen dort haben darf. Na ja, jedenfalls kommt Donald ganz gut zurecht.«

Der Schlitten der Kormikers konnte zwar mit der Hand gezogen werden, aber eigentlich war er eher für ein Zugseil gemacht. Sie wollten außerdem eine Transportbox, die sich am Schlitten befestigen ließ und in der ihre Enkeltochter bequem sitzen konnte. Auch Decken und Jacken sollten noch darin Platz haben. Aus einem von Mrs. Kormikers Briefen erfuhr ich, dass sie und ihr Mann sich anhand von Skizzen von fünf verschiedenen Schlitten entschieden hatten, die mein Onkel ihnen geschickt hatte.

Die nächsten drei Tage und Nächte war ich mit nichts anderem beschäftigt. Wenig Schlaf, kein Radio. Den aufgebogenen vorderen Teil hatte mein Onkel bereits ausgeführt, so musste ich nur noch die Querstücke schmirgeln und anbringen, die Rückenlehne hinter dem vorletzten Querstück befestigen und die Transportbox bauen. Dann kamen die Kufen und zuletzt der komplette Schellack-Anstrich.

Nach drei Tagen war der Schlitten gegen sechs Uhr morgens fertig, aber ich hatte nicht einmal mehr meine Fingerspitzen gespürt, als ich den Schellack auftrug, weil sie vom stundenlangen Schmirgeln gefühllos waren. Für solche Fälle hatte mein Onkel mehrere Tiegel mit Heilsalbe in der Werkstatt. Die Salbe stammte aus Norwegen. Ich massierte sie in meine Fingerspitzen ein, aber auch das spürte ich nicht.

Der Schlitten wog ungefähr 14 Kilo. Er sah recht ordentlich aus. Ich stellte ihn auf zwei Sägeböcke, um das Holz ruhen zu lassen, und schaltete einen Ventilator ein, der den Schellack trocknen sollte. Ich erinnerte mich, dass mein Onkel immer, wenn wir einen Schlitten, einen Toboggan oder hin und wieder auch einen Pferdeschlitten fertig hatten, eine Whiskeyflasche hervorholte und uns beiden ein Gläschen einschenkte. Wir stießen darauf an, und er sagte: »Wieder einer geschafft, und wenn wir Glück haben, noch zehntausend vor uns.« Ich reinigte das Werkzeug, legte alles an seinen Platz zurück, räumte die Werkstatt auf und ging ins Haus, um mich zu waschen. Dann setzte ich mich ins Auto.

Ich fuhr diesmal an der Bäckerei vorbei und weiter nach Parrsboro, und gerade als ich dachte, dass Tilda gleich auftauchen müsste, sah ich sie auch schon am Ende des Kais. Es hatte die ganze Nacht geregnet, und immer noch prasselte der Regen heftig aus dem Minas-Becken herein. Ein halbes Dutzend Trawler zerrten an ihren Leinen, es war richtig stürmisch, und dennoch stand Tilda da, mit einem Regenmantel, Jeans und Galoschen bekleidet, einen Fischerhut unter dem Kinn festgebunden. Was ich besonders bemerkenswert fand, war, dass drei Männer – ich erkannte Todd Branch und seine Nachbarn Ralph und Alvin Drakemore aus Upper Economy – ganz normal ihrer Arbeit nachgingen. Sie fuhren zwar nicht hinaus bei dem Wetter, doch sie machten sich auf ihrem Trawler zu schaffen, um das Boot gegen den Sturm zu sichern. Sie riefen sich unverständliche Dinge zu und achteten nicht auf Tilda – so kam es mir jedenfalls vor. Doch dann ging Todd Branch unter Deck und kam mit einer dampfenden Tasse Tee mit Melasse oder Kaffee oder Kakao oder was auch immer zurück und brachte sie Tilda. Er umschloss Tildas Hände, als sie das Getränk an die Lippen hob, so als würde er sich um jemanden kümmern, der sich gerade von einer lebensgefährlichen Krankheit erholte. Die beiden anderen Männer blickten nicht einmal auf. Tilda nahm noch einen Schluck und nickte Todd Branch zu, dann wandte sie sich ab, um ihr vom Regen verwässertes Getränk zu schlürfen und mit Hans Mohring zu sprechen. Todd ging auf sein Boot zurück. Es schien für ihn eine Routineaufgabe gewesen zu sein, die er seit einiger Zeit zusätzlich erfüllte. An wie vielen Tagen hatte er Tilda schon etwas Heißes zu trinken gebracht?

Als ich die Bäckerei betrat, stellte mir Cornelia sofort eine Tasse Kaffee und einen Preiselbeerscone hin, ohne dass ich etwas bestellt hatte. Sie setzte sich mir gegenüber an den Tisch beim Fenster. »Jetzt sieh dir das an«, sagte sie. »Der Wind hat mir den ganzen Dreck ans Fenster geblasen – und dabei war’s gerade so schön sauber.« Sie biss von ihrem Toast ab.

»Ich habe Tilda draußen am Kai in Parrsboro gesehen.«

»Ich hab mir schon gedacht, dass das dein Auto war, das hier vorbeifuhr.«

»Sie stand dort, genau wie du’s gesagt hast.«

»Ich habe sie vor drei Tagen dort gesehen – und weißt du, was?«, sagte Cornelia. »Ein paar Schuljungen haben ohne richtig zu zielen auf die Vögel geschossen, die gerade vorbeiflogen, hauptsächlich Kormorane. Und plötzlich schnappte sich Tilda das Gewehr und drückte selbst ein paarmal ab. Natürlich hat sie nichts getroffen außer dem Wasser, aber es war so ein komischer Anblick, dass ich mich gebogen hab vor Lachen. Ich war gerade auf dem Heimweg, nachdem ich bei Mrs. Gerard in Parrsboro eingemachte Preiselbeeren geholt hatte.«

»Möglicherweise hat sie mich gesehen«, sagte ich. »Ich hoffe, sie denkt jetzt nicht, dass ich ihr nachspioniere oder so.«

»Du warst halt neugierig. Das ist ziemlich menschlich – außerdem hat Constance Hillyer es mir erzählt.«

»Was hat sie dir erzählt?«

»Was du für Tilda empfindest«, antwortete Cornelia. »Sieh mal, Tilda ist noch keine drei Jahre Witwe, und ich schätze, es ist für sie genauso schwer wie für irgendeine andere Kriegswitwe, von denen es ja Tausende gibt, nicht? Weißt du, sie sitzt die halbe Nacht in der Bibliothek – Mrs. Oleander hat nichts dagegen. Alles, was sie sieht, sind die Räume über der Bäckerei, der Kai, die Bibliothek. Und ich glaube, Tilda weiß gar nicht mehr, was Schlaf ist. Ich höre oft, wie sie oben ihre Grammofonplatten spielt.«

»Also, was ich für Tilda empfinde, wie du es ausdrückst – sie erwidert das nicht im Geringsten. Warum sollte sie auch? Ich habe ihren Mann im Meer versenkt – er möge in Frieden ruhen, und das meine ich so. Also, was ich empfinde, das wird sie kaum trösten, wenn du mir das damit sagen willst.«

»Ich sage nur das, was ich gesagt habe, nicht mehr und nicht weniger.«

»Sie muss Hans noch mehr geliebt haben, als ich dachte.«

»Das lässt sich nicht leugnen. Sie hat mit Hans von Anfang an alles geteilt, bis hin zum Bett. Es ging alles so schnell – ich hab nur gestaunt.«

»Darüber habe ich selbst Tag und Nacht nachgedacht. Im Gefängnis, meine ich. Und natürlich auch über andere Dinge.«

Ich griff nach der Kaffeetasse, die Cornelia mir an den Tisch gebracht hatte, doch ich ließ sie fallen – sie zerbrach am Boden, und der Kaffee spritzte in alle Richtungen. »Du meine Güte«, sagte sie. »Bist du ein Trampeltier heute.«

»Sorry. Ich habe die ganze Nacht an einem Schlitten gearbeitet. Vom Schmirgeln sind meine Finger völlig taub.«

»Willst du noch eine Tasse?«

»Nein, danke.«

Ich sammelte die Scherben auf und warf sie in den Abfalleimer. Cornelia gab mir ein Sandwich, in eine Serviette gewickelt. »Es ist mit Heilbutt, Zwiebel, Tomate und Senf«, sagte sie. »Leg’s in die Speisekammer für später. Ich nehme an, dir macht keiner etwas zu essen.«

»Danke. Ich bin nur gerade ein bisschen knapp bei Kasse.«

»Seh ich aus wie ein Schuldeneintreiber, Wyatt?«

»Nein, tust du nicht, Cornelia. Danke für das Sandwich.«

»Tilda kommt jeden Moment zurück.«

»Sie wird mich schon besuchen, wenn sie’s will. Ich glaube, das ist am besten so.«

»Ich hoffe, du versuchst es mit dem Geschäft deines Onkels, Wyatt.«

»Ich habe den Schlitten fertiggebaut, nicht wahr?«

Zu Hause wusch ich ein wenig Wäsche im Waschbecken und hängte sie an eine Schnur, die ich in der Vorratskammer aufspannte. Darunter stellte ich drei Eimer für das Wasser, das heruntertropfte. Dann ging ich daran, eine Kiste zu skizzieren, in der ich den Schlitten zu den Kormikers nach Dänemark schicken würde. Unter einer Plane ganz hinten in der Werkstatt lag genug Sperrholz, das ich dafür verwenden konnte. Zwei Stunden später hatte ich die Kiste fertig. Als ich das Ergebnis begutachtete, dachte ich: Wenn ich ganz ehrlich bin, sieht das Ding aus wie ein langer Sarg. Der Gedanke war zwar nicht besonders originell, aber umso schmerzlicher. Und leider gehen die Gedanken dann oft noch einen Schritt weiter, statt einen in Frieden zu lassen: Als würde ich einen Sarg nach Dänemark schicken, mit einem Schlitten drin – während Hans nicht mal einen Sarg bekam.

Es regnete und regnete, und der Himmel wurde immer dunkler, je länger der Tag dauerte. Es fühlte sich an, als hätte das Minas-Becken es nicht mehr erwarten können und schon ein bisschen früher mit den gewohnten Sommerunwettern begonnen. Ich setzte Teewasser auf und hörte mir eine Grammofonplatte nach der anderen an; das war etwas, von dem ich im Gefängnis geträumt hatte. Einmal fragte ich einen Wärter, einen Mr. DeForge: »Wen mögen Sie mehr – Beethoven oder Chopin, oder vielleicht Vivaldi?«

»Ich hol dich persönlich aus deiner Zelle raus und stopf dich in dein eigenes Arschloch, wenn du mich noch mal so was fragst«, erwiderte er.

Ich hatte gerade Beethovens Sonate in F-Dur aufgelegt, als das Telefon in der Küche klingelte. Ich sah auf die Uhr: 1:20 Uhr nachts. Ich nahm den Hörer ab und meldete mich, und Tilda sagte: »Wyatt, da sind irgendwie zwei Krähen in die Bibliothek gekommen. Ich glaube, durch ein zerbrochenes Fenster. Sie sind jetzt drinnen. Hier …«

Offenbar hielt sie den Hörer in die Luft, denn ich hörte ein lautes und deutliches Krächzen. »Hast du das gehört?«, fragte sie. »Ich kann nicht lesen bei dem Lärm. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich werde verrückt. Eine Schublade im Katalog war einen Spalt offen, und eine Krähe hat so viele Karten herausgezupft, wie sie erwischt hat. Die andere hat von Mrs. Oleanders Schreibtisch aus zugesehen.«

»Tilda, willst du damit sagen, dass ich rüberkommen soll?«

»Ich hab dir das mit den Krähen erzählt, tu was du willst.«

Ungefähr zehn Minuten später war ich in der Bibliothek. Es blitzte draußen über dem Minas-Becken. Als ich die Tür öffnete, hörte ich schon das raue Krächzen einer Krähe. Ich ließ die Tür offen. Im Licht einer Stehlampe neben einem Polstersessel und dem flackernden Licht vom Kamin sah ich Tilda in Strümpfen, bekleidet mit Jeans, einem blassblauen Hemd und einer schwarzen Weste. Sie schrubbte gerade den Schreibtisch mit einem Wischlappen.

»Diese Krähe da hat auf Mrs. Oleanders Tisch geschissen«, sagte sie.

»Was glaubst du denn, wie sie reingekommen sind?«

»Wahrscheinlich ist oben ein Fenster zerbrochen – vielleicht weil es der Wind zugeschlagen hat. Die Bibliothek hat einen Dachboden, weißt du.«

»Das hab ich nicht gewusst.«

Ich sah die Katalogkarten auf dem Boden verstreut. Eine Krähe saß immer noch auf Mrs. Oleanders Tisch und schwieg. Die andere hatte sich auf einem der langen Lesetische niedergelassen, wo sie mit klickenden Lauten eine Seite aus einem Buch herausriss; den Deckel hielt sie mit ihrer Kralle auf. Ich zog meine Schuhe aus und warf einen nach dieser Krähe. Sie wich dem Geschoss aus und flatterte hoch, die Buchseite im Schnabel, um schließlich auf Mrs. Oleanders Tisch zu landen. Beide Krähen hüpften auf dem Tisch herum. Ich warf den zweiten Schuh – diesmal traf ich einen der Vögel, worauf beide direkt auf Tilda zuflogen, die mit dem Wischlappen fuchtelte und sie zur Haustür trieb.

Sie flogen hinaus, und Tilda schlug die Tür hinter ihnen zu, dann ließ sie sich auf den Boden sinken und lachte so laut, wie ich sie noch nie hatte lachen hören. Ich ließ mich in den Polstersessel fallen. »Das ist also das Leben, das du jetzt führst, Tilda«, sagte ich. »Mit anderen Leuten hast du anscheinend wenig zu tun. Die Abende verbringst du mit Büchern – und gelegentlich mit ein paar Krähen, was?«

»Immerhin hab ich dich angerufen, oder? Eine junge Dame in Not sozusagen.«

»Das ist nicht deine Art und wird’s auch nie sein.«

»Denk was du willst.«

Wir sahen uns einen Moment lang an. »Bevor diese Vögel hereinflogen – weißt du, was ich da gelesen habe, vielleicht schon zum zehnten Mal?«, fragte sie.

»Ich habe noch nie etwas zehnmal gelesen. Welches Buch?«

»In einer deutschen Pension von Katherine Mansfield.«

»Wie weit bist du denn gekommen?«

»Seite vier – dann war hier der Teufel los.«

»Dann werd ich dich wieder lesen lassen.«

»Willst du’s hören, Wyatt?«

»Was meinst du?«

»In einer deutschen Pension

»Das ganze Buch?«

»Ich bin bereit, wenn du willst.«

Tilda setzte sich auf den Polstersessel rechts vom Kamin. Ich legte noch ein paar Holzscheite ins Feuer, dann stellte ich Mrs. Oleanders Stuhl vor den Kamin. Beide Stühle waren zum Kamin gerichtet, aber leicht zueinandergedreht. Als sich das Feuer beruhigte, hörten wir den Regen im Kamin zischen.

Tilda schlug das Buch auf. »Die erste Geschichte heißt ›Deutsche beim Fleisch‹«, sagte sie. »Während ich lese, darfst du mich nicht unterbrechen, Wyatt. Ich unterbreche auch nie, wenn ich allein lese – das würde nur stören.«

»Ich hab mir das immer schön vorgestellt, vorgelesen zu bekommen. «

»Dann ist das jetzt dein großer Augenblick.«

Sie rückte die Stehlampe etwas näher heran, setzte sich wieder und begann zu lesen: »Brotsuppe wurde auf den Tisch gestellt. ›Ah‹, sagte der Herr Rat, während er sich über den Tisch beugte, um einen Blick in die Terrine zu werfen. ›Das ist genau das, was ich brauche.‹«

Warum habe ich mir diese Sätze gemerkt, Marlais? In den nächsten drei Stunden – so lange dauerte es mindestens – las Tilda eine Geschichte nach der anderen. Außer an »Deutsche beim Fleisch« erinnere ich mich noch an die Titel von zwei anderen – »Das Kind, das müde war« und »Die Schwester der Frau Baronin«, aber ich glaube, es waren dreizehn insgesamt.

Sie las alle Geschichten mit der gleichen Hingabe.

»Nun, das war’s«, sagte Tilda, als sie fertiggelesen hatte. »Ich sehe, du bist noch wach, Wyatt.« Sie legte das Buch auf das Sitzkissen. Eine Stille senkte sich über uns, die nicht nur daher kam, dass wir mitten in der Nacht in der Bibliothek saßen und dass das Trommeln des Regens auf dem Dach die meisten anderen Geräusche zudeckte. Nein, es war etwas anderes. Es war, wie es in einem Kirchenlied heißt, so als würden uns stumme Engel eine flüchtige Chance bieten, weil sie später nicht in der Lage wären, Gott von uns zu berichten, auch wenn sie es gewollt hätten. So als hätten Tilda und ich für kurze Zeit ein geheimes Leben angeboten bekommen, fernab von den prüfenden Blicken unserer Nachbarn in Middle Economy, einen sicheren Hafen, wo wir geschützt waren vor all den Geistern, die uns in den letzten Jahren heimgesucht hatten. Ich glaube nicht, dass irgendeine Wörterbuch-Definition von Liebe auf das zutrifft, was in jener Nacht zwischen uns passierte, aber es kann nicht alles im Wörterbuch stehen. Jedenfalls fragten wir uns nicht lange, wohin mit unseren angestauten Gefühlen. Da waren wir nun, in einem Raum, in dem wir noch nie zusammen waren. Es geschah nur dieses eine Mal, und es endete mit dem blassen Licht des neuen Tages, das durch die regennassen Fenster fiel. Kleidungsstücke flogen auf den Boden. Meine Fingerspitzen waren plötzlich nicht mehr so gefühllos. Die Schreibtischlampe brannte noch.

Marlais, würde ich mehr davon erzählen, wäre es nicht passend zwischen Vater und Tochter. Außerdem wäre es mir zu peinlich, selbst in einem Brief. Ich erwähne vielleicht so viel, dass Tilda einmal, als du sechs Monate alt warst und wir drei zusammen in der Küche saßen, über den Tisch zu mir schaute und sagte: »Damals in der Bibliothek, als wir in dem Polstersessel saßen, wir zwei. Ich wusste, dass ich unsere Tochter empfing – in dem Moment, als es geschah.«

Du bist am 27. März 1946 um zwei Minuten vor Mitternacht im Truro General Hospital zur Welt gekommen, 2900 Gramm schwer. Ich und Cornelia Tell wurden aus dem Wartezimmer hereingerufen, als du gerade eine halbe Stunde alt warst und deine Mutter dich in den Armen hielt. Du wurdest auf den Namen Marlais Constance Hillyer getauft. Marlais nach Marlais Winterhew, der Autorin des Highland Book of Platitudes. Tilda hat den Namen ausgesucht.

Deine Mutter war die Liebe meines Lebens. Ich war nicht die Liebe ihres Lebens. Du wurdest für uns beide die Liebe unseres Lebens.