MORD
Schließlich beschloss die Familie Dewis doch, sich das Geld für Tildas Dienste zu sparen, und so verlor sie den Auftrag. »Keine gute Tat bleibt ungestraft«, meinte Cornelia dazu, nachdem sie Tilda mitgeteilt hatte, dass Reverend Plumly angerufen und die Absage der Familie weitergegeben habe. »Und du hast sogar deine Hochzeit vorverlegt wegen ihnen.« Doch noch am selben Tag bekam Tilda ein neues Angebot – aus dem Dorf Lorneville.
»Das hat Reverend Greene von der Methodist Church vermittelt«, berichtete sie.
»Hatte er sich nicht geweigert, dich zu trauen?«, fragte Cornelia erstaunt.
»Er war einer von vielen, die Nein gesagt haben«, gab Tilda zurück. »Ich muss ja nicht sein bester Freund sein, ich muss bloß eine halbe Stunde mit ihm zusammenarbeiten.«
»Du siehst das sehr praktisch«, meinte Cornelia.
In den nächsten Tagen – vom 11. bis 13. Oktober – lebte ich wie ein Einsiedler. Ich war die meiste Zeit zu Hause, und meinen Onkel sah ich selten. Meistens hörte ich nur seinen Wagen kommen und wegfahren. Und was die Nacht vom 13. auf den 14. Oktober betrifft, Marlais, so habe ich das, was ich dir jetzt erzählen werde, zuerst nicht als Vorahnung oder etwas in dieser Art gesehen. Doch es muss irgendeine Ahnung gewesen sein, die mich dazu brachte, in Donalds und Constances Schlafzimmer zu gehen und mich auf der Seite meiner Tante auf die Bettkante zu setzen. Ich spreche deshalb von einer Ahnung, weil ein paar Tage später ein Bericht in der Mail bestätigte, dass die Fähre Caribou in eben dieser Nacht torpediert und versenkt worden war.
Ich hatte wieder einmal nicht schlafen können. Mein Onkel war drüben in der Werkstatt. Ich saß auf dem Bett und wartete, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, dann betrachtete ich die Ahnenbilder in ihren Rahmen an den Wänden. Ich sah die Haarbürste meiner Tante auf der Kommode, ihren Handspiegel, die Vase mit den getrockneten Blumen, ihren blauen Morgenmantel auf dem Haken an der Tür. Ich sah aus dem Fenster; das Mondlicht fiel auf die Kiefern, auf ein paar kleine Teiche und auf ein Flüsschen, das in das Minas Basin mündete.
Im Haus von Betty und Abel Wickersham brannte Licht, vielleicht waren sie schon auf zu dieser frühen Morgenstunde. Ich erinnerte mich, dass Abel erst vor einer Woche mit mir über Donald gesprochen hatte; auch ihm war nicht entgangen, wie sehr er sich verändert hatte. »Dieser Krieg – er macht uns alle fertig«, meinte Abel. »Der junge Mann aus Advocate Harbor und der andere aus Diligent River, die im Sarg nach Hause kamen. Und der Kerl aus Portapique, von welcher Familie war er doch gleich – den Cogmanaguns, nicht? Reverend Witt sagt, die Leute sollten alle alten Gebete sprechen, sich aber auch ein paar neue einfallen lassen, die für diesen Krieg in Europa passen. So viel Trauer, und man weiß oft nicht, wie man damit umgehen soll.«
»Ich weiß jedenfalls nicht, wie ich mit der meinen umgehen soll«, sagte ich.
»Sicher – es ist nichts Neues hier in Neuschottland«, meinte Abel. »Du kommst aus Halifax, da weißt du es vielleicht nicht, aber aus dem großen Krieg kehrte kein einziger Mann aus Great Village zurück. Keiner hat überlebt. Eine ganze Generation von jungen Männern war auf einmal nicht mehr da, so wie wenn du aufwachst und feststellst, dass dein Mittelfinger fehlt. Die jungen Frauen von Great Village, die heiraten wollten, mussten sich jedenfalls woanders umsehen.«
»Und jetzt spielt die Welt wieder verrückt, stimmt’s, Abel?«
»Das trifft uns alle – und darum verstehe ich nicht, wie Donald uns auch noch quälen muss, so als wären wir schuld an diesen U-Booten.«
»Das sehe ich ganz genauso.«
»Weißt du, ich kenne Donald Hillyer schon mein ganzes Leben, und ich bin der Letzte, der bestreitet, dass er eigentlich ein sehr verträglicher Mensch ist. So schwierig wie jetzt war er noch nie. Ich will mich nicht mal beklagen über ihn – ich will nur sagen, ich versteh ihn einfach nicht.«
Das Mondlicht schien auf das weite Feld hinter Patrick und Marcelline Bastows Haus und auf die Straße westlich der Wickershams. Die Bastows hatten nur die Verandabeleuchtung eingeschaltet. Ihr Sohn William diente bei der Sanitätstruppe in Europa. Als ich der Straße weiter nach Westen folgte, kam ich zu Reverend Witts Haus. Er lebte allein und hatte an die hundert Schafe, sodass die Leute hinter seinem Rücken meinten, ihm sei die Herde der Gläubigen wohl nicht genug. Erst vor zehn Tagen war Reverend Witt bei uns vorbeigekommen, um meiner Tante zu sagen, dass Donald darum gebeten hatte, eine Predigt in der Kirche halten zu dürfen.
»Donald – vor all den Leuten?«, sagte Constance verblüfft. »Das kann er nicht ernst gemeint haben.«
»Hier ist die Liste mit seinen Ideen, die er mir gegeben hat«, erwiderte Witt. »Sehen Sie selbst.«
Meine Tante und ich lasen es. Es ging – wenig überraschend – wieder einmal um die U-Boote. Meine Tante konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. »Mein Donald ist in letzter Zeit einfach nicht mehr er selbst. Tee, Reverend Witt?«
Wir setzten uns zu dritt zum Tee. »Damit Sie’s wissen«, sagte Witt, »ich habe Donald mitgeteilt, dass ich bereits eine ganze Menge Predigten für die nächste Zeit vorbereitet habe. Das hat ihm gar nicht gefallen. Er sagte: ›Wenn das alles ist, was Sie mir zu sagen haben, dann versuche ich es eben bei einer anderen Kirche.‹«
Ich sehe schon, Marlais, das menschliche Gedächtnis ist kein zuverlässiger Stenograf solcher Gespräche, aber es gibt dir auf jeden Fall einen Eindruck von dem, was Abel Wickersham gesagt hat und dann Reverend Witt. Und nicht nur sie – es kamen viele, die in dieser Zeit mit Donald zu tun hatten, zu einer ähnlichen Schlussfolgerung: Mein Onkel konnte an nichts anderes mehr denken als an das, was er im Radio hörte; die Berichte von U-Booten und Kriegsgräueln fraßen ihn innerlich auf.
In der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober versuchte ich auf dem Quilt auf dem Bett meiner Tante und meines Onkels zu schlafen, doch ich konnte nicht einschlafen. Als es hell wurde, ging ich in die Werkstatt hinüber, weil ich auch versuchen wollte, die Dinge ins Reine zu bringen, aber mein Onkel war nicht da. Ich vertrieb mir irgendwie die Zeit – ich weiß nicht mehr, wie. Gegen Mittag fuhr ich in die Bäckerei und hörte von Cornelia, dass Donald am frühen Morgen auf einen Kaffee vorbeigekommen sei. »Er wollte nach Truro, um Schlittenkufen beim Schmied in Truro abzuholen«, berichtete sie. Der Schmied hieß Steven Parish. Seit zwanzig Jahren ließ sich mein Onkel von ihm die Kufen anfertigen, und er hatte in der Zeit nur ein einziges Mal, 1934, den Preis angehoben.
»Ist Tilda da?«, fragte ich.
»Sie und Hans besuchen Randall Webb im Krankenhaus«, sagte Cornelia.
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr nach Truro. Der Pick-up meines Onkels stand vor der Werkstatt des Schmieds. Die Werkstatt befand sich gegenüber einem Restaurant, von dem man die mächtige Gezeitenwelle beobachten konnte. Die Bucht lag keine fünfzig Meter von dem Restaurant entfernt, doch die Leute aus der Gegend betrachteten die Flutwelle als ein riesiges Naturschauspiel. Das Restaurant, McKay’s Diner, prahlte sogar auf seiner Speisekarte mit der Flutwelle – da war eine Zeichnung von einem Paar, das tollkühn in einem Ruderboot auf einer riesigen Welle ritt und dabei Pfannkuchen verdrückte. Darunter stand: »Unsere Heidelbeer-Pfannkuchen sind ein Naturereignis«. Zum 61. Geburtstag meiner Tante, am 5. Januar 1942, waren wir zum Frühstück in dieses Restaurant gegangen – ich, Tilda, Donald und Constance –, und die Pfannkuchen waren wirklich vorzüglich. Als Donald mit einer Geschichte aus seiner Kindheit begann, wie er trotz eines verstauchten Knöchels an einem Eisschnelllauf-Rennen teilgenommen hatte, sagte Tante Constance: »Mein lieber Mann, deine Heldengeschichten sind ungefähr so spannend wie eine zehn Zentimeter hohe Flutwelle.« Ich lachte laut, und Tilda ebenso, und sogar die Kellnerin, die uns Kaffee nachgeschenkt hatte. Aber dann fragte die Kellnerin doch meinen Onkel: »Und – haben Sie gewonnen oder nicht?«
Auf dem Schild an der Ladentür stand SCHMIED BEI DER ARBEIT, und wenn man hineinging, sah man genau das. Steven Parish war in Truro zur Welt gekommen und aufgewachsen. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, sah gut aus und hatte lockiges schwarzes Haar, das er sich meist mit einem Tuch aus der Stirn band. Er war kräftig gebaut und ging mit Präzision und Anmut mit seinem Werkzeug um, vor allem in Anbetracht seiner »jugendlichen Arthritis«, wie Tante Constance es nannte. Als ich die Tür öffnete, sah mich Steven Parish sofort und kam in seiner fleckigen Schürze, seiner Schutzbrille und seinen Asbesthandschuhen auf mich zu. Er drückte mir einen Schmiedehammer an die Brust und sagte: »Wyatt, egal was Sie von Ihrem Onkel wollen – ich würde jetzt nicht mit ihm reden. Er sitzt in meinem Büro und hört gerade einen Albtraum-Bericht im Radio. Ich würde mich an Ihrer Stelle wieder ins Auto setzen und nach Hause fahren.«
»Was meinen Sie mit ›Albtraum‹ ?«, fragte ich.
»Ein deutsches U-Boot hat die Fähre Caribou versenkt, und Constance war vielleicht an Bord, auf dem Weg nach Hause von Neufundland.«
Parish trat zu ein paar Schlittenkufen, die an der Wand lehnten. »Nehmen Sie die hier mit«, sagte er, dann ging er in sein Büro. Bevor er die Tür hinter sich zumachte, sah ich noch kurz meinen Onkel, wie er mit der Faust auf den Tisch hämmerte. Donalds Gesicht war so verzerrt, dass mir der Anblick wehtat. Ich nahm die Kufen und legte sie auf den Rücksitz meines Wagens. Dann fuhr ich nach Middle Economy.
Ich brachte die Kufen in die Werkstatt und ging gleich ins Haus. Zufällig hatte Tilda von Cornelia erfahren, dass Donald in Truro war, und so nützte sie seine Abwesenheit, um ein paar persönliche Dinge aus ihrem alten Zimmer zu holen. Als ich hineinkam, blätterte sie gerade im Highland Book of Platitudes. Sie blickte von ihrem Buch auf und sah mich in der Tür stehen. »Randall geht es gar nicht gut«, sagte sie. »Jeder Atemzug tut ihm weh, aber er hat gemeint, dass er seinen Schallplattenladen wieder ganz neu aufbauen wird – und ich und Hans werden ihm dabei helfen.«
Ich gab keine Antwort. »Was ist los, Wyatt? Nein, sag nichts – dein Gesicht ist ein einziger Notruf: Mayday! Mayday!«
Ich setzte mich neben sie aufs Bett und nahm ihre Hände in die meinen. »Tilda. Eine der Fähren, die Tante Constance genommen hat. Sie heißt Caribou.«
»Großer Gott, nein!« Sie schob mich weg, stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. »Ist es sicher, dass sie gesunken ist?«
»Soweit ich weiß, schon. Ich war gerade beim Schmied in Truro. Ich wollte zu Donald, und als ich hinkam, sagte mir Steven Parish, sie hätten es gerade im Radio gemeldet. Und er hat gesagt …«
»… was?«, fragte Tilda, ohne sich zu mir umzudrehen. »Was hat Steven Parish gesagt?«
»… dass die Caribou gesunken ist.«
»Aber ist es auch sicher, dass Mutter auf der Fähre war? Diese Fähren sind doch zweimal die Woche oder noch öfter zwischen Neufundland und Neuschottland unterwegs, nicht wahr? Außerdem wollte sie sich alles Mögliche ansehen und eine Weile bleiben. Seit sie weg ist, sind schon einige Fähren hin- und hergefahren, ohne dass sie drauf war.«
»Ich weiß auch nicht genau, wann sie zurückkommen wollte, Tilda. Ich weiß nur, dass Tante Constance zwei Fahrkarten für die Caribou gekauft hat.«
Tilda atmete fünfmal tief durch und zählte laut mit. »Also, ich werde jetzt Folgendes tun«, sagte sie schließlich. »Erstens werde ich zu Fuß zur Bäckerei gehen. Du wirst mich nicht hinfahren. Weil es genau die richtige Strecke zum Weinen ist. Auch wenn man noch nicht genau weiß, worüber man weinen soll. Und so traurig eine versenkte Fähre schon an sich ist – es könnte immerhin sein, dass meine Mutter nicht mitgefahren ist. Während wir also hier reden, freut sie sich vielleicht gerade über die Taufe und lacht – nur kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, an welchem Tag die Taufe sein sollte. Ich weiß aber, dass sie auf der Hinfahrt einen oder zwei Zwischenstopps eingelegt hat – oder wollte sie das erst auf dem Rückweg machen?«
»Heute ist der 14. Oktober, das ist alles, was ich weiß«, sagte ich.
Tilda setzte sich auf ihr Bett und stand sofort wieder auf. »… und wenn ich in der Bäckerei bin, gehe ich gleich hinauf«, fuhr sie fort. »Weil Hans gerade seine Unterlagen ordnet. Für seine Abschlussarbeit in Philologie. Wir werden das Radio einschalten, und ich werde meinem Mann sagen …«
Sie biss sich auf die Lippe und ließ den Rest ihres Gedankens ungesagt. Tilda drückte das Highland Book of Platitudes an ihre Brust, dann eilte sie aus ihrem Zimmer und zur Haustür hinaus, um zur Bäckerei zurückzukehren.
In den folgenden Stunden schlief ich wie ein Toter auf dem Bett meiner Tante und meines Onkels. Ich träumte nichts. Danach aß ich die Reste eines Eintopfs, dazu Brot und ein Glas Wasser, und wenig später hörte ich den Wagen meines Onkels draußen vor dem Haus. Das war gegen sieben Uhr abends, es war schon dunkel. Er kam aber nicht ins Haus, sondern ging gleich in die Werkstatt.
Ich ließ eine Stehlampe im Wohnzimmer und eine Lampe auf der Veranda brennen und fuhr zur Bäckerei. Dort ging ich gleich nach oben und klopfte laut, und Tilda ließ mich herein. Hans saß am Küchentisch, auf dem sich Unterlagen und Bücher stapelten. Manches in deutscher Sprache, manches in Englisch. Ohne ein Wort zu sagen, ging Hans zum Schrank und nahm eine viertelvolle Flasche Wodka heraus, dann überlegte er kurz und holte auch noch eine zweite, ungeöffnete Flasche. Er machte auf dem Tisch Platz für die Flaschen. Tilda stellte Gläser auf den Tisch, und Hans schenkte ein.
Wir hoben unsere Gläser und zögerten einige Augenblicke, doch keiner wusste recht, was er sagen sollte. Tilda fing schließlich an zu schluchzen. »Meine Mutter konnte nicht einmal schwimmen«, brachte sie schließlich heraus. »Als ich klein war, ging sie so oft mit mir an den Strand in Parrsboro, ein paarmal auch nach Advocate Harbor, wo immer Treibholz angespült wird. Selbst am heißesten Sommertag hat sie höchstens einen Zeh ins Wasser gesteckt. Ich hab mich immer sofort reingestürzt.«
Hans wollte Tilda offenbar von den Gedanken an ihre Mutter ablenken und legte auf dem Grammofon Schuberts Impromptu in As-Dur auf. Ich fragte mich aber, ob Schuberts Klavierstück Tilda nicht noch intensiver an Constance denken ließ. Jedenfalls hatte die Musik bei mir diese Wirkung. Es dauerte keine Minute, bis ich mir vorstellte, wie meine Tante im Meer um sich schlug und es nicht schaffte, zu einem Rettungsboot zu kommen. Vielleicht hatte ich so etwas in einem der Zeitungsberichte gelesen, die in der Werkstatt an der Wand hingen.
»Woher habt ihr das Grammofon?«, fragte ich.
»Pfandhaus«, sagte Tilda. »Die paar Schallplatten, die wir haben, hat Hans auch im Pfandhaus gekauft. Als wir Randall im Krankenhaus besuchten.«
Ich nahm mein Glas und kippte es in einem Zug hinunter. Der Wodka brannte mir in der Kehle. »Ich muss zugeben, dass ich dieses Zeug noch nie getrunken habe«, brachte ich mühsam heraus.
»Hans meint, man sollte ihn möglichst kalt trinken«, sagte Tilda.
Wir saßen bei Kerzenlicht, tranken und lauschten der Musik. Als Hans die Schubert-Platte umdrehte, sagte er: »Wyatt, es ist ziemlich klar, was passiert ist.«
»Wir wissen noch nicht, was passiert ist, Hans«, erwiderte ich.
»Doch, ich glaube, wir wissen es sehr wohl«, beharrte er. »Ich glaube, dass ein U-Boot aus dem Land, in dem ich geboren wurde, meine Schwiegermutter Constance Bates-Hillyer getötet hat.«
»Constance hat vielleicht gar nicht diese Fähre genommen«, sagte ich.
»Es ist ja gut, die Hoffnung nicht aufzugeben, Wyatt. Ja, aber ich habe die Schiffsmeldungen studiert, ich war in der Bibliothek und habe die Zeitungen durchgesehen. Außerdem habe ich fünf Anrufe mit Mrs. Tells Telefon gemacht, die ich ihr bezahlt habe. Ich habe beim Fährhafen in Halifax und bei der Zeitung angerufen und alle möglichen Fragen gestellt, Wyatt. Ich habe auch die Fahrpläne der Fähren studiert, und ich mache mir große Sorgen.«
Und das war so ziemlich alles, was wir den ganzen Abend redeten. Schluck um Schluck leerten wir beide Flaschen Wodka, während Hans alle Grammofonplatten, die sie hatten, zweimal abspielte. Wahrscheinlich konnte Cornelia unter uns nicht schlafen – und wenn, dann eher unruhig –, doch sie kam nicht herauf, um sich zu beklagen. Als es draußen hell wurde, schob sie eine Nachricht unter der Tür durch: Ich habe gehört, was passiert ist. Kann ich mit euch frühstücken? Tilda, Hans und ich waren benommen und erledigt von dem Wodka und von unserer Angst vor dem Schlimmsten. Wann würden wir Gewissheit bekommen? »Ich warte noch ein bisschen damit, dass ich Donald seine Grammofonplatten gebe, meint ihr nicht auch?«, sagte Hans trotz seines Zustands recht deutlich.
»Hans, ich habe einen Philologiestudenten geheiratet«, erwiderte Tilda. »Ich habe nicht ein Mitglied der Besatzung dieses U-Boots geheiratet, das die Caribou versenkt hat. Ich werde das allen klarmachen.«
»Hans hat recht«, meinte ich. »Er sollte mit den Grammofonplatten noch warten.«
Hans ging ins Schlafzimmer und kam mit einer gerahmten Fotografie seiner Eltern zurück. Sie standen vor einem Restaurant. »Das Bild wurde in Kopenhagen gemacht«, erklärte er und reichte es mir. »Ich wünschte, ich könnte mit ihnen sprechen. Aber das ist unmöglich. Völlig unmöglich.«
»Ich glaube, der Doktor würde uns jetzt Kaffee verordnen, stimmt’s?«, meinte Tilda und stand von ihrem Platz auf. Doch sie setzte sich sofort wieder hin. »Bin immer noch ein bisschen duselig. Vielleicht überlasse ich das mit dem Kaffee Cornelia.«
»Die Bäckerei ist sicher schon offen. Ich geh runter und rede mit ihr«, sagte ich. Ich ging auf die Toilette und hörte von dort, wie Hans sagte: »Tilda, ich möchte meinem Nachruf noch etwas hinzufügen.«
»Jetzt gleich, Hans?«, fragte Tilda. »Ich weiß nicht, ob ich im Moment überhaupt richtig schreiben kann. Ich bin ziemlich benebelt.«
»Ja, ich fürchte, es muss sein, Tilda – bitte. Es kommt ja nicht auf die Rechtschreibung an. Bitte schreib dazu: ›Ganz besonders liebte er die Impromptus von Schubert.‹«
Tilda holte den Nachruf aus der Schreibtischschublade, dann setzte sie sich an den Tisch und begann zu schreiben. Ich ging in die Bäckerei hinunter. Cornelia stand hinter der Theke; aus dem Radio kam gerade die Wettervorhersage.
»Oh, Wyatt, da bist du ja«, sagte sie. »Ich habe gehört, dass ihr Nachtwache gehalten habt, ihr drei. Junge Leute, die beisammensitzen, um eine schlechte Nachricht zu verarbeiten, also das nenne ich eine gute Idee. Eins macht mir Sorgen: Wenn mich meine eigenen Gedanken hier in der Bäckerei schon so quälen, dann will ich mir gar nicht vorstellen, wie es in Donald aussieht.«
»Cornelia«, antwortete ich. »Du bist die beste Freundin meiner Tante. Du bist doch sicher selber verrückt vor Sorge.«
Sie stellte eine Kanne Kaffee und eine Tasse auf einen Tisch, und ich setzte mich hin. Als Tilda hereinkam, sagte sie: »Ich hab total vergessen, dass ich heute mein Begräbnis in Lorneville habe. Ich hab’s einfach vergessen.«
»Tilda«, wandte Cornelia ein, »ich weiß nicht, ob du jetzt auf ein Begräbnis gehen solltest. Aber du sagst dir wahrscheinlich: Arbeit ist Arbeit.«
»Was immer die Wahrheit über Mutter ist – für mich wird es erst in drei oder vier Stunden die Wahrheit sein, oder wann ich eben zurück bin. Außerdem habe ich es den Drakes versprochen, dass ich komme. Mom sagt immer, als Ehrenmann oder Ehrenfrau hält man seine Versprechen, egal was rundherum auf der Welt passiert.«
»Dann möchtest du wahrscheinlich, dass ich dich nach Lorneville fahre«, sagte ich.
»Es ist eine Mrs. Winslow Ledoyt Drake, die verstorben ist«, erklärte Tilda. »Sie war vierundachtzig und hat alle überlebt, die vielleicht zum Begräbnis gekommen wären. Ihre zwei Töchter in England wurden informiert, aber jetzt im Krieg sitzen sie dort fest, also werden nur ich und Reverend Greene da sein. Hans bleibt hier. Ich habe gemeint, dass er nicht allein sein sollte. Wir haben nicht gestritten, aber er hat auch nicht nachgegeben – und darum, ja, möchte ich dich bitten. Du brauchst gar nicht auszusteigen. Während der Beerdigung kannst du in der Gegend herumfahren, wenn du möchtest.«
Es spricht wahrscheinlich nicht gerade für mich, Marlais, aber ich war froh über die Gelegenheit, mit Tilda allein sein zu können, und auch darüber, dass ich nicht im leeren Haus oder bei meinem Onkel sein musste, der sicher völlig fertig mit den Nerven war. Also sagte ich sofort zu. Tilda trank zwei Tassen Kaffee, und ich schenkte mir ebenfalls eine zweite Tasse ein. »Ich geh jetzt hinauf«, sagte sie, »und zieh mir mein schwarzes Kleid an.«
Eine Viertelstunde später fuhren wir ostwärts durch Bass River und Portapique bis nach Glenholme, wo wir auf eine recht gepflegte Schotterstraße abbogen. Es ging schließlich nach Norden, dann allmählich Richtung Westen, vorbei an Londonderry Station, wo ich langsamer fuhr, um die schmale Schotterstraße nach Lorneville nicht zu verpassen. Das Einzige, was Tilda während der ganzen Fahrt sagte, war: »Also, dieses Kleid ist eigentlich ganz bequem.«
Der Friedhof lag in Sichtweite des Ortes Lorneville. Er war mindestens doppelt so groß wie der Friedhof von Great Village. Das Begräbnis war für zehn Uhr vormittags angesetzt, und wir trafen pünktlich ein. Reverend Greene musste zu Fuß gekommen oder von jemandem hergebracht worden sein, denn es war weit und breit kein anderes Auto zu sehen. Tilda strich ihr Kleid glatt und steckte sich eine Klammer ins Haar. »Also gut, dann gehen wir. Ich fühle mich, als hätte sich seit gestern so viel Trauer und Schmerz in mir angesammelt wie Wasser in einer Regentonne. Ich fürchte, die alte Mrs. Drake wird mit Tränen richtig überschwemmt werden. Aber vielleicht halte ich mich auch zurück, um alles für die Nachricht über Mom aufzusparen. Wir werden sehen.«
Sie versuchte zu lächeln, doch es wollte ihr nicht recht gelingen, und als sie ausstieg, ging ich mit ihr. Ich blieb etwa drei Grabsteine hinter ihr beim Zaun stehen. Reverend Greene trug einen Filzhut und einen schweren Mantel, denn es war kalt und windig, und man hatte das Gefühl, dass es gleich anfangen könnte zu schneien. Tilda hingegen trug keinen Mantel. Wie sich zeigte, war das Grab schon zugeschüttet, aber das spielte ja im Grunde keine Rolle. Als Tilda zu ihm trat, sagte Reverend Greene: »Fangen wir an, Miss Hillyer?« Nachdem er ungefähr zehn Worte aus der Bibel gelesen hatte, blies ihm der Wind den Hut vom Kopf und wirbelte ihn über die Erde und gegen einen Grabstein. Er machte sich nicht die Mühe, ihn aufzuheben. Er sprach kurz über Mrs. Winslow Drakes Leben, das sie Christus, dem Erlöser, ihrer Familie und den Freunden gewidmet habe und auch dem Bemalen der Miniatursegelschiffe, die ihr Mann, Abial Drake, gebaut hatte und die die Kaminsimse in vielen Nachbarhäusern zierten. Reverend Greene sah immer wieder zu mir herüber, vielleicht weil es der Zeremonie einen etwas würdigeren Rahmen verlieh, dass wenigstens drei Leute anwesend waren.
Der Wind heulte über den Friedhof, doch ich verstand trotzdem das meiste, was er sagte, bis hin zum Vaterunser. Nach dem »Amen« fügte Reverend Greene hinzu: »Und, Herr, ich möchte auch ein Gebet für Mrs. Winslow Drakes Töchter Sadie und Vivian sprechen, die mit ihren Ehemännern und Kindern in London leben und jeden Tag neue Bombenangriffe fürchten müssen. Bitte beschütze sie, damit sie eines Tages das Grab ihrer Mutter sehen können und vielleicht ganz nach Neuschottland zurückkehren.«
Er nickte Tilda zu, trat zur Seite, und Tilda begann mit ihrem Beitrag. Ich fragte mich, ob Reverend Greene je eine professionelle Klagefrau bei der Arbeit gesehen hatte. Wie meine Tante gern sagte, machte Tilda selten halbe Sachen, und ihre Totenklage auf dem Friedhof von Lorneville bildete keine Ausnahme. Außerdem wollte sie sich einen Ruf erwerben, und so war das hier eine Chance, Reverend Greene zu beeindrucken. Vielleicht würde er sie in der ganzen Provinz weiterempfehlen. Doch angesichts der düsteren Gedanken an ihre Mutter glaube ich nicht, dass sie ihre berufliche Laufbahn vor Augen hatte, als sie seltsam marionettenhaft mit den Armen gestikulierte, heulte und klagte. Für mich sah es jedenfalls wie ein echter Gefühlsausdruck aus. Als Tilda auf diesem windigen Friedhof eine ihr völlig fremde Frau betrauerte, erinnerte ich mich daran, wie steif ich am Grab meiner eigenen Eltern gestanden hatte, wie unwirklich mir alles erschienen war. Ich hatte vor allem das Bedürfnis zu schlafen gehabt, und ich weiß noch, dass sich der Anzug, den ich trug, viel zu groß angefühlt hatte, obwohl er mir perfekt passte. Mir ist klar, dass solche Vergleiche Unsinn sind, aber dort in Lorneville dachte ich: Meine liebe Tante Constance ist vielleicht gestern Nacht ertrunken – während meine Mutter und mein Vater … Und dann fiel mir ein Lied ein, das die Mädchen in meiner Grundschule beim Seilspringen sangen: »Als das Meer rief: ›Bereue! Bereue!‹, war niemand bereit als das Meer.« Manchmal wiederholten die Mädchen das ›bereue‹ ein Dutzend Mal oder noch öfter. So wie viele dieser Lieder klang es sorglos und unbekümmert, doch es war in Wahrheit ein Trauerlied über einen Schoner, der in einem Sturm unterging und der Witwen, Halbwaisen und leere Gräber auf dem Dorffriedhof zurückließ. Und obwohl die Erinnerung mindestens zwölf Jahre alt war, glaubte ich die Mädchen tatsächlich singen zu hören, und auch das Surren der Springschnur, das Bimmeln der Glöckchen an den Holzgriffen, das Tapsen ihrer Füße auf dem Asphalt des Spielplatzes und ihre Stimmen, die zu einer einzigen Stimme verschmolzen. Als ich aus meiner Erinnerung ins Hier und Jetzt zurückkehrte, sah ich Reverend Greene über Tilda gebeugt, die ohnmächtig auf Mrs. Winslow Drakes Grab lag.
Ich rannte hin, und Reverend Greene sagte: »Sie haben nicht vielleicht Riechsalz dabei?«
Ohne zu überlegen, tätschelte ich Tilda die Wange, immer wieder, bis sie die Augen öffnete und sagte: »Okay, Wyatt, das hat wehgetan, und mir ist kalt.«
»Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte Reverend Greene.
»Ich bringe sie nach Hause«, antwortete ich.
Reverend Greene wusste nicht so recht, was er sagen sollte, er schien es eilig zu haben, von dem Friedhof wegzukommen. Bevor er ging, steckte er mir einen kleinen Umschlag in die Manteltasche. Es war Tildas Honorar. Er hob seinen Hut vom Boden auf, dann marschierte er nach Lorneville. Als Tilda wieder aufstehen konnte, legte ich ihr meinen Mantel um die Schultern und führte sie zum Wagen. Auf dem Rücksitz schlief sie augenblicklich ein.
Zu Hause in Middle Economy ging Tilda sofort ins Bett. Hans kam herunter in die Bäckerei. »Sie schläft jetzt, Wyatt«, sagte er. »Danke, dass du sie heimgebracht hast.«
»Schon okay. Nichts zu danken.«
»Was ist denn mit ihr passiert – was glaubst du?«
»Schwer zu sagen. Sie hat sich sehr reingesteigert.«
»Reingesteigert?«
»Vielleicht haben ihr der Wind und die Kälte da draußen nicht gutgetan. Vielleicht hätte sie einen Mantel anziehen und etwas aufsetzen sollen, Hans, ich weiß es auch nicht. Sie ist sogar ohnmächtig geworden. Jedenfalls hat sie sich ihr Geld redlich verdient, das kann ich dir sagen.«
»Wyatt, weißt du zufällig, wann morgen früh der erste Bus geht?«
»Ich glaube, um 8:40 Uhr.«
»Gut. Ich gehe jetzt wieder rauf.«
»Warum hast du nach dem Bus gefragt?«
»Es ist vielleicht nicht schlecht, für eine Weile wegzufahren.«
»Wohin?«
»Ich habe mir gedacht, Prince Edward Island. Ich hab’s mir auf der Karte angesehen.«
»Hans, ein U-Boot hat gerade eine Fähre mit Zivilisten in der Northumberland Strait angegriffen – dort liegt auch Prince Edward Island. Ich glaube, die Erinnerung daran ist noch ziemlich frisch bei Tilda. An deiner Stelle würde ich mir die Karte noch mal ansehen.«
»Ja. Verstehe. Ich geh jetzt rauf.«
Ich fuhr mit einem ziemlich unguten Gefühl weg, doch dann bemerkte ich den Umschlag mit Tildas Geld in meiner Manteltasche. Ich drehte um, kehrte zur Bäckerei zurück und hinterließ den Umschlag bei Cornelia, mit der Bitte, ihn an Tilda weiterzugeben. Dann fuhr ich sehr langsam nach Hause. Als ich ankam, sah ich drei Autos vor dem Haus stehen. Ich trat ein und hörte sogleich das Radio: »… und welche heroischen Maßnahmen notwendig sind angesichts dieser Verbrechen …« Einige Augenblicke herrschte nur Rauschen. »… das Minensuchboot Grandmère, das die Fähre eskortierte, suchte die Umgebung nach Überlebenden ab. Die wenigen Glücklichen erzählten von den Schreien und Hilferufen, die sie in der Dunkelheit gehört hatten …« Wieder wurde die Stimme von Rauschen unterbrochen.
Fluchend drehte mein Onkel am Sendersuchrad, doch das Rauschen blieb. Er wandte sich den anderen Männern am Tisch zu und sagte mit einem grimmigen Lächeln: »Ihr habt es wahrscheinlich nicht gewusst, aber meine Constance konnte nicht schwimmen.«
Dann sah er mich und stellte das Radio augenblicklich leiser. Er sah aus, als hätte er sich mindestens eine Woche nicht mehr rasiert. Er trug dieselben Kleider wie am Tag zuvor in Steven Parishs Werkstatt. Auf dem Tisch stand eine Flasche Whiskey. »Wir haben hier beim Radio unser Lager aufgeschlagen«, sagte er. »Wo sind deine Manieren, Wyatt? Willst du unseren Gästen nicht die Hand schütteln?«
Simon Perkins, der ein Hummerboot namens Sprightly besaß, stand auf, und wir schüttelten uns die Hände. Ich begrüßte auch Warren Heddon, den Inhaber und Koch des Glooskap Restaurants in Parrsboro, über den mir mein Onkel einmal erzählt hatte: »Ich und Warren, wir frühstücken seit über dreißig Jahren sonntags zusammen, und nicht ein Mal sind wir zu spät gekommen, um unsere Frauen und Kinder von der Kirche abzuholen und den Rest des Sonntags mit ihnen zu verbringen. « Dann schüttelte ich Miller Shiers die Hand, einem Maler und Anstreicher, der es geschafft hatte, Reverend Witts Kirche in nur drei Tagen zu streichen; dabei arbeitete er zwei Nächte durch, ohne zu schlafen, indem er Laternen an die Leiter hängte. Es gab keinen besonderen Grund, sich so zu beeilen, außer dass er es sich einfach in den Kopf gesetzt hatte. Schließlich begrüßte ich Gus Breel, der als Polizist für elf Ortschaften in der Gegend zuständig war. Er war in Upper Economy zur Welt gekommen und hatte in seinen sechsundfünfzig Lebensjahren nur in Upper Economy, Middle Economy und Lower Economy gelebt – und in jedem der Orte hatte er eine Ehe und eine Scheidung hinter sich. »Eigentlich sollten sie einen Ort nach Gus Breel benennen«, hatte Cornelia einmal gemeint. »Dann gäbe es Upper Economy, Middle Economy, Lower Economy – und Gus zu Ehren auch noch den Ort Just Plain Broke.«
Ich blickte in die Runde, die sich um unseren Küchentisch versammelt hatte. »Ich glaube, seit Tildas achtzehntem Geburtstag sind nicht mehr so viele Leute im Haus gewesen«, sagte ich.
»Genug nette Konversation«, meinte Donald. »So wie die Dinge liegen, beschäftigt uns weniger, wer alles hier ist, sondern wer nicht hier ist.«
Einige Augenblicke war es still im Raum. Dann stand Warren auf. »Also, Donald«, sagte er, »wir wollten einfach mal vorbeischauen. « Die anderen nickten zustimmend. Warren, Miller, Simon und Gus gingen einer nach dem anderen hinaus. Ich hörte ihre Autos starten.
»In unserer letzten Nacht zusammen hat Constance bei mir in der Werkstatt geschlafen«, sagte mein Onkel. »Also, wenn das nichts ist, dann weiß ich auch nicht.«
Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Mein Onkel stand auf und hob beim dritten Läuten ab. Er sagte nicht Hallo. Ich konnte die Stimme am anderen Ende fragen hören: »Ist das der Wohnsitz einer Mrs. Constance Bates-Hillyer?« Mein Onkel ging zur Arbeitsplatte, bis das Kabel gespannt war, das Gesicht dem Küchenschrank zugewandt. Ich setzte mich an den Tisch.
»Ja, hier spricht ihr Mann, Donald Hillyer«, sagte er in den Hörer.
Marlais, ich kann dir sagen, in meinem Kopf hat sich alles gedreht. Ich wollte nichts hören, gar nichts, und dann hörte ich: »… also, Secretary Macdonald, nur weil der Schrankkoffer von meiner Constance geborgen wurde, heißt das doch noch nicht …« Mein Onkel hörte einige Augenblicke zu, dann stöhnte er tief und wankte rücklings gegen den Küchentisch, bis er schließlich zu Boden sank. Er blickte zu mir auf. »Neffe, es ist der Marineminister Macdonald persönlich. Er hat mir mitgeteilt, dass Constance offiziell zu den Vermissten zählt.«
Mein Onkel horchte auf, als er eine andere Stimme in der Leitung hörte, und er drückte den Hörer fest ans Ohr. »… nicht der geringste Zweifel«, sagte er. »Verstehe.« Er stand auf, lehnte sich an den Tisch, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und gab mir den Telefonhörer. Ich legte auf.
Mein Onkel setzte sich an den Tisch. »Wir sind nie zusammen in ein Walk-in-Cinema gegangen«, sagte er. »Und das letzte Mal, dass wir nach Halifax fuhren … wann war das? 1939, glaube ich. März 1939, zwei Nächte im Hotel Dumont, inklusive Frühstück, und man konnte in der Lobby sitzen, so lange man wollte. Als ich ein Nickerchen machte, hat Constance heimlich eine Tanzstunde beim hauseigenen Lehrer genommen – Foxtrott, in ihrem Alter! Ich weiß, das klingt eigentlich gar nicht nach deiner Tante Constance, aber sie hat gewusst, dass ich zum Tanzunterricht nicht mitgegangen wäre. Außerdem brauchte ich meinen Schlaf. Ich hab sie gefragt, wie viel Foxtrott man in einer Stunde lernen kann. ›Einiges, wie sich gezeigt hat‹, sagte sie ein wenig schnippisch. Wir aßen im Hotel zu Abend und hatten nichts Besonderes vor. Das Kino lag nur drei Blocks vom Hotel entfernt. Ich weiß wirklich nicht, warum wir nicht rübergegangen sind und uns einen Film angesehen haben.«
Ich spürte irgendwie, dass dieses wehmütige Zurückblicken nur eine kurze Phase der Ruhe bei ihm war. Sie würde nicht lange anhalten.
»Onkel Donald, können sie Tante Constances Koffer zurückschicken? « Ich weiß auch nicht, warum ich das sagte, aber es war das Einzige, was mir einfiel.
»Also, Wyatt, das ist wirklich ein Glück in dem Ganzen«, meinte er. »Der Assistent von Navy Secretary Macdonald hat mir nämlich versprochen, dass der Schrankkoffer mit dem Bus hier ankommen wird.«
»Ein Andenken«, sagte ich. »Für Tilda.«
»Ich glaube, ich geh jetzt am besten rüber in meine Werkstatt. Ich werde ein paar Bretter schmirgeln. Dabei kann ich gut nachdenken. Außerdem hab ich ja mein Radio drüben, wie du weißt.«
»Ich würde auch gern bei dir arbeiten, Onkel Donald.«
»Weißt du, was ich glaube? Es ist möglich, dass meine Constance in alle Ewigkeit nicht gefunden wird. Ich meine, wir sollten heute Abend die Familie zusammentrommeln. Kannst du Tilda und ihren Mann für mich einladen?«
»Onkel Donald«, sagte ich, »weißt du, was Hans Mohring gemacht hat? Er hat aus eigener Tasche ein neues Exemplar von fast allen Grammofonplatten gekauft, die du zerbrochen hast. Er hat sie im Ballade & Fugue gekauft.«
»In dem deutschen Schallplattenladen?«
»Nein, Sir, das stimmt nicht – lies doch in dem Zeitungsartikel nach, Onkel Donald. Der Inhaber des Geschäfts, den diese RCN-Typen zusammengeschlagen haben, heißt Randall Webb und ist kein Deutscher.«
»Aber er hat sich mit ihnen abgegeben.«
»Du magst Beethoven – und Randall mag Beethoven … «, erwiderte ich. »Onkel Donald, bitte hör zu, was ich dir zu sagen habe. Das Wichtige ist, dass Hans die einzelnen Stücke zusammengeklebt hat, um herauszufinden, welche Platten es waren. Vielleicht wollte er irgendwie auch Tante Constance damit eine Freude machen. Aber er hat ausdrücklich gesagt, dass er’s getan hat, um die Dinge mit dir ins Reine zu bringen.«
»Wo sind diese Grammofonplatten?«
»In der Wohnung, wo er mit Tilda lebt.«
»Nun, ich sehe jetzt manches ein bisschen anders. Also gut, Hans Mohring kommt mit den Schallplatten, um die Dinge ins Reine zu bringen. Und Tilda sollte auch dabei sein. Ihre Mutter ist nicht mehr da, Wyatt.«
»Tilda weiß es noch nicht. Sie hat auf eine Nachricht gewartet, so wie du. Sie weiß nicht, dass Secretary Macdonald angerufen hat.«
»Weißt du, was das Beste ist, das ich für Tilda tun kann, nachdem sie gerade erst geheiratet hat? Ich sollte meinem Schwiegersohn den Kopf geraderücken. Vielleicht sollten er und Tilda nach Montreal gehen. Oder sonst wohin. Abwarten, bis der Krieg aus ist, und er könnte sagen, sein Akzent sei schwedisch oder dänisch. Du hast ja gehört, was sie im Radio gesagt haben – dass heroische Maßnahmen notwendig sind. Ich glaube, es ist meine Pflicht als Schwiegervater, ihn darauf hinzuweisen, dass Deutsche momentan gefährlich leben in Neuschottland. Siehst du, dann ist es ein Geben und Nehmen. Er gibt mir die Grammofonplatten … ich sag Danke und gebe ihm einen vernünftigen Rat.«
Ich fuhr gleich zur Bäckerei und ging direkt nach oben. Hans und Tilda waren gerade dabei, ihre Koffer zu packen.
»Navy Secretary Macdonald hat gerade Donald angerufen«, berichtete ich. »Tante Constance kommt nicht mehr heim.«
»Ich hab’s gewusst«, sagte Tilda. »Tief in mir drin hab ich’s gewusst.« Sie und Hans umarmten sich, aber Tilda löste sich abrupt von ihm. »Ich muss zu meinem Vater.«
»Ja, er ist jetzt Witwer«, warf Hans ein.
»Er will dich auch sehen, Tilda«, sagte ich. »Ja, er möchte, dass wir alle heute Abend rüberkommen, du und ich und Hans. Hans soll die Grammofonplatten mitbringen.«
»Du hast es ihm erzählt?«, fragte Hans.
»Ich hab ihm gesagt, warum du sie gekauft hast, Hans.«
»Wir nehmen den ersten Bus morgen früh«, sagte Tilda. »Es ist am besten so.«
»Warum?«, fragte ich. »Wie meinst du das – am besten?«
»Die Leute in Middle Economy sind gute, freundliche Leute, im Großen und Ganzen. Aber sie kennen Hans nicht.«
»Dafür lebt er auch noch nicht lang genug hier.«
»Das kommt aufs Gleiche raus, Wyatt«, beharrte sie. »Es ist niemand schuld. Sie kennen ihn einfach nicht. Sie kennen uns noch nicht als Ehepaar. Und jetzt das. Reverend Witt wird es sicher in seiner Predigt erwähnen, dass meine Mutter von einem deutschen U-Boot getötet wurde.«
»Ich will nicht, dass irgendjemand hier ein Problem damit hat, dass ich da bin«, meinte Hans.
»Hörst du nicht Radio, Hans? Es ist momentan überall so, auf der ganzen Welt!«, erwiderte ich. »Die Probleme gibt’s überall.«
»Sei still, Wyatt. Sei einfach still«, warf Tilda ein. »Hör zu, Hans hat einen Freund von der Uni aus Vancouver. Er hat sein Studium voriges Jahr abgeschlossen. Hans hat ihn angerufen, und er nimmt uns bei sich auf.«
»Vancouver – am anderen Ende von Kanada«, antwortete ich.
»Ja, Wyatt, dort liegt Vancouver«, sagte Tilda.
»Gut, gut, gut, ich verstehe schon, wie ihr euch das vorstellt. Trotzdem …«
»Wir haben jeden Penny zusammengekratzt«, fuhr Tilda fort, »und es reicht gerade so, oder fast.«
»Okay. Ich fahre euch zum Bus«, sagte ich. »Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr heute Abend zu uns rüberkommt. Herrgott, ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll und was eigentlich los ist.«
»Die Welt spielt verrückt«, entgegnete Tilda. »Das ist los.«
»Und dass ihr wegwollt – habt ihr euch das gut überlegt?«
Tilda seufzte tief und sagte: »Die Fahrt mit dem Bus bis Vancouver dauert zwei Wochen und fünf Tage. Wir müssen oft umsteigen. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich dir von unterwegs eine Postkarte schicke, Wyatt, aber du erhältst ganz sicher eine, wenn wir da sind.« Sie ging ins Schlafzimmer, und ich sah sie die einzelnen Kleidungsstücke im Schrank begutachten. Jedes Stück, das sie herausnahm, wurde wieder sauber zusammengelegt, egal ob es zurück in den Schrank kam oder in ihren Koffer. Und ich dachte: wie die Mutter, so die Tochter.
Ich ging nach unten und berichtete Cornelia, dass Constance nicht mehr zurückkehren würde. Wir setzten uns alle zusammen zu Sandwiches und Tee, vermieden es aber, über die Dinge zu reden, die uns alle beschäftigten. Cornelia räumte die Teller ab. »Tilda«, sagte Hans schließlich, »ich würde gern allein zu deinem Vater rübergehen, wenn das möglich ist.«
»Dann setz du dich eine Weile zu mir, Tilda«, meinte Cornelia. »Wir besprechen alles.«
»Aber höchstens eine Stunde, nicht mehr«, betonte Tilda. »Und da gibt es nichts zu diskutieren. In einer Stunde bin ich auch da.«
»Gehen wir doch gemeinsam zu Fuß hinüber, Hans«, schlug ich vor. »Ich lasse das Auto für Tilda da.«
»Gut«, antwortete Hans. »Gut. Ich hole nur schnell die Grammofonplatten, dann können wir los.«
Ich nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach meines Autos. Als Hans wieder da war, die Schallplatten in zwei Hemden eingewickelt, machten wir uns auf den Weg. Das Wetter war typisch Oktober – es regnete und war empfindlich kalt. Hans steckte sich die Schallplatten unter den Mantel. Unsere Haare wurden sofort nass. »Na, es ist ja nicht so weit«, meinte ich. Der Lichtstrahl der Taschenlampe war wie ein Tunnel vor uns, durch den schräg der Regen fiel. Wir lehnten uns in den Wind und marschierten so zügig, wie es möglich war. Als wir zum Haus kamen, legte mir Hans plötzlich den Arm um die Schulter und sagte etwas, das ich aber nicht verstand. »Was?«, rief ich.
Hans hielt die Hände an mein Ohr und sagte: »Heute ist es genauso wie in der Nacht, als Tilda unser Kind empfangen hat. Sie ist sich ganz sicher, welche Nacht es war. Wir waren draußen auf der Straße und sahen die Bibliothek. Tilda hatte einen Schlüssel, also flüchteten wir uns vor dem Wetter hinein. Es war schon Morgen, als wir wieder gingen.«
Hans überquerte die Straße zu unserem Haus, und so konnte ich nichts mehr darauf sagen oder auch nur die Neuigkeit verarbeiten. Ich beeilte mich, mit ihm Schritt zu halten. Drinnen brannten ein paar Lichter. Der dicke graue Rauch, der aus dem Schornstein drang, wurde verweht und verschwand in der Dunkelheit. Hans wartete auf der Veranda, und als ich bei ihm war, öffnete ich die Haustür, hörte das Radio und trat ein. »Onkel Donald?«, rief ich.
Hinter mir hörte ich eine Stimme sagen: »Du schlafwandelst nicht zufällig gerade, Hans?«
»Nein, Sir, tu ich nicht«, antwortete Hans lachend. »Warum sollte ich?«
Ich drehte mich um und sah meinen Onkel. Er war unbemerkt um die Hausecke gekommen. Hans hatte sich nicht nach meinem Onkel umgedreht, er lächelte und begann seinen Mantel aufzuknöpfen, zweifellos um die Grammofonplatten herauszuholen. In diesem Moment schlug mein Onkel mit einer Schlittenkufe zu und traf Hans mitten auf den Kopf. Es war ein furchtbar dumpfes Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte.
Der eine Schlag war genug. Hans brach auf der Stelle zusammen. Er hatte eine tiefe klaffende Wunde, das Blut vermischte sich mit dem Regen in seinem Haar, und wie mein Onkel so dastand, ganz gebannt von dem, was er selbst getan hatte, schlug ich ihm mit der Faust gegen die Stirn. Als ich noch einmal ausholte und ihn beim linken Auge traf, ließ er endlich die Kufe fallen. Ich hob sie auf und schlug sie meinem Onkel gegen die Knie, und er wankte, fiel aber nicht. Er stolperte ein paar Schritte zurück, kaum mehr fähig, das Gleichgewicht zu halten. »Ich wollte es nicht von hinten tun, das wollte ich nicht«, sagte er.
»Du wolltest ihm ins Gesicht sehen, ist es das, was du wolltest, Onkel Donald? Was hat dir Hans Mohring getan?«
Ich wankte die Verandastufen hinunter. Dann übergab ich mich und ließ die Kufe fallen. Weder mein Onkel noch ich hoben sie wieder auf. Ich lehnte mich gegen die Hauswand und kotzte mir die Seele aus dem Leib, und ich konnte nur eines denken: Tilda hätte das sehen können …
Ich ging zurück auf die Veranda. Hans lag auf dem Rücken, sein Gesicht ganz bleich im Licht der Verandalampe. Er stöhnte und röchelte, Blut schäumte auf seiner Zunge und lief ihm über das Kinn, sein rechter Arm zuckte, sein Mund ging auf und mit einem schmatzenden Geräusch wieder zu, zweimal, dreimal, so als würde er versuchen, Regentropfen aufzufangen. Mein Onkel griff in seine Gesäßtasche und zog einen Revolver aus dem Ersten Weltkrieg heraus. Er presste Hans den Lauf an die Brust und sagte: »… sei seiner Seele gnädig«, dann drückte er ab. Der Schuss wurde von Hans’ Mantel und den Grammofonplatten gedämpft. Ein Ruck ging durch Hans hindurch, sein Rücken krümmte sich, dann sackte er auf die Veranda zurück – und auch ich, der ich noch nie einen Toten gesehen hatte, außer im Sarg, wusste, dass Hans Mohring tot war.
Mein Onkel warf den Revolver auf den Boden. Er schlug mir mit der flachen Hand hart ins Gesicht und sagte: »Reiß dich zusammen, Neffe!«
Alles schien wie in einem Traum abzulaufen, in dem Dinge passieren können, die gegen jede Vernunft sind, und in dem man etwas erlebt und gleichzeitig von ferne zusieht. »Hol eine Plane aus der Werkstatt, Neffe, damit wir ihn einwickeln können«, forderte mich Donald auf.
Und ich tat, was er verlangte, ich lief in die Werkstatt, griff mir eine zusammengerollte Plane aus der Ecke und trug sie auf der Schulter zur Veranda. Mein Onkel nahm sie mir ab und rollte sie im Esszimmer aus. »Jetzt legen wir ihn genau in die Mitte«, sagte er.
Er fasste Hans unter den Schultern, ich ihn an den Knöcheln, und so schleppten wir ihn ins Esszimmer und legten ihn auf die Plane. Ich beugte mich hinab, fasste unter den Mantel und nahm die Grammofonplatten heraus. Ich legte das Paket auf einen Stuhl, dann wickelten wir Hans in die Plane. Mein Onkel zog das geblümte Tischtuch herunter und drehte es zu einer Art Seil zusammen, mit dem er die Plane oben zusammenband. Dann zog er seinen Gürtel aus der Hose und band ihn um das untere Ende der Plane. Ich konnte noch die Sohlen von Hans’ Schuhen sehen.
»Ich fahr den Wagen vor«, sagte mein Onkel. Ich wusste nicht genau, was er vorhatte. »Der Regen wird die Veranda sauberwaschen, aber das Blut im Haus solltest du mit einem Lappen wegwischen.«
Ich holte den Feudel und einen Eimer aus der Vorratskammer, füllte den Eimer mit Wasser und gab etwas flüssige Seife dazu. Dann wischte ich das Blut weg, soweit ich es in dem schwachen Licht erkennen konnte. Es ging alles so schnell, dass ich kaum zum Nachdenken kam. Ich leerte den Eimer aus, wusch den Lappen in der Küchenspüle aus und stellte alles zurück in die Vorratskammer. Draußen hörte ich schon den Wagen meines Onkels. Er hatte ihn direkt vors Haus gefahren.
Mein Onkel stieg aus und ging noch einmal in die Werkstatt. Er kam mit einem Toboggan-Schlitten ohne Kufen zurück und stellte ihn auf die Veranda. »Legen wir ihn drauf«, sagte er. Wir trugen Hans Mohring aus dem Haus und legten ihn auf den Schlitten. Mein Onkel holte ein Seil aus seinem Pick-up, und wir banden den Toten an den Schlitten, den wir dann auf die Ladefläche hoben. Ich stieg ins Führerhaus, mein Onkel ebenso. Wir fuhren, ohne ein Wort zu wechseln, direkt zum Hafen von Parrsboro.
»Wir nehmen Leonard Marquettes Boot«, sagte Donald, als wir zum Kai kamen. »Er wird nichts dagegen haben. Absolut nichts.«
Jetzt begriff ich, dass mein Onkel vorhatte, Hans Mohring zu versenken. Ich nahm an, er wollte mit dem Schlitten im Boot hinausfahren und ihn, sobald wir weit genug draußen waren, ins Meer gleiten lassen. Doch mein Onkel hatte einen anderen Plan; er bestand darauf, dass wir den Schlitten über die Leiter am Kai ins Wasser ließen. Dann schnitt er mit einem Klappmesser einen Rettungsring von seiner weißen Leine und befestigte den Schlitten mit dieser Leine am Boot. Ich stieg ins Boot und ging ans Heck. Der Schlitten schaukelte sanft auf dem Wasser und schlug gegen die verkrusteten Holzpfähle. Mein Onkel ging zum Ruderhaus, ließ den Motor an, schaltete die Positionslichter ein und lenkte das Boot langsam durch den Nebel und die Dunkelheit in das Minas Basin hinaus.
Ich glaube, es verging eine halbe Stunde, bevor ich zum Ruderhaus ging. »Wir sind fast am Cape Split«, sagte mein Onkel. »Noch fünf Minuten, dann stelle ich den Motor ab, gehe aber nicht vor Anker. Und wir tun, was getan werden muss.«
»Was glaubst du denn, Onkel Donald?«, fragte ich. »Dass Tilda denkt, Hans wäre beim Schwimmen ertrunken?«
»Nein, ich werde mich stellen und alles gestehen. Doch zuerst fühle ich mich verpflichtet, diesen deutschen Kerl auf den Grund hinunterzuschicken.«
»Der deutsche Kerl, den du gerade ermordet hast, ist Tildas Ehemann. Wem gegenüber bist du verpflichtet?«
»Ist Hans Mohring plötzlich dein bester Freund? Kotz über die Reling, Wyatt, wenn es dich so anwidert.«
Der Leuchtturm von Cape Split ließ seinen Lichtstrahl schweifen, doch er reichte nicht ganz bis zu unserem Boot. Ungefähr fünfzig Meter entfernt sah ich eine Schar schlafender Enten. Das Nebelhorn des Leuchtturms funktionierte so, wie es sollte. Unter anderen Umständen hätte man sich hier draußen auf dem Meer ruhig und friedlich fühlen können. Man hätte vielleicht ein paar Stunden geschlafen und dann die Hummerfallen oder die Fischernetze ausgelegt, und wenn die Nacht zu Ende ging, hätte man sich davon überraschen lassen, in welchen Farben das Licht der Morgendämmerung am Horizont auftauchte. Es wäre ein normaler Tag in diesem Teil der Welt gewesen, man hätte über Funk mit seiner Frau geplaudert, vorausgesetzt, es gab ein Funkgerät zu Hause, was in Parrsboro und anderen Küstenorten der Umgebung recht geläufig war. Man wurde nicht von Nachrichten vom Krieg verfolgt, die einzigen Meldungen waren Dinge wie »… sieh zu, dass du’s bis zum Abendessen schaffst, weil heute Abend die Feier zu Emmeline Bellingers erstem Geburtstag ist.«
»Tun wir das nicht, Onkel Donald«, sagte ich. »Was sind wir denn? Bringen wir ihn zurück. Bringen wir ihn heim.«
»Wir haben nicht genug Sprit, um es bis rüber nach Deutschland zu schaffen, Neffe«, erwiderte er mit einem bitteren Scherz. »Außerdem, denk an die vielen U-Boote da draußen. Nein Sir, ich fürchte, Herr Mohring kriegt ein nasses Grab hier in der Gegend.« Er blickte zurück zu der Fracht, die wir im Schlepptau hatten. »… und dann geh ich ins Gefängnis für den Rest meines Lebens.«
Draußen in der Bay of Fundy stellte er den Motor ab. Ich sah Nebel vor unseren Positionslichtern wirbeln, doch ansonsten – nichts. »Hol eine Taschenlampe aus dem Regal dort drüben«, sagte mein Onkel. Ich fand die Lampe und folgte ihm vom Ruderhaus nach hinten ans Heck. »Leuchte hin, damit ich die Leine finde.« Er klappte sein Messer auf, schnitt die Leine durch, und wir sahen zu, wie der Schlitten davontrieb. »Hier draußen trägt es ihn sicher weit hinaus aus der Bucht. Es kann aber auch jederzeit sein, dass er sinkt. Jedenfalls haben wir gerade genug Benzin an Bord, um wieder nach Hause zu kommen.«
»Holen wir ihn mit dem Haken zurück«, sagte ich. »Onkel Donald – was sind wir denn?«
»Ich könnte es nicht ertragen, dass meine Tochter an seinem Grab weint.«
Mein Onkel ging zurück zum Ruderhaus. Ich stand die ganze Zeit am Bug, während wir nach Parrsboro zurückkehrten.
Tilda hatte meinen Wagen vor dem Haus abgestellt. Kein einziges Licht brannte. Als mein Onkel und ich ins Esszimmer traten, saß Tilda am Tisch. Eine brennende Kerze stand in einem Messing-Kerzenhalter. Tilda trug ein schwarzes Kleid. Auf dem Grammofon lief ein Streichquartett von Beethoven. Plötzlich ertönte ein schreckliches Kreischen, als die Nadel auf das Einschussloch traf. Die Nadel sprang weiter und wiederholte eine Passage immer wieder und wieder. Tilda hatte die beiden Hemden zusammengefaltet, in die Hans die Grammofonplatten gewickelt hatte, und sie neben der Schlittenkufe auf den Tisch gelegt. Mein Onkel und ich standen in der Tür und starrten die blutigen Gegenstände an, die genau da lagen, wo die Familie so oft zusammen gegessen hatte.
»Pop, du hast noch nie – nicht ein Mal – einen Boden in diesem Haus aufgewischt«, sagte Tilda mit angespannter Stimme, so als würde ihr das Sprechen allein schon furchtbare Schmerzen bereiten. »Mutter war die Einzige, die je einen Boden in diesem Haus aufgewischt hat. Und doch ist er frisch gewischt, oder?«
Sie hatte die Hände unter dem Tisch gehabt, doch jetzt hob sie sie und richtete den Revolver auf ihren Vater. Dann auf mich. Dann setzte sie den Lauf an ihre Schläfe. »Wo ist mein Mann?«