VON LINKS NACH RECHTS WIE EIN BUCH
»Okay. Okay«, sagte mein Onkel. Er ging langsam auf Tilda zu, dann versuchte er ihre Finger zu öffnen und den Revolver herauszunehmen. Sie wehrte sich nicht heftig, doch sie ließ die Waffe auch nicht los. Er packte sie am Handgelenk und zog ihre Hand zur Kerze, bis die Flamme ihre Haut berührte. »Oh!«, stieß sie kurz hervor und ließ los. Mein Onkel legte den Revolver neben das Grammofon und nahm den Tonarm von der Schallplatte.
Tilda starrte mich an. »Wyatt«, sagte sie fast im Flüsterton, »wo ist Hans?« Mein Onkel schob mich energisch zur Tür hinaus, während Tilda nun schrie: »Wo ist mein Mann? Wo ist mein Mann?« Donald und ich stiegen wieder in seinen Wagen ein. Als wir ein kurzes Stück gefahren waren, drehte ich mich um und sah Tilda vor dem Haus. Sie war auf die Knie gesunken.
Eine zusammengefaltete Zeitung fiel aus dem offenen Handschuhfach in meinen Schoß. Die Titelseite zeigte ein Foto, auf dem Dutzende Koffer in Sydney ans Ufer gespült wurden. Man sah, dass es regnete. Zwei Männer zogen die Koffer mit langen Haken an Land. IN SYDNEY, NS, WIRD GEPÄCK DER CARIBOU-OPFER AN LAND GESPÜLT.
»Heute habe ich meine Frau und meine Tochter verloren«, sagte mein Onkel.
Ich musste hinübergreifen und den Scheibenwischer einschalten.
Wir fuhren geradewegs zur Polizeiwache in Truro. Dort berichtete er alles dem diensthabenden Beamten. »Also, so etwas habe ich hier noch nie erlebt«, meinte der Polizist. »Zwei Männer kommen daher wie aus dem Nichts. Mord und Beihilfe zum Mord, würde ich sagen. Aber am besten überlassen wir die Sache dem Friedensrichter. Gibt es auch ein Fahrzeug?«
»Mein Wagen steht draußen«, antwortete mein Onkel.
»Schlüssel?«
»Auf dem Sitz«, sagte mein Onkel.
»Ich bringe Sie beide in eine Zelle. Möchten Sie irgendwen anrufen?«
»Nein, Sir«, sagte ich.
Und so, Marlais, wurde am 23. Oktober 1942 in der Bibliothek von Middle Economy eine Verhandlung vor dem Friedensrichter abgehalten. Es hatte schon eine gewisse bittere Ironie, dass sich Friedensrichter Dean Junkins, der am 18. Oktober aus Halifax hergeschickt worden war, ausgerechnet in den Räumen über der Bäckerei einquartierte. Cornelia Tell hatte aufgeräumt und alles frisch hergerichtet. Tilda hatte ihre Sachen und die von Hans gepackt und war wieder ins Haus eingezogen. Ein gewisser Bernard Remmick, Beamter der RCMP, der Royal Canadian Mounted Police, hatte Donald und mich um neun Uhr vormittags zur Bibliothek gefahren. In der Zeitung sprachen sie von einer »grünen Minna«, aber es war kein Gefängniswagen, sondern ein ganz normales Auto. Die Mail schrieb außerdem, dass es sich um ein »Ermittlungsverfahren wegen des Mordes an dem deutschen Studenten Hans Mohring« handle, doch wie sich herausstellte, wurden die Ermittlungen mit dieser Verhandlung am 23. Oktober auch schon wieder abgeschlossen. Da mein Onkel ein volles Geständnis ablegte, war die Sache damit erledigt. Ich glaube, dass Friedensrichter Junkins noch rechtzeitig zum Abendessen zu Hause war.
Am Morgen des Dreiundzwanzigsten goss es wie aus Kübeln. Mindestens hundertfünfzig Leute drängten sich in der Bibliothek. Sie waren aus allen Economys gekommen, aus Great Village, Bass River, Five Islands und Glenholme. Cornelia Tell hatte meinem Onkel und mir unsere Anzüge nach Truro gebracht, und wir zogen sie zur Verhandlung an.
Es begann pünktlich um neun Uhr. Obwohl die Situation so ernst war, wirkte es fast ein wenig komisch, wie peinlich meinem Onkel das Ganze zu sein schien. Da waren all die Leute, die er schon sein Leben lang kannte, doch er konnte keinem von ihnen in die Augen sehen. Er zappelte unruhig herum und strich immer wieder seine schwarze Krawatte glatt, bis der Friedensrichter, der an einem Tisch neben dem Zeugenstuhl (einem Sessel aus Cornelias Bäckerei) saß, schließlich sagte: »Mr. Hillyer, ich eröffne hiermit die Verhandlung. Sie können jetzt Ihre Aussage machen.«
Es war augenblicklich still in der Bibliothek. Mein Onkel nahm einen Schluck Wasser, räusperte sich, sah Tilda an, die ziemlich weit vorne saß, aber nicht in der ersten Reihe, dann stand er auf, um seine handgeschriebene Aussage abzulesen. Ich hatte gesehen, wie er in der Zelle daran gearbeitet hatte.
»Sie müssen sich nicht erheben«, machte ihn Friedensrichter Junkins aufmerksam.
»Ich würde lieber nicht stehen«, sagte mein Onkel.
»Dann setzen Sie sich«, forderte ihn der Friedensrichter auf.
Mein Onkel setzte sich hin und las: »Wir nennen manche Dinge einen furchtbaren Unfall, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass wir dafür verantwortlich sind. Wir sprechen von einem furchtbaren Unfall, aber das trifft nicht auf das zu, was ich getan habe. Überhaupt nicht. Es war kein Unfall, und darum ist Rettung oder Erlösung in diesem Fall viel schwerer möglich.«
Der Friedensrichter seufzte ungeduldig. »Sie müssen hier keine religiösen Überzeugungen oder persönliche Gedanken äußern, Sir.«
Doch mein Onkel schien den Einwand nicht zu beachten. »Und wenn man bereit ist, der Wahrheit ins Auge zu sehen«, fuhr er fort, »kann man die Dinge auch ganz klar benennen. Hans Mohring war erst einundzwanzig Jahre alt. Er wollte Philologe werden. Darf ich im Wörterbuch dort im Regal nachschlagen? «
»Sie dürfen«, antwortete Junkins.
Mein Onkel knöpfte die drei Knöpfe seines Anzugjacketts zu, als würde er in die Kälte hinausgehen, dann trat er zu einem der Regale, griff sich das ziemlich abgenutzte Webster’s Dictionary und ging damit zurück zum Zeugenstuhl. Er nahm das lederne Lesezeichen heraus und legte es auf den kleinen Tisch vor ihm. »Und ›Philologie‹ wird folgendermaßen definiert …«, sagte er.
Weißt du, Marlais, ich hatte meinen Onkel noch nie das Wort folgendermaßen sagen hören. »›Philologie: Bezeichnung für die Sprach- und Literaturwissenschaft einer Sprache.‹ Und Philologie bedeutet noch etwas anderes: ›Die Liebe zum Wort, aber auch zur Literatur und Wissenschaft.‹ Dieser deutsche Student interessierte sich für Philologie. Meine Tochter hat mir erzählt, dass sie sich auf der Busfahrt von Halifax, wo sie sich kennengelernt haben, über Philologie unterhalten haben. Und so erkläre ich so deutlich, wie man nur etwas erklären kann: Ich, Donald Hillyer, gestehe, dass ich den deutschen Studenten Hans Mohring ermordet habe. Außerdem gestehe ich, dass ich davor am selben Abend meinen Neffen Wyatt Hillyer, der hier vorne sitzt … dass ich ihn gebeten habe, Hans Mohring zu mir nach Hause einzuladen. Wyatt hatte keine Ahnung von dem, was ich vorhatte. Hans Mohring und meine Tochter hatten geheiratet, und Hans wollte sich irgendwie mit mir aussprechen … und übrigens, die Ehe wurde rechtmäßig von Reverend Plumly in Advocate geschlossen. Als Hans Mohring die Veranda betrat, schlug ich ihn mit einer Schlittenkufe nieder und schoss ihm dann mit meinem Revolver in die Brust. Ich weiß nicht, wie man es noch einfacher und klarer ausdrücken soll.«
Mein Onkel faltete seine Aussage zusammen, dann stand er auf, wahrscheinlich verwirrt, weil er gedacht hatte, er würde stehen und müsse sich nun hinsetzen. Hier und dort hörte man Gelächter im Raum, worauf der Friedensrichter sagte: »Ich kann nichts Komisches erkennen in dem, was Mr. Hillyer gesagt oder getan hat.« Es wurde wieder still im Raum, und mein Onkel setzte sich.
»Haben Sie irgendetwas hinzuzufügen?«, fragte Junkins.
»Nein«, antwortete mein Onkel.
»Dann ist es Zeit für meine Fragen.«
Friedensrichter Junkins warf einen Blick auf seine Notizen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass viele von denen, die an diesem Tag in der Bibliothek waren, noch nie einen Friedensrichter bei der Arbeit gesehen hatten, deshalb wurde jede seiner Gesten aufmerksam beobachtet und wahrscheinlich hinterher ausgiebig diskutiert.
»Donald Hillyer«, begann Junkins, »ich hatte zwei volle Tage, um die gesammelten Informationen durchzusehen. Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie den Mord an Hans Mohring gestehen. Ich möchte Sie dennoch für ein besseres Verständnis des Geschehenen fragen: Was hat Sie zu dieser abscheulichen Tat getrieben?«
Doch bevor mein Onkel antworten konnte, stand Tilda auf und trug – unter den Blicken aller Anwesenden – das Wörterbuch an seinen Platz zurück. Dann verließ sie die Bibliothek.
»An diesem Tag«, begann mein Onkel, »an dem Tag, als es passierte, da gab es zwei Dinge, die mir schwer zu schaffen machten. Das Erste war das Rauschen aus dem Radio. Und dann kam der Anruf von Secretary Macdonald – er hat mich persönlich zu Hause angerufen. Diese zwei Dinge.«
»Der Vollständigkeit halber, Mr. Hillyer«, sagte der Friedensrichter, »müssen wir erwähnen, warum der Marineminister Sie angerufen hat. Wenn Sie es uns bitte schildern wollen.«
»Nun, Sir, gut. Also: Die Fähre Caribou war in dieser Nacht wie immer auf ihrer Strecke zwischen Port aux Basques, Neufundland, und North Sydney, Nova Scotia, unterwegs.«
»Das war in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober.«
»Vom 13. auf den 14. Oktober, ja, Sir.«
»Fahren Sie fort.«
»Es passierte gegen … ich sehe, Sie haben die Zeitungsberichte auf Ihrem Tisch liegen. Es passierte gegen 3:45 Uhr, die Caribou fuhr ohne Licht, wie alle Schiffe, als sie von einem Torpedo getroffen wurde. Meine Frau Constance Bates-Hillyer war zu Besuch bei ihrer Freundin Zoe Fielding gewesen. Die Familie ihrer Freundin feierte die Taufe ihres Enkelkindes, und Constance hatte versprochen zu kommen. Sie machte Urlaub, so hat sie es ausgedrückt. Das beschreibt die Umstände. Und meine Frau war ein Opfer dieses Angriffs. Constance Bates-Hillyer … sie war vielleicht sofort tot, aber sie wurde nicht aus dem Meer geborgen, Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Mr. Hillyer.«
»Es war nicht so sehr der Telefonanruf als solcher. Es war vor allem das, was man mir über den Schrankkoffer meiner Frau sagte.«
»Ich verstehe nicht.«
»Marineminister Macdonald teilte mir mit, man habe ihren Koffer identifiziert. Meine Frau hatte ihren Namen und ihre Adresse ins Innenfutter eingenäht, wie es viele machen, nicht wahr? Jedenfalls hat Secretary Macdonald gesagt: ›Sie wurde noch nicht gefunden, aber ihr Koffer wurde geborgen‹, genau so hat er es ausgedrückt.«
Ich saß auf meinem Sessel in der ersten Reihe und schloss die Augen, während ich an den großen schwarzen HARTMANN-Schrankkoffer meiner Tante dachte, mit seinen kleinen Messingnieten an den Nähten, den beiden schwarzen Scharnieren hinten, den Messingleisten und dem Messingschloss. Sie hatte den Koffer in Truro gekauft, und als er mit dem Bus geliefert wurde, brachte ihn Donald nach Hause und stellte ihn auf den Esszimmertisch. Donald, Tilda und ich waren dabei, als Tante Constance ihn zum ersten Mal öffnete und uns stolz die drei Schubladen und die fünf hölzernen Kleiderbügel präsentierte. »Ich habe schon so viele Koffer gesehen«, meinte sie, »aber der hier hat sofort zu mir gesagt: ›Nimm mich mit nach Neufundland! ‹«
»… und was war das mit dem Rauschen aus dem Radio?«, wandte der Friedensrichter ein. »Sie haben gemeint, das hätte auch eine Rolle gespielt. Übrigens, Miss Teachout, haben Sie alles mitbekommen?«
Ich vergaß zu erwähnen, dass Lenore Teachout als Stenografin anwesend war. »Ja«, antwortete sie, »ich habe zwei Monate am Gericht in Halifax gearbeitet, wie Sie vielleicht wissen. Ich bin gut ausgebildet.«
»Fahren Sie fort, Mr. Hillyer.«
»Wir hatten das Grundig-Majestic-Radio auf dem Küchentisch«, begann mein Onkel. »Es war schlechtes Wetter, und ich versuchte eine klare menschliche Stimme hereinzubekommen. Wir haben nur Bruchstücke gehört. Teile von aktuellen Meldungen und Berichten – ›die Fähre Caribou gesunken‹ – und Rauschen, und dann: ›deutsche U-Boote, die ihrem grausamen Geschäft nachgehen. Es ist ein unmenschliches …‹ – und wieder Rauschen. So etwas kommt öfters vor beim Radio, aber an diesem Tag war es einfach so grausam. Wissen Sie, immer wenn ich irgendein wunderbares Stück von Mr. Beethoven auf meinem Grammofon gespielt habe … Mr. Beethoven ist ein Deutscher. Diesen ganz bestimmten deutschen Menschen bewundere ich durchaus, das kann Ihnen jeder bestätigen, der mich kennt.«
»Mr. Hillyer …«
»Nein, das muss ich noch sagen – es ist nämlich so, dass mein Grammofon ziemlich alt ist und meine Schallplatten viele Kratzer hatten. Das erzeugt aber gar kein so unangenehmes Geräusch, jedenfalls nicht für mein Ohr. Die Kratzer, meine ich. Das gibt einem das Gefühl, dass die Musik von weither zu uns kommt, aus einem anderen Jahrhundert. Aber mit dem Rauschen im Radio verhält es sich etwas anders. Sicher, das Radiorauschen ist irgendwie demokratisch, es macht keine Unterschiede. Es stört gute Nachrichten genauso wie schlechte, nicht wahr? Egal ob furchtbare Nachrichten aus dem Krieg oder banale Informationen darüber, was man in welchen Geschäften kaufen soll. Das ist mir alles klar.«
»Und was wollen Sie mit diesem Vortrag sagen …?«
»Was ich damit sagen will, Sir – wenn man wichtige Nachrichten über einen geliebten Menschen hören will …«
»Sir …«
»… dann ist das Rauschen schwer zu ertragen. Und an diesem Nachmittag, bevor Secretary Macdonald anrief, da habe ich einfach zu viel von dem verdammten Rauschen gehört, Sir.«
Doch es waren in der Folge seit dem Untergang der Caribou genügend Informationen laut und deutlich durchgekommen. Sogar Zeugenaussagen von Überlebenden wurden im Radio zitiert. Ich kann mich noch genau erinnern, was ein Augenzeuge, ein Mr. Leonard Salter, sagte: »… ich schwamm in der Nähe eines Rettungsbootes, und einen Moment lang war das Licht von brennenden Teilen der Fähre so hell … und ich hatte ja immer schon scharfe Augen … also, jedenfalls konnte ich auf diesem U-Boot, auf der Lachenden Kuh, Matrosen sehen, die schnell durch die Luke hinunterstiegen. Das U-Boot verschwand, und ich wurde ins Rettungsboot gezogen. Überall im Wasser hörte man Schreie, Hilferufe, Gebete …«
Der Kommandant der Lachenden Kuh – des U-Bootes, das die Caribou torpediert hatte – hieß Ulrich Gräf. Über seine feige Strategie wurde in einer anderen Sendung berichtet. Als die Caribou untergegangen war, manövrierte Gräf sein U-Boot direkt unter die Überlebenden, die es in die Rettungsboote geschafft hatten oder sich an irgendwelchen Trümmern festhielten, um nicht unterzugehen. Gräf vermutete, dass der Kapitän des Geleitschiffes Grandmère dort keine Wasserbombe abwerfen würde. Und lag damit richtig.
»Sind Sie in der Lage, weiterzusprechen, Mr. Hillyer?«, fragte der Friedensrichter.
Kurz bevor er sich mit beiden Händen an den Kopf fasste und vor- und zurückwippte, sodass er fast vom Zeugenstuhl fiel, sagte mein Onkel: »Alles, was ich so liebte, hatte ich jeden Tag … ich wachte auf, sah das Gesicht meiner Frau und hatte vielleicht schon eine Verbesserung an einem Schlitten im Kopf, an dem ich arbeitete. Ich frühstückte, ich schaute auf das Meer hinaus. Ich ging in die Werkstatt. Zum Mittagessen kam ich wieder ins Haus. Aber nicht an diesem Tag. Der Tag, an dem Hans Mohring kam, um sich mit mir auszusprechen, war die Hölle auf Erden. Vor zwei, drei oder vier Monaten hätte ich mir einen solchen schwarzen Tag nicht einmal vorstellen können. Und jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken.«
Ich glaube, es war gegen elf Uhr vormittags, als Tilda in die Bibliothek zurückkehrte und sich ganz hinten in eine Ecke setzte. Der Friedensrichter blickte von seinen Unterlagen auf, sah meinen Onkel an und nahm seine Lesebrille ab. »Mr. Hillyer«, sagte er, »ich habe gehört, dass Sie eine Art Experte auf dem Gebiet der Seeschlachten sind und ein ganz spezielles Interesse daran haben, was mit den Schiffen und Booten vor den Küsten von Neuschottland und Neufundland passiert.«
»Natürlich tut es noch mehr weh, wenn man das alles weiß.«
»Sie würden also sagen, dass dieses Thema Sie sehr beschäftigt hat. Ich zitiere einen Nachbarn von Ihnen …«
»Welcher Nachbar ist das?«, wollte mein Onkel wissen.
»… der anonym bleibt«, fuhr der Friedensrichter in mahnendem Ton fort. »Ich zitiere …« Er setzte seine Lesebrille wieder auf und las aus einem Notizbuch: »Donald Hillyer wurde zur wandelnden Geschichtsstunde, und das manchmal ziemlich penetrant. Diese Lektion kam fast täglich von ihm. Er kochte innerlich wegen der U-Boote, die unsere Schiffe versenken. Es hat gekocht in ihm wie in einem …«
»Die Lunge meiner Frau Constance hat sich mit Meerwasser gefüllt.«
Friedensrichter Junkins schloss die Augen, seufzte tief und ließ noch ein paar kürzere Seufzer folgen. Dann las er weiter: »… gekocht wie in einem …«
»Da war eine tiefe Niedergeschlagenheit in mir, und ein tiefer Hass«, warf mein Onkel ein. »Ist das so schwer zu verstehen, Sir?«
»… in ihm gekocht wie in einem Teekessel. Mr. Hillyer, stimmt es, dass die Wände in Ihrer Werkstatt voll sind mit Zeitungsausschnitten über die jüngsten Tragödien auf See?«
»Das sind Morde, die Deutsche begangen haben – zahllose Morde, egal wie Sie es nennen.« Mein Onkel nahm wieder einen Schluck Wasser.
Wie ich dort in der Bibliothek saß, stellte ich mir die Wände der Werkstatt vor, die fast lückenlos mit Zeitungsberichten und Fotos bedeckt waren. Man konnte über all die Vorfälle lesen – von links nach rechts wie in einem Buch. Chronologisch geordnet. Sämtliche U-Boot-Angriffe vor der kanadischen Atlantikküste, welche Fähren versenkt worden waren, die Zahl der Opfer, die Zahl der Toten, der Vermissten und mutmaßlichen Toten, Bilder von Leuten, die in den Häfen warteten, Totenwachen.
An der Wand zur Linken, wenn man hineinkam, fand man zum Beispiel Schlagzeilen über die Ereignisse vom 11. Mai 1942, als das U-Boot U 553 den britischen Frachter Nicoya und den holländischen Frachter Leto versenkte. Beide Schiffe waren nach England unterwegs gewesen. Dieser Angriff regte meinen Onkel besonders auf.
Nun, Marlais, ich werde jetzt nicht alle siebzehn Handelsschiffe aufzählen, die seit Mai 1942 von U-Booten versenkt wurden, plus das amerikanische Handelsschiff und die beiden kanadischen Kriegsschiffe, die im Sankt-Lorenz-Golf versenkt wurden – und mittendrin der Angriff auf die Caribou. Aber bevor die Caribou unterging, kam jedes Mal, wenn irgendein Schiff angegriffen wurde, ein Zeitungsbericht an die Werkstattwand. Und da ich Tag für Tag oft sehr lange in der Werkstatt stand, prägte sich mir das alles ein. Fast gegen meinen Willen studierte ich diese Ereignisse, mit denen ich ständig konfrontiert war. Man könnte sagen, die Wände der Werkstatt boten mir einen täglichen quälenden Lesestoff. »Was man auf diesen Wänden sieht«, meinte meine Tante einmal, »das ist so traurig, dass man es sich trauriger gar nicht vorstellen kann – bis es dann noch schlimmer kommt. Wenn ein Angehöriger ›auf See vermisst‹ wird, macht es das alles irgendwie noch schwerer. Sicher, man stellt einen Grabstein auf den Friedhof, zum ehrenden Andenken – aber weil der Tote nicht hier begraben liegt, spürt man so eine furchtbare Leere. Man liest in der Zeitung darüber, man hört die Berichte im Radio. Man spricht mit den Nachbarn darüber. Es gibt sogar Predigten in der Kirche. Seit wir diesen Krieg haben, spüren wir alle hier an der kanadischen Atlantikküste eine solche Leere.«
Und dann kam das Ereignis, das meinen Onkel wirklich aus dem Gleichgewicht brachte. Am Sonntag, dem 11. Oktober – meine Tante hatte bereits ihre Reise angetreten –, versenkte das U-Boot U 106 den britischen Dampfer Waterton, der von Corner Brook, Neufundland, nach Sydney, Neuschottland, unterwegs war und eine Ladung Papier transportierte. Die Waterton ging binnen sieben Minuten unter, doch – so hieß es in dem Zeitungsbericht – »die Crew wurde gerettet, es musste nicht einmal jemand aus dem Wasser geborgen werden.«
»Am helllichten Tag in der Cabot-Straße«, sagte mein Onkel. »Praktisch vor unserer Haustür! Und Constance fährt auch durch diese Gewässer! Wenn sie wenigstens ein Telegramm schicken würde.«
»Ihr passiert schon nichts, Onkel Donald«, meinte ich ohne große Überzeugung.
»Weißt du, was ich geträumt habe? Lieber Gott. Ich habe von den Papierstapeln an Bord der Waterton geträumt. In meinem Traum sahich das Papier als zehntausend Bibeln, die nie gedruckt werden, zehntausend persönliche Briefe, die nie abgeschickt werden. Erzähl das bloß nicht irgendwem in Middle Economy, dass ich diesen Traum hatte, okay? Sei so gut und sag’s keinem.«
Aber zurück zu der Verhandlung. Es war wieder still in der Bibliothek. Mein Onkel trank einen Schluck Wasser.
»Ja«, sagte Donald schließlich und sah Friedensrichter Junkins an. »Ich habe innerlich gekocht. Ja, Sir, ich habe gekocht – so wie es jedem guten Kanadier gehen sollte.«
»Aber es hat nicht jeder gute Kanadier diesen deutschen Studenten ermordet«, warf Junkins ein. »Das muss ich doch festhalten. Ich möchte Sie an den Grund erinnern, warum wir hier sind. Heute. In dieser Bibliothek. Der Grund ist das, was Sie getan haben, Mr. Hillyer. Und die Frage, welche Konsequenzen die Provinz Nova Scotia aus Ihrer Tat ziehen wird. Und ich muss die Fakten zusammentragen und die richtigen Schlüsse ziehen, damit das Gericht seiner schweren Verantwortung gerecht werden kann.«
Der Friedensrichter ordnete seine Unterlagen und blickte aus dem Fenster auf den Regen hinaus. »Ich fürchte, es hat noch niemand daran gedacht, mir ein Glas Wasser zu geben«, sagte er schließlich.
Cornelia Tell ging in die kleine Speisekammer der Bibliothek und kam mit einem Glas Wasser zurück, das sie vor dem Friedensrichter auf den Tisch stellte.
»Danke«, sagte er. Worauf Cornelia Tell antwortete: »Sie hätten nur zu fragen brauchen.«
»Also, Mr. Hillyer«, begann der Friedensrichter wieder, »nachdem wir Ihre seelische Verfassung am letzten Tag in Hans Mohrings Leben rekonstruiert haben – können Sie uns nun sagen, wann Sie beschlossen haben, welche … Methode, nennen wir’s mal so … ich will sagen, wann Sie beschlossen haben, wie Sie Hans Mohring angreifen würden?«
»Meinen Sie damit, ob es ›geplant‹ war?«, fragte mein Onkel.
»Ich spiele darauf an, dass Sie eine Schlittenkufe als Waffe benutzt haben«, antwortete Junkins.
»Ich habe die Kufe genommen, weil sie gerade neben der Tür lehnte, als ich hinausging, um nachzusehen, ob Hans Mohring schon gekommen war«, erklärte mein Onkel.
»So einfach war das.«
»Meine Hand auf die Bibel«, sagte mein Onkel.
Im nächsten Augenblick hörte man einen leisen Aufschrei von Tilda, dann fasste sie sich wieder und ging zum Regal hinüber. Sie zog den Webster heraus, trug ihn zu ihrem Vater hinüber und legte ihn vor ihm auf den Tisch. »Schwör es mir, Pop«, sagte sie, dann nahm sie seine rechte Hand, legte sie auf das Wörterbuch und drückte ihre Hand auf die seine. »Schwör es mir auf sein Lieblingsbuch, dass du nicht vorhattest, meinen Mann umzubringen. Schwör mir, dass es plötzlich über dich kam, weil Mom gestorben war. Weil Mutter umgebracht wurde. Vater, schwör mir, dass du es nicht wolltest, sondern dass es dir einfach passiert ist.«
»Ich unterbreche die Verhandlung!«, warf Friedensrichter Junkins mit Nachdruck ein.
Der Friedensrichter ging durch die Speisekammer und durch die Hintertür hinaus ins Freie, doch es dauerte eine ganze Weile, bis auch die anderen aufstanden und den Raum verließen, und das lag nicht nur am strömenden Regen. Aber irgendwann waren nur noch Tilda und ihr Vater in der Bibliothek.
Deine Mutter hat mir nie erzählt, was sie gesprochen haben. Falls sie überhaupt ein Wort gewechselt haben.
Bevor die Verhandlung am Nachmittag fortgesetzt wurde, sagte der Friedensrichter: »Wenn Sie Sandwiches oder sonst etwas hierhaben, dann halten Sie sich bitte freundlicherweise im Hintergrund.« Er setzte sich an seinen Platz. Und tatsächlich hatten sich gar nicht so wenige ein Lunchpaket eingepackt oder schnell in der Bäckerei ein Sandwich, ein Honigbrot oder gar eine Heilbuttfrikadelle gekauft. Cornelia war schon vor der Verhandlungspause gegangen, kurz nachdem sie dem Friedensrichter sein Glas Wasser gebracht hatte. Sie hatte schon daran gedacht, dass die Leute in der Pause in die Bäckerei kommen und sich etwas zu essen holen würden.
»Also«, begann Junkins, »Mr. Hillyer hat mir mitgeteilt, dass er eine Erklärung abgeben möchte, und ich werde ihm das gestatten. « Er nickte meinem Onkel zu.
Donald verkündete: »Ich übertrage meine Schlittenmanufaktur hiermit offiziell meinem Neffen Wyatt. Er und ich hatten keine Gelegenheit, darüber zu sprechen, aber das ist meine Absicht.«
Ich möchte zwei Dinge zu dieser Erklärung sagen, Marlais. Erstens, dass alle Anwesenden mit großem Interesse verfolgt hatten, was mein Onkel zu sagen hatte, obwohl es überhaupt nicht zusammenhing mit den tragischen Ereignissen, um die es bei dieser Verhandlung ging. Donald musste ins Gefängnis, daran zweifelte niemand. Man wusste nicht, wann oder in welches Gefängnis, aber allen war klar, dass Donald längere Zeit keine Schlitten bauen würde, vielleicht nie mehr. Zweitens nahmen bestimmt alle an, ich sei ein Zeuge des Mordes gewesen, nachdem mein Onkel erwähnt hatte, dass ich Hans Mohring kurz zuvor geholt hatte und mit ihm zum Haus meines Onkels gekommen war. Die Frage war nun, wie ich mich verhalten hatte, ob ich meinem Onkel bei der Tat geholfen hatte oder ob ich ihn daran hindern wollte – und natürlich, ob ich gestehen und ebenfalls ins Gefängnis gehen würde. Wenn ja – was würde dann aus dem Schlittengeschäft werden? Das war eine Frage, die alle im Ort interessierte.
»Das gehört jetzt nicht hierher«, meinte der Friedensrichter.
Mein Onkel wandte sich seinen Nachbarn zu. »Toboggans liegen Wyatt mehr als Schlitten«, sagte er. »Aber er wird schon zurechtkommen.«
»Mr. Hillyer!«
Der Friedensrichter warf wieder einen Blick auf seine Unterlagen. »Also, Sie haben Ihren Neffen gebeten, Hans Mohring zum Abendessen einzuladen?«
»Nein, nein – wer hätte denn kochen sollen?«
Die Leute lachten, und dem Friedensrichter blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis sie aufhörten, denn alle, die uns kannten, wussten, dass meine Tante Constance Tilda – die selbst eine prima Köchin war – nur samstags kochen ließ und dass mein Onkel sich nicht mal ein Ei zubereiten konnte. Ja, Mr. Junkins gestattete sich selbst ein leises Lächeln. Ich glaube, er erkannte, dass sich die Leute nicht über das Gericht lustig machten, sondern einfach das Bedürfnis hatten, das Ganze ein bisschen aufzulockern, da es immerhin um einen Mord ging.
»Friedensrichter Junkins«, sagte mein Onkel, »ich weiß nicht, wo Sie geboren und aufgewachsen sind, und auch nicht, wie die Leute dort denken. Aber glauben Sie mir, wenn man das Meer beschmutzt, dann rächt sich das zehnfach. Also, ich habe hier eine Liste aufgestellt – lassen Sie mich vortragen, wann ich mit Sicherheit das Meer beschmutzt habe.« Mein Onkel griff in eine Tasche seines Jacketts und zog ein Blatt Papier heraus, dann begann er zu lesen. »Zum ersten Mal mit zehn Jahren. Ich war mit Paul Amundson in einem kleinen Boot draußen. Wir waren gleich alt, Pauls Familie stammte aus Norwegen. Wir haben gefischt. Damals gingen wir natürlich oft fischen, aber an diesem Tag hat nur er etwas gefangen und ich gar nichts. Er hatte einen ganzen Eimer voll. Nachdem wir zurückgerudert waren und aus dem Boot stiegen, tat ich so, als würde ich stolpern, und warf seinen Eimer mit den Fischen ins Meer. Klingt nach einem harmlosen Streich aus Neid, nicht wahr? Aber Paul wusste, dass ich es absichtlich getan hatte, obwohl wir kein Wort darüber sprachen. Ich habe Neid und Betrug aus diesem Eimer ins Meer gegossen, und damit habe ich es beschmutzt …«
»Es reicht!«, warf Junkins ein. »Sie können Ihre Liste Mrs. Teachout vorlegen.«
Lenore Teachout stand von ihrem Tisch auf und holte die Liste, dann setzte sie sich wieder und begann sie sofort in ihr Protokoll zu übertragen. Aber mein Onkel wartete nicht, bis sie fertig war. »… ich springe weiter zu Nummer zehn. Ich habe das Meer beschmutzt, indem ich Hans Mohrings Leiche hineinwarf. «
Was er dann sagte, das wollte er, glaube ich, gar nicht sagen, aber er tat es doch. »Draußen in der Fundy-Bucht. Mein Neffe hat mir dabei geholfen – auf meine Anweisung.«
Draußen hatte es sich inzwischen aufgehellt, aber man sah durch die Fenster der Bibliothek noch einen Vorhang aus Regen und dunklen Wolken draußen über dem Minas-Becken. Ich drehte mich auf meinem Stuhl um und bemerkte, dass sich noch mehr Leute in der Bibliothek drängten als am Vormittag. Ich sah zu Tilda hinüber. Sie trug jetzt ein Kleid von meiner Tante. Es war weiß mit großen weißen Knöpfen und einer schwarzen Muschelstickerei über zwei breiten Taschen. Es war leicht ausgefranst am Saum und war Tilda ein bisschen zu weit. Ich glaube, es hat sie irgendwie getröstet, das Kleid zu tragen.
Mein Onkel fuhr aus eigenem Antrieb fort: »… an diesem Abend kam der deutsche Student herüber. Wyatt hatte ihn geholt, das hatte ich ihm so aufgetragen. Ich erinnere mich an das Gewicht der Kufe in meiner Hand. Oh, und an den Regen erinnere ich mich auch, und dann schlug ich mit der Kufe zu. Ich weiß nicht, was er gespürt hat, aber es war sicher nicht so, als würde die Hand Gottes das Lamm streicheln, wie Constance Bates-Hillyer zu sagen pflegte, wenn zum Beispiel bei einem Gemeindefest der Wind einem Kind das Haar zerzauste.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es überhaupt nicht so war«, bemerkte Friedensrichter Junkins trocken.
»Nein, das war es nicht. Das war es nicht.«
»Und als Mr. Mohring tot war, fuhren Sie mit ihm auf das Meer hinaus.«
»Wir wickelten ihn in eine Plane und banden ihn an einen Schlitten. Wir hoben ihn auf die Ladefläche und fuhren zum Hafen in Parrsboro. Wir nahmen das Boot meines alten Freundes Leonard Marquette …«
Leonard Marquette erwiderte von seinem Platz in der dritten Reihe: »Zu irgendeinem anderen Zweck hättest du mein Boot gern ausleihen dürfen, ohne zu fragen, Donald … aber dieses Deck bekomme ich nie mehr richtig sauber, egal wie ich es auch schrubbe. Mir bleibt nichts übrig, als das verdammte Ding gleich zu verkaufen.«
»Leonard, ich kann nicht rückgängig machen, was ich getan habe«, antwortete mein Onkel.
»Das genügt«, verkündete der Friedensrichter. »Ich habe Ihre vollständige Aussage schriftlich hier vor mir liegen. Ich kann Ihnen allen versichern, dass ich sie eingehend studieren werde. «
»… da draußen auf deinem Boot, Leonard, das war wirklich seltsam«, fuhr mein Onkel fort. Und Friedensrichter Junkins sah, dass alle Anwesenden es hören wollten und dass es in gewisser Weise auch angebracht war, meinen Onkel ausreden zu lassen. »Ich hatte eine schreckliche Vision … als wir da draußen im Dunkeln waren, mein Neffe und ich. Ich sah auf einmal ein deutsches U-Boot an die Oberfläche steigen und einen Haufen deutsche Matrosen aus der Luke klettern. Einfach um ein bisschen gute kanadische Luft zu atmen. Also, sie kommen raus, und einer ruft: ›Jetzt schau dir das an!‹ Natürlich kann das nicht wirklich geschehen sein. Natürlich nicht. Aber es zeigt, wie es in mir drin ausgesehen hat in meiner Verzweiflung – Gott strafe mich, aber das zeigt, wie es in dieser Nacht in mir drin ausgesehen hat.«