1789 ZERBROCHENE GRAMMOFONPLATTEN

Als ich nach Hause kam, nahm ich gleich meinen Anzug und fuhr damit nach Truro. Ich hatte nicht nach meinem Onkel gesehen, obwohl ich wusste, dass er in der Werkstatt arbeitete. Ich hörte von draußen das Radio laufen. Jedenfalls fuhr ich direkt zu Winterson’s Cleaning Establishment in der Phillips Street im Zentrum von Truro. Die Inhaberin – laut dem Schild auf dem Ladentisch eine gewisse Bettina Winterson – sagte, es würde höchstwahrscheinlich zwei Tage dauern. »Eine Vorhersage ist kein Versprechen«, erwiderte ich, ohne Grund unhöflich. Mir wurde erst nachher im Wagen bewusst, dass ich einen Satz aus dem Highland Book of Platitudes zitiert hatte.

»Okay, dann eben ein Versprechen: Sie haben Ihren Anzug bis morgen um vier«, sagte sie. »Wenn nicht, kriegen Sie von mir eine kostenlose Reinigung. Hosen, Hemden, was Sie wollen. Aber natürlich nur ein Mal. Ist das ein Versprechen oder nicht?«

Als ich von Truro zurückfuhr, war ich erleichtert, dass ich bei Tildas Hochzeit wenigstens vorzeigbar gekleidet sein würde. Auf der Fahrt über die Route 2 bemühte ich mich sehr, an nichts Besonderes zu denken. Ich wollte alle Sorgen und alle quälenden Gedanken beiseiteschieben – und es schien zu funktionieren, denn bald war mein Kopf so leer wie das Minas-Becken vor mir, in dem ich kein einziges Boot sah, nur eine Möwe, die in der Ferne verschwand.

Am nächsten Morgen traf ich Tilda in der Bäckerei. Ich hatte bereits begonnen, mich auf diese Treffen zu freuen, obwohl mir klar war, dass es bald damit aus sein würde. Aber egal, da war sie wieder, in zwei Pullover gehüllt und in einen dicken Schal gewickelt. Die Hose von Hans, die sie trug, hatte sie aufgerollt, und darunter guckten Winterleggings hervor. Sie sah ein bisschen zerzaust aus, und ich sagte: »War wohl eine lange Nacht gestern, was?« Sie gähnte so, als würde ihr das Gesicht dabei wehtun. Sie kam mir ziemlich aufgewühlt und nervös vor und konnte mir zuerst gar nicht in die Augen sehen. Aber dann tat sie das, was sie immer tat, wenn sie meine volle Aufmerksamkeit wollte – sie legte ihre Hände fest auf die meinen, drückte einen Fingernagel in meine Knöchel und begann zu reden.

»Wir haben den Hochzeitstermin vorverlegt«, sagte sie.

»Auf wann?«, fragte ich.

»Also, Wyatt, wir haben schon gestern um fünf Uhr geheiratet. «

»Das verstehe ich nicht. Du wolltest doch, dass ich dich zum Traualtar führe.«

»Das hab ich selbst gemacht.«

»Ich dachte, in Nova Scotia braucht man einen Trauzeugen.«

»Das hat Cornelia Tell gemacht. Sie hatte gerade ihre Scones gebacken und hatte ein bisschen Zeit, bis sie mit den Cupcakes anfangen würde. Und sie hat uns auch dran erinnert, dass wir Ringe brauchen. Ich sagte, wir hätten keine, und sie hat für jeden ein Stück Schnur abgeschnitten – die haben wir dann genommen. Wir kaufen später richtige Ringe – ich hoffe, Mutter wird mich beraten, wenn sie zurück ist. Sie und ich, wir könnten wieder mal für einen Tag nach Halifax fahren. Jedenfalls hat Reverend Plumly kein Wort gesagt, weil wir keine richtigen Ringe hatten.«

»Vielleicht hat er gedacht, das sei in Deutschland so üblich.«

»Wyatt, du klingst immer mehr wie mein Vater.«

»Nein, Donald ist gefährlich wütend – bei mir ist es keine Wut, nur Neid, falls du’s noch nicht bemerkt hast.«

»Ich habe einiges bemerkt.«

»Trotzdem verstehe ich nicht, warum ihr die Hochzeit vorverlegt habt.«

»Das kann ich dir erklären. Reverend Plumly muss an dem Tag, den wir eigentlich ausgemacht hatten, zu einem Begräbnis in Advocate, und die Familie – es sind die Dewis’ – will, dass ich die Totenklage übernehme. Es ist einer der Onkel, der gestorben ist. Er war mit der ganzen Sippe heillos zerstritten. Die Familie wird beim Begräbnis nicht dabei sein. Es werden nur Reverend Plumly und ich da sein. Hans und ich, wir können das Geld wirklich gebrauchen.«

»Warum habt ihr nicht einfach gewartet, bis Constance zurückkommt? «

»Weil Reverend Plumly nach dem Begräbnis zu seiner Schwester nach Quebec City fährt. Wir haben alle gefragt, die mir sonst noch eingefallen sind – aber es wollte uns keiner trauen. Zwei Friedensrichter – nein. Reverend Mann in Glenholme – von seiner Gemeinde sind drei Männer im Krieg gefallen. Er hat zu Hans ganz direkt Nein gesagt. Verstehst du, wir müssen froh sein, dass es Reverend Plumly gemacht hat.«

»Also habt ihr die einzige Gelegenheit genutzt. Dann hat es ja am Ende geklappt, nicht?«

»Mom hätte die Trauung sowieso verpasst«, sagte sie. »Schon komisch, mir fällt gerade eine Plattitüde ein: Wenn sich eine Hochzeit und ein Begräbnis auf der Straße begegnen, sollte das Begräbnis immer zur Seite treten. Nur bin in diesem Fall ich ausgewichen und habe die Hochzeit wegen einer Beerdigung verschoben, nicht wahr?«

»Das kannst du sehen, wie du magst, Tilda.«

»Außerdem habe ich dir eine Nachricht im Baptist Spa hinterlassen, Wyatt. Es war das erste Ferngespräch, das ich je gemacht habe. Ich wusste, dass du nicht rechtzeitig wieder da sein konntest. Trotzdem wollte ich dir wenigstens Bescheid geben.«

»Ich habe die Nachricht nicht erhalten.«

»Hast du nach Nachrichten gefragt?«

»Ich hab die Nacht bei Prostituierten verbracht. Bitte, erzähl’s nicht Tante Constance.«

»Oh, ja. Du musst mir irgendwann von dieser Erfahrung erzählen, Wyatt. Wenn es dann noch wahr ist.«

»Ich werde es Hans erzählen, von Mann zu Mann.«

»Ich bin sicher, mein Mann wird etwas Neues dabei lernen.«

»Weiß dein Vater, dass du schon geheiratet hast?«

»Genau deswegen haben wir auf das Honorar für Reverend Plumly noch ein bisschen was draufgelegt. Er ist rübergefahren und hat es ihm erzählt.«

»Aber du hast nicht selbst mit Donald gesprochen.«

»Nein. Und es ist auch keine Überraschung, dass er die Jungverheirateten nicht besucht hat.«

»Habt ihr eine Hochzeitsreise geplant?«

»Wir hoffen, dass es sich vielleicht in zwei Jahren machen lässt. So wie es momentan mit unseren Finanzen steht.«

»Dann werdet ihr wahrscheinlich nach Halifax ziehen.«

»Hans muss sein Studium abschließen. Und Dalhousie ist in Halifax. Ein Mann und eine Frau leben nun mal zusammen, nicht wahr?«

Hans kam in die Bäckerei, er sah selbst ein bisschen mitgenommen aus, aber er war überrascht und sichtlich erleichtert, so als hätte er Tilda eine Ewigkeit nicht gesehen. »Noch einmal guten Morgen, mein Engel«, sagte er. Er küsste Tilda die Hände. Er hatte einen Schal mitgebracht, den er ihr um die Schultern legte. Er selbst trug einen Wintermantel. »Hallo, Wyatt«, sagte er. »Tilda ist jetzt meine Frau. Aber du kannst dich jeden Morgen mit ihr zum Frühstück treffen. Wenn sie es will. Ihr habt Glück, ihr zwei, als Cousin und Cousine. Ich wäre froh, wenn ich auch Cousins in der Nähe hätte.«

»Wo sind denn deine Cousins?«, fragte ich.

»In Dänemark und Deutschland.«

»Nein, Dänemark und Deutschland liegen wirklich nicht gerade in der Nähe von Neuschottland, was?«

»Ich habe neulich einen Satz geschrieben«, sagte Hans. »Uns trennt ein Meer

»Du schreibst ja wirklich ganze Hefte voll. Mach nur weiter so, Hans«, sagte ich. »Tilda, wo steckt eigentlich Cornelia Tell?«

»Sie ist einkaufen. Das Mehl war ihr ausgegangen«, antwortete Tilda.

»Wyatt«, sagte Hans. »Ich habe da eine Idee und wollte mit dir darüber reden, ob du mir vielleicht helfen kannst. Frühstücken wir doch alle zusammen – und Wyatt, musst du nachher gleich wieder an deinen Schlitten arbeiten, oder hättest du ein bisschen Zeit, damit wir zwei reden können?«

»Meine Arbeit hängt momentan ziemlich in der Luft.«

»Ich hoffe, sie kommt bald wieder auf festen Boden«, meinte er.

»Worum geht es denn, dass du nicht in Gegenwart deiner Frau darüber reden willst? Wenn du mich fragst – das ist nicht gerade der ehrlichste Weg, ein Eheleben zu beginnen, oder?«

Hans setzte sich an den Tisch. Tilda brachte auf einem Tablett eine Kanne Kaffee und Tassen für uns drei. Sie stellte die Kanne auf einem Topfhandschuh auf den Tisch. Dann öffnete sie die Glasvitrine und nahm einen Teller mit Scones vom Vortag heraus, den sie ebenfalls auf den Tisch stellte. »Also gut«, sagte Hans schließlich. »Danke für die Lektion in Sachen Ehe, doch Tilda kennt meine Idee schon.«

»Wir haben stundenlang darüber geredet«, warf sie ein.

»Es wird mir wahrscheinlich nicht gelingen«, begann Hans. »Aber ich möchte es sehr. Ich möchte … wie hast du’s ausgedrückt, Tilda?«

»Die Dinge ins Reine bringen«, sagte Tilda.

»Ich möchte mit Donald Hillyer die Dinge ins Reine bringen. Er ist jetzt mein Schwiegervater. Ich möchte mit meinem Schwiegervater im Reinen sein.«

»Da hast du bessere Chancen, einen Nachmittagstee mit Jesus zu trinken.«

Tilda lachte, weil sie sich an diese Predigt von Reverend Witt erinnerte, die er mit der Frage eingeleitet hatte: »Ist ein Nachmittagstee mit Jesus möglich?« Hans sah uns verwirrt an. Witt wollte die Leute auf den Glauben im ganz normalen Alltag aufmerksam machen; was wäre, wenn Jesus eines Tages auf einen Tee und ein Schwätzchen vorbeikäme, ganz spontan – worüber würdest du am liebsten mit ihm sprechen? Tilda küsste Hans und sagte: »Ich lache nicht auf deine Kosten, Liebling. Sag’s nur. Erzähl Wyatt, was du dir gedacht hast.«

»Ich habe wie ein Archäologe Mr. Hillyers Schallplatten zusammengeklebt«, begann Hans. »Sie sind natürlich zu schwer beschädigt, um sie abzuspielen. Aber ich konnte zumindest die Namen der Komponisten und die Titel der Musikstücke abschreiben, weißt du. Und meine Idee ist – du begleitest mich nach Halifax, weil es da einen Laden für klassische Musik gibt, wo ich regelmäßig hingehe. Der Inhaber heißt Randall Webb. Randall und ich sind Freunde, fast vom ersten Tag an, als ich vor drei Jahren nach Halifax kam. Ich gebe ihm Deutschstunden, und dafür darf ich bei ihm Musik ausleihen.«

»Hans, Liebling, du musst nicht jede Geschichte mit der Genesis beginnen«, warf Tilda ein. »Sag Wyatt einfach, was du vorhast.«

»Also gut, ja«, sagte Hans. »Ich würde gern alle Schallplatten meines Schwiegervaters neu kaufen, die er in Scherben auf unser Bett geworfen hat.«

»Ich verstehe«, antwortete ich. »Du brauchst mein Auto. Folgender Vorschlag: Ich fahre dich runter nach Halifax. Aber nur, weil meine Tante Constance sich freuen wird, wenn diese Schallplatten wieder im Haus sind.«

»Das ist Grund genug, Wyatt«, meinte Tilda.

»Und wie willst du deinen großen Plan bezahlen?«, fragte ich.

»Ich lege mein Honorar dazu, das ich bald bekommen werde«, sagte Tilda. »Und Hans hat noch Geld von seinem Stipendium übrig. Nicht viel, aber immerhin.«

»Eure Familienfinanzen müsst ihr allein regeln. Wollt ihr hören, wie mein Beitrag zu der Sache aussieht? Ich mache mit, wenn wir noch heute nach Halifax fahren. Ich kann euch sogar ein bisschen Geld leihen, falls es nötig ist. Wofür soll ich’s denn auch ausgeben?«

»Für Prostituierte in Halifax, hab ich gedacht«, warf Tilda ein.

Hans hätte fast seinen Kaffee ausgespuckt. »Wo denn, Wyatt – in diesem Haus in der Lower Water Street? Oder in dem kleinen Hotel beim Citadel Park?«

»Woher weißt du denn solche Dinge?«, wollte Tilda wissen.

Hans sah sie etwas überrascht an und nahm dann ihre Hand in die seine. »Ein paar Studenten gehen öfter hin. Hab ich gehört. «

»Ich komme übrigens mit nach Halifax«, verkündete Tilda.

»Mein Wagen steht draußen.«

»Ich brauche ein paar Dinge«, sagte sie. »Ich bin ruck, zuck wieder da.«

»Setzen wir uns schon mal ins Auto, Hans«, forderte ich ihn auf. »Ich erkläre dir inzwischen, was ›ruck, zuck‹ heißt. Ich hab gesehen, dass dir der Ausdruck gefällt. Siehst du, wie gut ich dich bereits kenne?«

Als Tilda zurückkam, setzte sie sich zwischen Hans und mich, und wir fuhren los. »Ich muss in Truro noch kurz etwas erledigen«, sagte ich.

Ich hielt vor Winterson’s Cleaning Establishment. Hans und Tilda warteten im Wagen, während ich hineinging. Nachdem ich Tilda nun doch nicht zum Traualtar führen würde, wollte ich meinen Anzug ungereinigt abholen und mir das Geld sparen. Aber Bettina Winterson sagte: »Ihr Anzug ist fertig.« Ich zahlte und trug den Anzug auf dem Kleiderbügel zum Auto, öffnete die Tür und legte ihn auf den Rücksitz.

»Was ist das?«, fragte Tilda.

»Hochzeitsanzug«, antwortete ich.

»Wie viel hat die Reinigung gekostet?«, fragte sie. »Ich zahl’s dir zurück, sonst hab ich ein schlechtes Gewissen.«

»Er hätte sowieso gereinigt werden müssen«, erwiderte ich. »Lassen wir’s dabei.«

Wir sprachen kaum noch, bis wir nach Halifax kamen. Hans zeigte uns den Weg zu Ballade & Fugue, dem Laden seines Freundes in der Trollope Street. Ich schloss meinen Anzug im Wagen ein. Der Laden bestand aus einem großen Raum mit schmalen Gängen zwischen Kästen voller Grammofonplatten. Es roch muffig, und die Schaufenster hätten wieder einmal geputzt werden müssen. Auf einem Grammofon hinter dem Ladentisch lief Musik; ich wusste nicht, von welchem Komponisten sie stammte. Eine Tafel vermeldete, was NEU HE-REINGEKOMMEN war. Auf der Theke stand ein Riesending von einer Registrierkasse. Hans und Randall Webb begrüßten einander auf Deutsch, wechselten noch zwei, drei deutsche Sätze und lachten. Mir fiel auf, dass ein Kunde, ein Mann um die dreißig mit einer RCN-Uniform, plötzlich erstarrte, dann kramte er rasch in einem der Kästen, sagte schließlich: »Sorry, nichts für mich dabei« und ging hinaus.

Randall zuckte die Achseln. »Er hat nach – wie soll ich sagen? Nach einer etwas populäreren Musik gefragt«, erklärte Randall. »Na ja.«

Randall war gut eins fünfundachtzig groß, schlaksig und wirkte ein bisschen ungepflegt mit seinen schlecht sitzenden Kleidern, doch er hatte ein lebhaftes, waches Gesicht, eine Drahtgestellbrille und langes schwarzes Haar, das er in der Mitte gescheitelt trug. Ich konnte in den Lagerraum sehen. Da war ein Waschbecken, eine Zahnbürste in einem Wasserglas und ein Pyjama auf einer Stuhllehne. Bestimmt gab es da irgendwo auch noch eine Matratze oder ein Klappbett. Ich glaube, Randall Webb wohnte in seinem Laden, oder zumindest übernachtete er gelegentlich hier. Hans stellte ihm Tilda und mich vor.

»Tee?«, fragte Randall.

Wir lehnten dankend ab. »Ich habe da eine Liste, Randall«, begann Hans. »Es wäre schön, wenn du die hierhättest.«

»Hans, mein Freund, lass mich mal lesen«, sagte Randall. Er nahm die Liste, studierte sie eine Weile und blickte schließlich auf. »Bei den meisten hast du Glück. Leider nicht mit Schumanns Klavierquartett in Es-Dur und dem Klavierquintett in Es-Dur – dieselbe Scheibe enthält übrigens auch noch Schumanns drei Streichquartette. Ich habe sie schon seit einem Jahr nicht mehr hier, aber es gibt ein Geschäft in Montreal, mit dem ich Kontakt habe. Ich kann dort nachfragen. Du zahlst das Ferngespräch – das andere mache ich.«

»Fangen wir mit dem an, was du da hast«, schlug Hans vor.

Randall sah auf der Liste nach und ging zwischen den Kästen hin und her. Ein paar Studenten kamen hereinspaziert, sahen sich um und plauderten auf Französisch, kauften aber nichts.

»Wie lange hast du das Geschäft schon?«, fragte ich Randall, und er sagte: »Schon fast acht Jahre.«

Während ich Randall beim Suchen zusah, fiel mir etwas ein, was Constance vor ihrer Abreise gesagt hatte – »Man sollte immer ein bisschen Platz für einen Einkauf lassen« –, und ich nahm mir vor, ihr eine Postkarte zu schreiben oder sogar das Geld für ein Telefongespräch oder ein Telegramm nach Neufundland auszugeben. Ich würde ihr empfehlen – falls sie noch dieses bisschen Platz in ihrem Koffer hatte –, im Ballade & Fugue vorbeizuschauen. Hier würde sie vielleicht ein Geschenk für meinen Onkel finden, und für sich selbst natürlich.

Die Fülle an Grammofonplatten in dem Laden überwältigte mich. Da waren jede Menge Werke, die ich noch nie gehört hatte und von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab; der Laden führte mir vor Augen, wie wenig ich eigentlich über Musik wusste. Ja, eigentlich kannte ich fast nur die Musikstücke, die Donald jeden Abend abgespielt hatte, und noch ein paar aus der Classical Hour im Radio. Es schien Tilda richtiggehend peinlich zu sein, als ich mich mit einer Frage an den Inhaber des Ladens wandte: »Randall, kannst du mir sagen, wer der größte Komponist ist, der je in Neuschottland geboren und aufgewachsen ist, und wo ich seine Schallplatten finde?«

»Die Frage lässt sich wahrscheinlich nicht so einfach beantworten, Wyatt«, warf Hans ein, »und so viel Zeit hat Randall im Moment nicht.«

Seine Reaktion machte mir mein Unwissen noch schmerzlicher bewusst. Umso freundlicher war es von Randall, dass er sagte: »Ich finde gern alles heraus, was mit klassischer Musik zu tun hat. Ich muss zugeben, ich kenne keinen örtlichen Komponisten, Wyatt. Es kommen zwar öfter Professoren von der Musikhochschule in meinen Laden, und der eine oder andere hat auch schon erwähnt, dass er talentierte Studenten im Fach Komposition hat, doch die stammen meistens aus Europa. Ich sehe mir auch selbst manchmal ein Studentenkonzert an. Aber soweit ich weiß, hat sich noch kein Student von Dalhousie in der großen weiten Welt einen Namen gemacht.«

Ich war so dankbar für Randalls Geduld, dass ich sagte: »Meine Tante hat immer nur Beethoven, Bach und Chopin gehört – kannst du vielleicht irgendwas empfehlen, das sie überraschen würde? Du hast bestimmt eine gute Idee.«

Randall schien erfreut über die Aufgabe. Er ging zu einem der Kästen an der Wand ganz hinten, nahm eine Platte heraus und reichte sie mir. »Das könnte funktionieren«, meinte er.

Hans war neugierig und kam zu uns, um zu sehen, was Randall ausgesucht hatte. »La Bohème von Puccini«, sagte er. »Tilda, hört deine Mutter gern Opern?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Tilda zu.

»Setz das auch auf meine Liste, Randall«, sagte Hans.

»Nein«, wandte ich ein. »Das ist mein Geschenk für meine Tante.«

»Kannst du sie für uns abspielen, Randall?«, bat Tilda.

Randall nahm die Schallplatte aus der Hülle, hob vorsichtig die Grammofonnadel und wechselte die Platte. Er setzte die Nadel auf die Platte, und als die Oper begann, hängte er das GESCHLOSSEN-Schild an die Tür, schloss ab und ließ den Rollladen herunter. »Es ist ein Verbrechen, wenn La Bohème gestört wird.«

Randall holte einen Stuhl aus dem Lagerraum. Ich nahm den Stuhl, Tilda und Hans setzten sich Händchen haltend auf das abgenutzte Sofa. »War Puccini mal in Kanada?«, sagte ich fast im Flüsterton zu Randall, als er vorbeiging.

»Ich weiß ganz sicher, dass er nie hier war«, antwortete Randall leise.

Nach zehn Minuten wusste ich – auch wenn ich die Worte nicht verstand –, dass diese Musik keine kleinen Gefühle zuließ. Tilda schmiegte sich eng an Hans und schloss die Augen mit einem friedvollen Gesichtsdruck. Randall legte sich auf den Boden, den Kopf auf den Stapel Schallplatten gestützt, die er für Hans herausgesucht hatte.

Hans wechselte die Schallplatte und setzte sich wieder zu Tilda auf das Sofa. Erneut fanden sich ihre Hände. Ich blickte zum Schaufenster hinüber und sah drei Männer in der Uniform der Royal Canadian Navy hereingucken. Einer von ihnen war der Kunde, der im Laden gewesen war, als Hans und Randall einander auf Deutsch begrüßt hatten. Die Männer fragten sich wahrscheinlich, warum das Geschäft geschlossen war. Ich bin sicher, dass sie La Bohème hören konnten. Ein Gesicht verschwand, und ich hörte, wie jemand versuchte, die Tür zu öffnen. Randall, Hans und Tilda waren ganz in die Musik versunken. Doch ich hatte auf einmal ein ziemlich ungutes Gefühl, auch wenn ich nicht genau wusste, warum. Ich dachte mir, es müsse wohl an den Uniformen liegen, die mich daran erinnerten, dass ich mich zur RCN gemeldet hatte und es bald mit U-Booten und anderen Horrordingen zu tun bekommen würde. Dann verschwanden die drei Männer wieder.

Als La Bohème aus war, sagte ich: »Randall, ich fürchte, wegen des Schildes sind dir ein paar Kunden entgangen.«

»Sieh’s mal so: Was wäre, wenn jemand die Oper hätte kaufen wollen, während wir sie hörten?«, erwiderte Randall. »Ich habe nur das eine Exemplar da.«

Randall suchte auch noch die restlichen Schallplatten auf der Liste, soweit er sie dahatte. Hans hatte ein bisschen zu wenig Geld eingesteckt. Ich wollte einspringen, doch Randall meinte: »Den Rest können wir mit Deutschstunden regeln.« Er verpackte die Platten einzeln in Geschenkpapier und schrieb eine Rechnung. »Wir sollten heimfahren«, sagte ich.

»Aber warum denn?«, erwiderte Tilda, und mir fiel kein triftiger Grund ein.

»Wollt ihr noch eine Oper hören?«, schlug Randall vor. »Wenn ich mal geschlossen habe, dann mache ich erst am nächsten Morgen wieder auf. Es ist mein Ding, wann ich offen habe und wann nicht.« (Ich sah, dass Hans den Satz in sein Notizbuch schrieb.)

Doch wir fuhren bald los. Die Schallplatten kamen auf den Rücksitz. Zurück in Middle Economy gingen wir – hungrig, wie wir waren – gleich in die Bäckerei. Cornelia hatte Tilda einen Schlüssel gegeben. Als wir eintraten, fanden wir eine Nachricht von Cornelia: Bin ein bisschen angeschlagen. Auf der Theke steht ein halber Kuchen. Dieser Kuchen mit Vanilleglasur war unser Abendessen. Ich verließ die Bäckerei gegen neun Uhr.

Am nächsten Morgen wurde ich wachgerüttelt, und ich sah meinen Onkel Donald, sein unrasiertes Gesicht hager und ausgezehrt, und mit einem Atem, als hätte er Sägespäne gekaut. Er hielt mir die Titelseite der Halifax Mail vors Gesicht. »Sieh dir das an, Wyatt!«, rief er. »Hier auf Seite 2. Irgendwelche Navy-Jungs haben gestern Abend in Halifax etwas unternommen.« Er warf mir die Zeitung ins Gesicht, und ich hörte, wie er das Zimmer verließ.

Ich ging in die Küche und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, dann setzte ich mich mit der Zeitung an den Küchentisch. Eine Überschrift auf Seite 2 lautete: POLIZEI ERMITTELT WEGEN EINBRUCHS: DREI RCN VERHÖRT. Und darunter: »Inhaber von Schallplattenladen in ernstem Zustand im Krankenhaus.«

Wirklich, Marlais, ich konnte es einfach nicht glauben. In dem Artikel über zwei Spalten stand, dass gestern am späten Abend Rowdys in Ballade & Fugue eingedrungen seien, den Laden auseinandergenommen und »laut Inventar des Inhabers Randall Webb 1789 Grammofonplatten mit klassischer Musik zerbrochen« hätten. Ich wusste sofort, dass es die drei Männer gewesen sein mussten, die durch das Fenster hereingeguckt hatten. Der Anführer war möglicherweise der Mann, der gehört hatte, wie Hans und Randall sich auf Deutsch unterhalten hatten. Der Artikel beschrieb weiter, wie sie Randall im Lagerraum angegriffen hatten, wie sie ihn »unflätig beschimpften und zusammenschlugen, ihm Nase, Kiefer und vier Rippen brachen und ihn mit einem Milzriss und einer schweren Gehirnerschütterung liegen ließen.« Erst um vier Uhr früh war Randall imstande gewesen, die Polizei anzurufen, die sofort einen Krankenwagen hinzunahm. Zu meiner Verblüffung war es Officer Dhomnaill – ich erkannte eindeutig sein Gesicht auf dem Foto aus Randalls Laden –, den die Zeitung zitierte: »Wir brachen die Tür auf und fanden Mr. Webb bewusstlos und blutend in den Trümmern seines Geschäfts.«

Ich fuhr zur Bäckerei, um Hans und Tilda die Nachricht zu überbringen. Es war schon neun Uhr, aber sie hatten sich eben erst zum Frühstück gesetzt. Ich hatte ja schon öfter gehört, dass Jungverheiratete manchmal länger schliefen.