16. KAPITEL
Neda Jackson stellte sich als freundliche, attraktive Mittzwanzigerin mit toller Zopffrisur heraus. y s Gracie begutachtete die beiden Zöpfe und fragte sich, ob sie diese Frisur auch einmal ausprobieren sollte.
„Schön, Sie kennenzulernen“, sagte Neda, als Gracie sie in ihr Häuschen führte. „Bei meiner Recherche habe ich herausgefunden, dass alle Ihre Kundinnen, mit denen ich gesprochen habe, ganz begeistert von Ihren Torten waren. Eine Braut lud mich sogar ein, ein Stück zu kosten. Sie hatte ihrer Mutter extra aufgetragen, mir ein Stück aufzuheben.“ Nedas dunkle Augen glänzten. „Es war köstlich! Und das sage ich, die normalerweise Kuchen gar nicht so mag. Was ist Ihr Geheimnis?“
Gracie lachte. „Tut mir leid – das wird nicht verraten. Ich habe ein Jahr lang mit verschiedenen Rezepten experimentiert, bis ich das richtige gefunden und perfektioniert hatte. Es ist ein klassisches Rührkuchenrezept, das ich je nach Geschmacksrichtung, zum Beispiel für Schokoladenkuchen, entsprechend abwandle.“
„Und an was arbeiten Sie gerade?“, wollte Neda wissen.
„Nicht den Verstand zu verlieren. Im Moment ist absolute Hochsaison. In den kommenden elf Wochen muss ich pro Woche im Durchschnitt drei Torten anfertigen. Danach wird es wieder ruhiger, mit nur zwei Torten pro Woche. Es kommt immer darauf an, wie aufwendig die Designs sind. Für Torten, die einfacher dekoriert sind, benötige ich zwischen zwanzig und dreißig Arbeitsstunden. An komplizierteren Modellen arbeite ich doppelt so lang.“
„Und Sie arbeiten allein. Das heißt, Sie sind ganz schön eingespannt.“
Gracie nickte. „Das ist richtig. Allerdings kann ich Zeit einsparen, indem ich die Dekorationen sozusagen schubweise herstelle. Vieles kann man auf Vorrat anfertigen.“
„Sie machen also alles selbst, das ist ja toll! Da kenne ich andere Beispiele. Viele Tortenkreateure sparen an diesen Details. Und ich muss sagen, bei den Preisen für solche Torten finde ich das unverschämt.“
Gracie führte ihre Besucherin ins Esszimmer, wo Hunderte von Blütenblättern und Blumen auf Tabletts trockneten.
Neda ging näher heran. „Sind das fertig gekaufte Plastikblumen?“
„Nein. Die sind essbar, und ich habe sie selbst gemacht.“
„Ist nicht wahr!“ Neda betrachtete die kleinen Kunstwerke ganz genau. „Sie sind aus Zuckerguss! Sie machen sogar die Blätter alle selbst?“
„Jede einzelne Blume und jedes einzelne Blatt fertige ich einzeln an.“
Sie gingen zurück in die Küche, wo eine zweistöckige Torte für eine Brautparty stand.
„Wie bekommen Sie die Glasur so gleichmäßig hin?“, fragte Neda bewundernd. „Das sieht toll aus.“
„Diese Torte hat eine Glasur aus Buttercreme und einen Überzug aus Fondant, deshalb sieht sie so glatt aus. An den Seiten wird die Torte mit Pünktchen in zwei verschiedenen Größen verziert.“ Gracie zeigte ihr, wie man sie festmachte. „Und das Unterteil der Torte werden rundherum Rosen zieren.“
Sie nahm eine ihrer vorgefertigten Rosen und steckte sie vorsichtig in die Torte. „Das Dekorieren ist nicht schwer, aber zeitaufwendig.“
Neda lachte. „Aber Sie müssen die Torte mit allen Designs ja auch entwerfen!“
„So ist es.“
„Das könnte ich nie.“ Neda legte ihren Notizblock ab und kramte in ihrer Handtasche nach der Digitalkamera. „Ich mache erst mal ein paar allgemeine Bilder, und dann würde ich Sie gerne dabei fotografieren, wie Sie diese Torte dekorieren.“
„Gerne.“
Gracie arbeitete weiter an der Torte, während Neda durch die Küche ging, Bilder schoss und Fragen stellte.
„Warum ausgerechnet Hochzeitstorten?“
„Das macht mir einfach Spaß. Ich überlege mir gerne neue Designs. Und es freut mich, wenn ich einen Beitrag zum schönsten Tag im Leben eines Paares leisten kann.“
„Haben Sie auch schon Katastrophen erlebt?“
Gracie seufzte. „Jemandem ist irgendwann mal die oberste Etage runtergefallen. Der Bruder der Braut hatte die Torte bei mir abgeholt – sie war in sechs Kartons verpackt, und ich sollte sie später zusammenbauen. Doch dann erreichte mich ein panischer Telefonanruf, die oberste Etage wäre heruntergefallen und kaputt gegangen. Natürlich inklusive des antiken, glasgeblasenen Schmuckornaments.“
Neda sah sie gespannt an. „Und was haben Sie gemacht?“
Während Gracie drei Rosen feststeckte, erzählte sie weiter. „Ich hatte für den nächsten Tag noch eine weitere Tortenbestellung. Die beiden Torten waren etwa gleich groß. Also stellte ich einen neuen obersten Tortenboden für Braut Nummer zwei in den Ofen und veränderte die Dekoration an der anderen Torte. Trotzdem hatten wir ja kein Schmuckornament mehr, also rief ich im Blumenladen an. Als ich bei der Hochzeitsgesellschaft eintraf, hatte der Florist schon fünf Dutzend Miniaturrosen in den Brautfarben dort angeliefert.“
Gracie erschauderte bei der Erinnerung. „Es war eine dreistöckige Torte mit Holzstäbchen dazwischen, man konnte also den Aufbau sehen. Ich hatte knapp eine Stunde Zeit, um die Torte zu retten. Also entfernte ich beinahe die gesamte ursprüngliche Dekoration, damit die beiden unteren Tortenschichten planer waren, schnitt die Rosenstiele ab und legte stattdessen Rosenknospen auf alle drei Schichten. Ich hatte noch ein paar Blütenblätter übrig, mit denen ich den Tisch dekorierte, und noch ein paar Extras für die oberste Tortenetage. Niemandem ist etwas aufgefallen, außer natürlich der Familie, die ja wusste, was passiert war.“
„Das nenne ich Stress.“ Neda beobachtete sie bewundernd.
„Ich hatte ein solches Herzklopfen!“
Die junge Frau machte noch ein paar Bilder, fragte noch ein paar Dinge und verkündete dann, das Interview sei beendet.
„Ich bin wirklich beeindruckt“, bescheinigte die junge Journalistin Gracie. „Ich finde es ganz toll, was Sie machen, und das werde ich auch in meinem Artikel zum Ausdruck bringen.“ Neda packte zusammen. „Ich habe mich auch gerade verlobt, und wir haben uns überlegt, ob wir nicht an Weihnachten heiraten wollen. Hätten Sie da vielleicht Zeit, um eine Torte für mich zu machen?“
Gracie lächelte. „Auf jeden Fall. Warten Sie, ich gebe Ihnen eine Karte mit, dann rufen Sie mich einfach demnächst an und wir besprechen die Einzelheiten. Für Hochzeitstorten an, den Feiertagen gibt es ein paar ganz besondere Ideen, schon allein bei der Farbauswahl.“
„Wunderbar. Vielen Dank. Das hat mir echt Spaß gemacht.“
„Ganz meinerseits.“
Gracie brachte die junge Frau noch zu ihrem Wagen. Auf dem Weg dorthin bemerkte Gracie mehrere Kartons, die in der Einfahrt neben ihrem Wagen standen.
„Was ist das denn?“, fragte sie und ging näher heran.
Als sie den Namen einer bestimmten Backmischung las, erstarrte sie.
„Was ist?“ Neda schaute sich interessiert um.
Es war Gracie nicht möglich, eine Antwort herauszubringen. Sie schnappte nach Luft, war wie paralysiert. Es war alles so arrangiert, als seien die beiden Kartons aus ihrem Wagen herausgefallen. Kein Wunder – der Fond ihres Subaru war bis oben hin vollgestopft mit Backmischungsschachteln.
„Soll das ein Witz sein?“, fragte die Journalistin empört. „Sie benutzen eine Fertigbackmischung? Das ist also Ihr Geheimnis?“
„Nein! Die sind nicht von mir! Als Sie ankamen, waren diese Dinger doch noch gar nicht da. Ich habe seit meinem zwölften Lebensjahr keine fertige Backmischung mehr benutzt! Da will mir jemand einen bösen Streich spielen.“
Neda schüttelte den Kopf. „Natürlich. Jemand, der wusste, dass ich zu Ihnen komme, und genau diesen Zeitpunkt abgepasst hat. Vergessen Sie das mit meiner Hochzeitstorte einfach!“
Gracie hob die Schachteln auf. Sie waren noch voll. „Bitte! Sie müssen mir glauben!“
„Ich wüsste nicht, wieso. So außergewöhnlich sind Sie nun auch wieder nicht. Das hätte mir gleich auffallen müssen.
Wütend öffnete die Journalistin die Tür ihres Wagens und warf ihre Tasche hinein. Als sie sich umdrehte, sah Gracie die Kamera in ihrer Hand. Noch bevor sie eingreifen konnte, hatte sie schon ein halbes Dutzend Fotos gemacht.
„Ach ja. Den Artikel können Sie vergessen. Wir sind eine seriöse Zeitschrift!“, rief Neda ihr zu, als sie in den Wagen stieg. „Ich kann es einfach nicht glauben! Das ist ja regelrecht Betrug! Und ich dachte, Sie wären wirklich nett. Aber Ihre Torten sind ja auch nur Fälschungen! Wahrscheinlich machen Sie die Dekorationen auch nicht selbst, deshalb lagen so viele herum. Die haben sie doch garantiert auch irgendwo gekauft!“
Neda knallte die Tür ihres Mustangs zu und rauschte davon. Schockiert sah Gracie ihr hinterher. Das darf doch nicht wahr sein, murmelte sie vor sich hin. Das darf doch alles nicht wahr sein.
Pam.
Aber ihr fiel einfach nicht der geringste Grund ein, wieso Pam ihr so etwas antun sollte. Die Frau war die ganze Zeit superfreundlich zu ihr gewesen. Sie hatte ihr sogar ihre Küche zur Verfügung gestellt.
Als sie die Schachteln in die Mülltonne warf, kämpfte sie mit den Tränen. Dann ging sie ins Haus, schnappte sich ihre Handtasche und lief wieder hinaus zu ihrem Wagen.
Riley hatte gerade sein Meeting beendet und war auf dem Weg zurück in sein Büro. Als er an den Aufzügen vorbeikam, stürmte gerade Gracie heraus. Ein kurzer Blick sagte ihm, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.
„Was ist los?“, fragte er und legte fürsorglich den Arm um sie, während er sie in sein Büro führte. „Ist jemandem was passiert?“
Gracie schüttelte den Kopf und rang nach Atem. „Die Torten. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich habe es ein paar Leuten erzählt, aber nicht vielen. Ich glaube, es war Pam – aber wieso? Sie war die ganze Zeit so nett. Jill kann es nicht gewesen sein. Meinen Schwestern würde ich es zutrauen, aber sie wussten gar nichts davon. Ich hoffe wirklich, dass es keine von den beiden war.“
Riley schob sie ins Büro und schloss die Tür. Als sie allein waren, nahm er sie in den Arm.
„Noch mal von vorn“, bat er. „Was ist passiert?“
Doch Gracie fing an zu weinen. Das heißt, zuerst reagierte sie überhaupt nicht, dann begann sie zu zittern, und schließlich schluchzte sie bitterlich.
„Ich bin ruiniert“, gelang es ihr nach ein paar Minuten zu sagen. „Total ruiniert.“
„Das ist doch Unsinn“, beschwichtigte Riley sie und küsste ihren Kopf. „Was war denn los?“
Aber nur noch mehr Tränen rannen ihre Wangen hinunter. Riley mochte Tränen nicht, für ihn stellten sie immer so etwas wie emotionale Erpressung dar. Aber Gracie wollte ihn ganz sicher nicht erpressen. Sie suchte ganz einfach nur Trost bei ihm.
Sie schniefte. „Kann ich ein Taschentuch haben?“
Er zog ein Stofftaschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es ihr. Gracie wischte sich das Gesicht ab, dann drehte sie sich um und schnauzte sich.
„Ich sehe nicht schön aus, wenn ich weine. Bitte schau weg.“
Riley zog sie wieder an sich. „Ich vergaß. Mir geht es ja nur um dein Aussehen. Und jetzt sag: Was ist passiert?“
„Heute war ja dieses Interview mit der Frau von dem Brautmagazin.“
„Okay. Und?“ Riley führte sie zum Sofa und setzte sich mit ihr hin. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Du warst charmant und wunderbar und hast einen neuen Fan gewonnen.
Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Das sollte man meinen. Sie hatte mich schon gefragt, ob ich ihre Hochzeitstorte machen würde, denn sie heiratet im Dezember. Aber jetzt ...“
Ihre Stimme erstarb, und sie fing wieder an zu schluchzen.
„Was jetzt?“, fragte Riley und wischte ihr zärtlich die Tränen ab.
„Als sie ging, brachte ich sie zum Auto. Und sie hatte mit mir über mein Geheimrezept gesprochen, meine speziellen Zutaten. Aber die verrate ich logischerweise niemandem.“
„Ich weiß, deshalb sind deine Torten so lecker. Ich habe sie probiert.“
Wieder schniefte Gracie. „Überall lagen diese Schachteln herum. Irgendjemand hat mir Packungen mit fertiger Backmischung ins Auto gelegt. Und das ganze Auto war voll davon, und in der Einfahrt lagen auch welche. Natürlich fühlte sich die Journalistin von mir verarscht, als sie das sah. Sie wurde sauer, machte Fotos von den Schachteln und nannte mich eine Betrügerin. Ich bin ruiniert!“
Gracie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und begann zu weinen. Riley legte tröstend den Arm um sie.
Gern hätte er ihr versprochen, dass alles wieder gut wird. Aber er wusste nicht, ob das stimmte. In ihrer Branche war sie auf einen guten Ruf und Mund-zu-Mund-Propaganda angewiesen. Der Artikel in der People hatte ihrem Geschäft Auftrieb verschafft. Wenn sie jetzt als eine Betrügerin dargestellt würde, würden ihre Kunden abspringen.
Dass es keine spontane Lösung für ihr Problem gab, frustrierte Riley. Dabei hätte er ihr so gerne geholfen.
„Wer sollte denn so etwas tun?“, dachte er angestrengt nach. „Wer will dir etwas Schlechtes anhängen? Oder sind vielleicht andere Tortenkreateure neidisch auf deinen Erfolg?“
Gracie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. „Was weiß ich. Wir sind nicht gerade beste Freunde. Es gibt keine monatlichen Stammtische oder so was, auf denen man sich austauscht. Ich habe nur mal ein paar Kollegen auf der Messe kennengelernt, und die waren eigentlich alle ganz nett. Aber woher sollte jemand von denen wissen, was ich mache oder wo ich gerade bin?“
„Wer wusste denn von dem Interview?“
„Du. Ich. Jill. Sie hat es wahrscheinlich Mac erzählt, aber der würde so etwas nie tun. Und natürlich Pam.“
„Meine Exfrau Pam?“
„Genau die. Sie war dabei, als der Anruf kam. Und sie hat sich noch für mich gefreut.“
„Na klar. Pam hat sich noch nie für jemanden außer für sich selbst gefreut. Für mich ist sie die Hauptverdächtige.“
Gracie richtete sich auf und sah ihn an. „Tatsächlich ist sie von allen genannten Personen die einzige, der ich nicht traue. Aber welches Motiv sollte sie haben? Es kann ihr doch vollkommen egal sein, ob ein Artikel über mich in einer Fachzeitschrift erscheint! Das ist doch nur für mich interessant, für niemanden sonst. Sie ist ja keine Konkurrenz. Mein Erfolg oder Misserfolg kratzt sie doch nicht im Geringsten.“
„Fällt dir denn sonst jemand ein?“
„Keine Ahnung.“ Gracie seufzte. „Ich verstehe es einfach nicht. Wieso? Und was soll ich jetzt bloß machen?“
„Willst du Pam damit konfrontieren?“
„Nicht wirklich. Ich will einfach nur zurück nach Hause und hoffen, das Ganze wäre nie passiert. Meinst du, das geht?“
Er streichelte ihr Haar. „Gracie, ich weiß, das fällt dir jetzt nicht leicht. Aber was wäre denn das Worst-Case-Szenario? Der Artikel über dich erscheint nicht. Okay. Aber bisher warst du gut im Geschäft – wäre es denn so nachteilig für dich, wenn kein großer Artikel erscheint?“
Gracie überlegte. „Nein, das wäre nicht das Schlimmste. Aber ich habe das dumme Gefühl, das ist noch nicht alles gewesen. Ich habe viele Torten für Prominente gemacht, weißt du. Und du weißt ja, wie die Leute selbst auf den kleinsten Skandal reagieren, wenn irgendwelche Stars im Spiel sind. Wenn Neda nur in ihrer Redaktion über mich ablästert – geschenkt. Aber was, wenn sie dafür sorgt, dass die Story veröffentlicht wird? Dann kann ich einpacken.“
In ihren Augen spiegelten sich tiefe Verletzung und Hoffnungslosigkeit. Riley wollte in seiner Hilflosigkeit am liebsten auf irgendetwas einschlagen, bis es ihr besser ging.
„Wie kann ich dir helfen?“, fragte er.
„Überhaupt nicht. Aber danke.“ Sie stand auf. „Das war lieb, dass du zugehört hast. Jetzt muss ich gehen. Ich muss noch ein paar Torten fertigstellen, bevor meine Karriere ganz im Eimer ist.“
Riley stand ebenfalls auf. „Du weißt nicht, ob es so kommt.“
„Vielleicht habe ich ja Glück. Aber ich bezweifle es.“ Am Boden zerstört wandte Gracie sich um.
Er sah zu, wie sie das Büro verließ, und ballte die Fäuste. Irgendetwas musste er doch für sie tun können, irgendwie dieses Problem lösen. Er musste sich etwas einfallen lassen. Es war einfach unerträglich, Gracie so traurig zu sehen.
Gracie stürzte sich in die Arbeit. Ihr Zuhause schien ihr momentan der sicherste Ort zu sein. Und mit dem Gedanken im Hinterkopf, schon bald könnte irgendwo ein abfälliger Artikel über sie erscheinen, musste sie dringend die Aufträge fertig machen, die sie hatte.
Sie wollte mit niemandem sprechen, nicht einmal mit Riley. Mit Jill hatte sie zwar telefoniert, ihr vorerst aber nichts von dem missglückten Ausgang des Interviews berichtet. Von Pam und ihrem Bed & Breakfast hielt sie sich fern. Lieber alle zehn Minuten die Backformen drehen als dieser Frau begegnen, dachte sie und fragte sich einmal mehr, wieso Pam ihr so etwas antun sollte.
Drei Tage später meldete sich die Welt bei ihr zurück, als es an ihrer Haustür klopfte. Gracie schaute aus dem Fenster, um zu sehen, wer es war.
„Das hat noch gefehlt“, murmelte sie, als sie ihre Mutter erblickte. „Hier kommt der nächste emotionale Tiefschlag.“
Aber sie konnte sich wohl kaum verstecken – schließlich stand ihr Wagen vor dem Haus. Also öffnete sie die Tür.
„Hallo, Mom“, sagte sie mit einer Fröhlichkeit, die ihrem Zustand so gar nicht entsprach. „Wie geht’s?“
„Okay.“ Ihre Mutter kam herein. „Nicht so toll.“
Gracie holte tief Luft. „Das tut mir leid. Ich wollte keinen Ärger machen, weißt du. Aber offensichtlich sind gewisse Kräfte am Werk, über die ich keine Kontrolle habe. Und bevor ich mir den nächsten Vortrag von dir anhören muss: danke, nicht nötig. Ich will mit dir nicht mehr über meine Beziehung zu Riley, meine Vergangenheit, meine angeblichen Probleme oder Ähnliches reden.“
„Deshalb bin ich auch gar nicht hier.“
„Ach so.“ Super. Also ging es mal wieder um die Hochzeit. Vielleicht hatte Vivians Plan ja funktioniert?
Gracie führte ihre Mutter in das kleine Wohnzimmer und deutete aufs Sofa. „Möchtest du was trinken?“
„Nein danke.“
Ihre Mutter setzte sich und wartete, bis Gracie ebenfalls in einem der Clubsessel Platz genommen hatte.
„Ich wollte mich entschuldigen“, begann ihre Mutter. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir alles tut. Ich bin eine schreckliche Mutter und ein noch schrecklicherer Mensch. Ich ekele mich vor mir selbst.“ Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.
Oh Mann. Es war wirklich rekordverdächtig, wie viel die gesamte Familie Landon in den letzten paar Wochen geheult hatte.
„Mom, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.“
„Ich weiß.“ Ihre Mutter war auf Tränen offensichtlich besser vorbereitet als Gracie, denn sie zog ein Päckchen Taschentücher aus der Tasche. „Ich habe versucht, es zu ignorieren, aber das geht nicht. Es ist wieder genau wie damals. Ich weiß, was ich dir angetan habe. Ich will nicht dasselbe noch einmal tun. Diese blöden Schnepfen können mich mal!“
Gracie blinzelte. War das ihre Mutter, die da saß und fluchte? „Ganz deiner Meinung. Aber um wen geht es denn überhaupt?“
„Ach, es geht nicht um sie. Es geht um mich.“ Ihre Mutter holte tief Luft. „Oh Gracie, du warst immer ein so fröhliches, glückliches Kind. Und dann starb dein Vater, und deine Welt zerbrach. Du warst seine Lieblingstochter.“ Sie warf Gracie ein zerbrechliches Lächeln zu. „Dabei sollen Eltern doch keine Lieblingskinder haben. Und wenn, sollen wir es nicht zeigen. Trotzdem wussten alle, dass Dad dich am liebsten hatte. Und als er dann starb, warst du völlig verloren.“
Bei dem Gedanken an ihren Vater musste Gracie schlucken. Er hatte sich immer Zeit für sie genommen, viel gemeinsam mit ihr unternommen. „Ich habe ihn sehr vermisst, ja.“
„Das weiß ich. Ich machte mir Sorgen um dich, doch ich dachte, du schaffst das. Dann zog Riley Whitefield nebenan ein, und du begannst, dich auf ihn zu fixieren. Ich wusste, das hatte etwas mit dem Verlust des Vaters zu tun. Du brauchtest einfach einen Mann in deinem Leben. Auch da dachte ich, es geht vorbei. Aber es ging nicht vorbei.“
Gracies angenehme Erinnerungen verschwanden. „Mom, das Thema hatten wir schon.“
„Ich weiß. Ich will Folgendes sagen: Die ganze Sache geriet schnell außer Kontrolle, und plötzlich wusste die ganze Stadt, dass du in ihn verknallt warst. Die Leute fingen an zu reden. Dann dieser Artikel in der Zeitung. Du warst plötzlich berühmt. Viele Leute fanden das damals rührend, andere ganz und gar nicht. Du warst so kreativ, und sie waren grausam. Sie lachten über dich und über mich. Ich fühlte mich erniedrigt, ihnen ausgeliefert, weil ich scheinbar keine Kontrolle über meine Tochter hatte. Jede Woche gab es eine neue Gracie-Geschichte.“
Gracies Wangen brannten. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie die ganze Sache für ihre Mutter gewesen sein musste. „Tut mir leid“, flüsterte sie.
„Es braucht dir nicht leidzutun. Du warst jung und zum ersten Mal richtig verliebt. Ich hätte wissen müssen, wie man reagiert. Ich hätte den Leuten sagen sollen: Das ist meine Tochter, und ich stehe zu ihr. Stattdessen habe ich versucht, dich davon abzubringen – was mir nicht gelang. Dann war Pam auf einmal schwanger, und die beiden heirateten urplötzlich. Ich dachte, ich muss dich aus der Stadt schaffen, damit nichts passiert.“
Gracie nickte und erinnerte sich daran, wie schlimm es für sie gewesen war, fortgeschickt zu werden.
„Aber ich hätte es genauso gut bleiben lassen können“, fuhr ihre Mutter fort. „Denn auf Pams und Rileys Hochzeit gab es nur ein Gesprächsthema: dich. Es wurden sogar Wetten darüber abgeschlossen, ob du auftauchen würdest oder nicht. Jeder erzählte seine Lieblings-Gracie-Geschichte, und alle sprachen darüber, wie sehr du diesen jungen Mann doch liebst. Manche Leute fanden es bewundernswert, andere äußerten sich weniger freundlich.“
Gracie zuckte zusammen. „Das wusste ich gar nicht.“
„Ich erzähle dir das nicht, weil ich grausam bin, sondern weil ich dir etwas erklären möchte. Denn der Fehler liegt bei mir. Ich konnte diesen permanenten Spott einfach nicht mehr ertragen. Als meine Schwester anbot, du könntest einige Zeit bei ihr wohnen, nahm ich das Angebot an und schickte dich weg. Ich war so schwach und egoistisch! Und dafür wollte ich mich bei dir entschuldigen.“
Tränen überströmten ihr Gesicht. „Ich habe dich so vermisst! Jeden Tag wollte ich dich anrufen und dir sagen: Komm zurück. Doch dann wurde wieder getratscht, und alles kam wieder hoch. Mit der Zeit hörte das Gerede auf, das erleichterte mich sehr. Doch ich fühlte mich schuldig, weil ich so feige gewesen war. Ich ließ zu, dass meine sogenannten Freundinnen Einfluss auf mich ausübten. So verlor ich meine Tochter.“
Das alles überforderte Gracie ein wenig. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. „Du hast mich nicht verloren.“
„Doch, das habe ich. Wir stehen uns nicht mehr nah. Du bist wütend auf mich, zu Recht, weil ich dir das angetan habe. Es gibt keine Entschuldigung für mein Handeln. Ich habe kein Rückgrat gezeigt und war dumm. Es tut mir leid, Gracie. Bitte verzeih mir.“ Sie presste eine Hand auf den Mund. „Und ich bin eine schlechte Mutter, denn von meinen drei Mädchen ist nur aus dir ein normaler Mensch geworden. Vivian ist eine egoistische, verwöhnte Göre und Alexis eine überspannte Ziege. Und dafür bin allein ich verantwortlich. Das ist alles meine Schuld.“
Gracie ging hinüber zum Sofa und umarmte ihre Mutter.
„Ist schon gut“, tröstete sie ihre Mutter.
„Nein. Ich habe dich verloren, und auch das ist allein meine Schuld. Es tut mir so leid.“
Gracie ließ sie nicht los. „Mir tut es auch leid. Ich wollte dich nicht lächerlich machen.“
„Das war nicht dein Fehler, sondern meiner. Du warst ein kleines Mädchen, verloren und hilflos vor Trauer. Das hätte ich erkennen müssen.“
Wahrscheinlich stimmte das. Trotzdem musste Gracie sich eingestehen, dass auch sie nicht ganz unschuldig war. „Bitte sag mir, dass ich mich nie mehr in einen Mann so verlieben soll!“
Ihre Mutter lachte gequält auf. „Ich glaube, über diese Phase bist du hinweg.“
Gracie ließ sie los und sah sie misstrauisch an. „Das hat sich aber vor ein paar Wochen noch anders angehört.“
„Stimmt. Aber jetzt weiß ich es besser. Wenn du mit Riley Whitefield glücklich bist, dann genieß es.“
Und gleich würde sich die Erde auftun, und Zwerge mit spitzen Hüten würden vor ihr tanzen. „Meinst du das ernst?“
Ihre Mutter nickte. „Ich will dich nicht noch einmal verlieren, Gracie. Ich weiß, dass wir diese eine Sache nicht wiedergutmachen können. Aber wir können versuchen, uns einander wieder anzunähern. Ich will Geduld haben und mir dein Vertrauen erarbeiten.“
Gracies Herz tat einen Sprung. „Oh Mom! Schon in Ordnung!
„Das ist es noch nicht. Aber hoffentlich bald.“
Sie umarmten sich wieder.
„Wie kommt es, dass du deine Meinung geändert hast?“, wollte Gracie wissen.
„Alexis und Vivian waren neulich abends da, und ich habe gedacht: Da fehlt doch eine. Und das machte mich so traurig, dass ich plötzlich nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Ich wünsche mir, dass wir alle wieder zusammen sein können. Und ich hoffe, das kannst du dir auch irgendwann wünschen.“
Von ganzem Herzen wollte sie es versuchen, auch wenn es zuerst sicher schwer würde.
Ihre Mutter drückte sie noch einmal fest, dann löste sie die Umarmung. „Jetzt habe ich dich mit all meinen Sorgen überschüttet. Aber was ist mit dir? Wie läuft das Geschäft?“
„Es haben sich ein paar Probleme aufgetan.“
„Wieso? Welche denn?“
Gracie zögerte einen Moment, dann holte sie tief Luft.
„Vor ein paar Tagen war eine Journalistin von einem Brautmagazin hier, um ein Feature über mich zu machen.“
„Das ist doch toll!“
„Nicht ganz so.“
Und dann erzählte Gracie, was passiert war.
Als sie fertig war, sah ihre Mutter sie überrascht an. „Von wem könnten diese Verpackungen stammen?“
„Ich habe keine Ahnung. Eigentlich wusste niemand von dem Interview. Außer mir, Riley, Jill – und Pam.“
Anscheinend gab es noch mehr Leute, die Pam nicht leiden konnten. „Pam ist ein Miststück. Was hast du mit ihr zu schaffen?“
Gracie musste lachen. „Das nenne ich ein spontanes Urteil.“
Ihre Mutter wischte ihre Bemerkung mit einer Handbewegung weg. „Ich habe Pam nie gemocht. Keiner mag sie. Sie denkt immer nur an sich. Aber wieso sollte ausgerechnet sie dich in die Pfanne hauen?“
„Genau das ist die Frage.“
„Ich höre mich mal um“, schlug ihre Mutter vor. „Irgendwer hat bestimmt Informationen. Schade, dass Vivian ihre Hochzeit nicht in ihrem Bed & Breakfast feiern möchte. Dann würde ich permanent Änderungswünsche angeben.“
Gracie zuckte zusammen. „Wegen der Hochzeit ...“
„Nicht dein Problem“, sagte ihre Mutter, „und außer den Absageanrufen auch nicht mehr meins. Ich bin es langsam leid, dauernd für Vivian die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Sie muss endlich mal erwachsen werden und einsehen, dass das, was sie tut, Konsequenzen hat.“
„Wirklich?“
„Versprochen.“ Ihre Mutter umarmte sie wieder. „Hast du Kuchen da?“
„Natürlich. Komm mit.“
Riley las noch einmal den Bericht des Privatermittlers. Nichts. Kein Hinweis auf einen mysteriösen Reporter oder darauf, dass der Bürgermeister etwas im Schilde führte. Riley hatte den Mann sogar gebeten, Pam zu folgen. Doch bisher hatte sie sich als vorbildliche Bürgerin erwiesen.
Es ist frustrierend, dachte Riley, als er durch Los Lobos fuhr. Trotz Nachforschungen gab es keinen einzigen Hinweis. Und wieso wollte jemand Gracie schaden?
Jetzt musste er sich allerdings einem anderen Problem zuwenden. Deshalb war er auch auf dem Weg zu Zeke. Riley betrat dessen Versicherungsgeschäft kurz vor Dienstschluss.
„Ist Zeke noch da?“, erkundigte er sich bei der Sekretärin.
„Ja. Darf ich fragen ... Oh, Mr. Whitefield. Ich sage ihm, dass Sie hier sind.“
Riley lächelte ihr zu. „Nicht nötig. Ich kenne den Weg.“
Er ging den kurzen Gang entlang und öffnete die Tür zu Zekes Büro, ohne anzuklopfen.
Zeke blickte auf. „Hey, Boss. Was machst du denn hier?“ Er schaute auf seinen Terminkalender. „Habe ich ein Meeting verpasst?“
„Nein.“ Riley ging hinüber zu Zekes Schreibtisch und hockte sich auf die Kante. „Wusstest du eigentlich, dass ich, nachdem ich Los Lobos verlassen hatte, erst mal in den Norden ging?“
Zeke runzelte die Stirn. „Nein. Hätte ich das wissen müssen?
Riley zuckte die Schultern. „Wohl nicht. Ich habe mich auf Fischerbooten in Alaska verdingt. Harte Arbeit. Lange Arbeitszeiten. Ich war ein Junge aus einer kleinen Stadt und hatte keine Ahnung von der Welt. Aber ich habe schnell gelernt. Habe mich mit vielen älteren und stärkeren Typen angelegt. Nachdem ich mir ein paar Mal richtig eine gefangen hatte, wusste ich Bescheid.“
Nervös rutschte Zeke auf seinem Stuhl herum. „Das können wir für die Kampagne nicht gebrauchen, würde ich sagen.“
„Aber es ist trotzdem interessant. Und auf den Ölbohrinseln ging es noch schlimmer zu. Gemeinschaftsunterkünfte, viele Individualisten, alles raue Kerle. Wenn es da zu einer Prügelei kommt, kann das Stunden dauern.“
„Willst du den Bürgermeister verprügeln?“ „Nein. Ich hatte es eher auf dich abgesehen.“ Zeke riss die Augen auf. „Auf mich? Was habe ich denn getan?“
„Du hast Geheimnisse vor mir. Und ich muss dir sagen, das gefällt mir nicht. Sie regen deine Frau auf, was mir egal ist, aber deine Frau erzählt Gracie davon, und das belastet Gracie. Und sie ist mir nicht egal. Diese ganze Scheiße mit den Fotos haben wir deiner Geheimniskrämerei zu verdanken. Ich kann nicht viel für Gracie tun, aber das hier zumindest kann ich regeln. Also – sag mir jetzt, wohin du jeden Abend verschwindest und was du dort treibst!“