12. KAPITEL
Riley achtete genau auf Gracies Reaktion. Sie erschrak kurz, ihr Mund zuckte, und plötzlich ließ sie die Schultern hängen. Offensichtlich hatte sie nicht vorgehabt, über dieses Thema zu reden. Bedeutete das vielleicht, sie hatte ihm doch eine Falle gestellt? Oder gleich mehrere?
Eigentlich meinte er, Gracie zu kennen. Aber tat er das wirklich? Sie war lustig und intelligent und hatte das Herz auf dem rechten Fleck, aber er war schon öfter von Frauen ausgenutzt worden. War sie wirklich anders, oder stellte sie sich nur geschickter an?
„Komm rein“, lud sie ihn ein und ging vor.
Er folgte ihr in die Küche, wo sie ihre Handtasche abstellte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich zu ihm um.
„Es war nur ein Mal“, sagte sie und klang eher defensiv als anklagend. „Die Chancen, dass dabei etwas passiert ist, sind wirklich sehr gering.“
Es war ihm immer noch unbegreiflich, wie das alles überhaupt hatte passieren können. Seit der angeblichen Schwangerschaft Pams war er immer vorsichtig gewesen. Aber gestern Abend ...
„Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich würde es gerne bestätigt wissen.“
Sie nickte und ging hinüber zu ihrem Wandkalender. Aufkleber mit Torten steckten in verschiedenen Tagen, und daneben standen Orte, mit schwarzem Filzstift geschrieben. Sie zählte zweimal nach, dann sagte sie seufzend: „Meine nächste Periode sollte in zwölf Tagen kommen.“
Riley brüstete sich natürlich damit, dass er gut im Bett war. Aber mit den fruchtbaren Tagen der Frau kannte er sich nicht besonders gut aus. Allerdings glaubte er, schon einmal gehört zu haben, dass mitten im Zyklus die gefährlichste Zeit war. Verdammt.
„Und wann kann man herausfinden, ob man schwanger ist?
„Ich habe keine Ahnung. Nach ein paar Tagen. Ich habe noch nie einen Schwangerschaftstest gemacht. Aber angeblich geht es sehr schnell.“
Ihre Augen waren vor Schreck geweitet, als sie ihn zu beruhigen versuchte. „Findest du nicht, es ist ein bisschen zu früh für diese Unterhaltung? Wollen wir nicht erst mal abwarten?“
„Ja, klar.“
Er hatte erfahren, was er wissen wollte. Er würde so lange abwarten müssen, bis sie entweder ihre Tage bekam oder der Test positiv ausfiel. So eine Nummer wie mit Pam wollte er nicht noch einmal erleben, aber diesmal würde er sich auch nicht seiner Verantwortung entziehen. Es war inzwischen einundzwanzig Jahre her, dass sein Vater aus seinem Leben verschwunden war, aber Riley erinnerte sich noch ganz genau an jenen Tag. Er würde seinem Kind so etwas nie antun.
„Irgendwie läuft im Moment alles schief bei mir.“ Grade schluckte. „Noch so ein Hammer, und ich breche zusammen. Ich muss die Hochzeitstorten fertig machen, da ist das Problem mit meiner Familie, du, dieser Typ, der uns verfolgt, die Bilder in der Zeitung. Noch einen Schock verkrafte ich nicht.“
Sie langte nach ihrer Handtasche und zog ihre Tabletten heraus. Nachdem sie sich zwei eingeworfen hatte, seufzte sie.
„Ich bin echt stark, was?“
„Du machst das gut.“
„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich dachte, es wäre schön, wieder hier zu sein, aber das ist es nicht. Wer war bloß dieser Typ gestern Abend? Ist er hinter dir oder mir her? Vermutlich hinter dir, wegen der Wahl, in ein paar Tagen ist ja dein Rededuell. Trotzdem ist es gruselig. Und dann die Sache mit der Zeitung. Ich fühle mich so mies wegen dieses Fotos. Dabei ist es gar nicht meine Schuld. Und trotzdem ...“
Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen.
„Ich bin eine furchtbare Gastgeberin“, sagte sie unvermittelt. „Im Kühlschrank ist ein Stück Kuchen und etwas zu trinken. Bedien dich.“
Sie wirkt nicht wie jemand, der meinen Niedergang plant, dachte er. Ganz sicher spielte Gracie kein falsches Spiel mit ihm. Die Frage war nur, mit welchem Körperteil er dachte: dem Kopf oder ...? Denn er begehrte sie schon wieder, auch jetzt, wo sie frustriert und niedergeschlagen vor ihm saß.
„Hast du nichts Richtiges zu essen da?“, fragte er.
Sie sah ihn an. „Wie bitte?“
„Immer bietest du mir nur Kuchen an. Gibt es hier kein Sandwich oder ein Stück Wurst?“
Impulsiv richtete Gracie sich auf. „Ich habe nie Brot im Haus. Das wäre der reine Irrsinn.“
„Aber Kuchen.“
„Ich stelle Kuchen her. Da ist es schwer, keinen im Haus zu haben. Aber kochen in dem Sinne tue ich nicht, also gibt es hier auch keine Wurst. Ich habe vermutlich irgendwo eine Dose Suppe. Und Thunfischsalat, mein Hauptnahrungsmittel.“
„Isst du irgendwas anderes als Kuchen und Thunfisch?“
„Klar. Salat. Obst. Und Müsli dürfte auch im Schrank sein.“
Er verzog das Gesicht und setzte sich neben sie. „Nein danke.“
„Das ist aber echt lecker.“
„Das ist doch gelogen.“
„Ein bisschen.“ Sie sah ihn an. „Bist du noch sauer auf mich?“
„Ich war nie sauer auf dich.“
Gracie seufzte. „Doch, warst du. Als ich in Los Lobos auftauchte. Am Ende glaubst du ... Ich weiß ja nicht, was du glaubst, aber ... Es ist auf jeden Fall so, dass ich mit dieser ganzen Sache nichts zu tun habe.“
„Ich weiß.“ Auch wenn er immer noch ein bisschen zweifelte, so wollte er ihr doch glauben. „Ich habe mittlerweile einen Privatermittler aus L. A. engagiert. Er kommt morgen früh her und macht sich auf die Suche nach diesem Fotografen. Sobald wir wissen, wer die Bilder gemacht hat, wissen wir auch, wer dahintersteckt.“
Während er sprach, suchte Riley nach Anzeichen von Panik oder Sorge. Doch sie erwiderte nur seinen Blick und sagte dann: „Ich bin überaus gespannt, wer es ist. Mit dieser Gewissheit wird es uns beiden gleich viel besser gehen.“
Was hatte das jetzt zu bedeuten? Natürlich wollte er selbst, dass Gracie unschuldig war – und das ärgerte ihn. Er hatte sich nie wieder auf eine Frau einlassen wollen und sah keinen Sinn darin, mehr als eine Nacht mit einer Frau zu verbringen. Auf Distanz zu bleiben bedeutete nämlich auch, nicht betrogen zu werden. Was tat er also immer noch hier?
„Meine Schwestern haben mich heute ins Kreuzverhör genommen“, berichtete Gracie nun. „Es war schrecklich. Alexis glaubt, ich wäre von dir besessen. Offensichtlich hat sie vergessen, dass ich nur ihretwegen mit dir in Kontakt gekommen bin. Und Vivian ist felsenfest überzeugt davon, dass ich eine schreckliche Schulzeit hatte, ein Sonderling ohne Freundinnen oder Freunde war. Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf kommt, denn ich war wirklich ganz normal. Ich war sogar Cheerleader.“
„Ja, diese aufgesetzte Fröhlichkeit merkt man dir heute noch an.“
Misstrauisch musterte sie ihn. „Bei mir ist nichts aufgesetzt, und gerade bin ich auch nicht besonders fröhlich.“
„Du bist nur ein bisschen aus dem Takt.“
„Damit kann ich leben. Ich habe vielleicht eine verdrehte Sichtweise der Welt, aber das gefällt mir an mir.“ Doch plötzlich ließ sie die Schultern hängen. „Pam verwirrt mich.“
„Meine Exfrau Pam?“
„Ja, wer sonst. Wenn ich in meiner neuen Küche bin, begegnen wir uns häufiger. Und weißt du was? Sie ist richtig nett zu mir.“
Damit hatte er nicht gerechnet. „Reden wir über dieselbe Pam?“
„Ja. Die große schlanke Blondine mit den schicken Klamotten.“ Gracie lehnte sich zurück. „Das wurmt mich wirklich, das kann ich dir sagen. Aber sie ist tatsächlich ungeheuer nett. Und sogar über dich redet sie nicht schlecht.“
„Sie ist ein guter Mensch.“
„Das ist schon echt ein bisschen gruselig. Fast habe ich den Wunsch, sie zu mögen, aber das geht auch nicht. Trotzdem weiß ich nicht, wieso sie so nett zu mir ist. Jill meinte, sie wäre immer noch eine totale Zicke, aber bei mir ist sie ganz anders. Vielleicht führt sie ja etwas im Schilde?“
„Du meinst, du kaufst ihr die neue Freundlichkeit nicht ab?“
„Es ist zwar fies, dass ich ihr so was zutraue, aber ich kann nicht anders. Ich versuche, sie zu mögen, aber eine innere Stimme hält mich irgendwie davon ab. Das bedeutet entweder, sie spielt mir tatsächlich etwas vor, oder ich bin echt ein Arsch.“
„Du bist kein Arsch.“
„Um das zu beurteilen, kennst du mich zu wenig.“
„Ich kenne dich gut genug.“
Er stand auf und streckte ihr die Hand hin, dann zog er sie in seine Arme.
„Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du Pam nicht leiden kannst“, flüsterte er und küsste sie auf die Stirn. „Ich werde es ihr nicht verraten.“
„Sehr lieb von dir.“ Gracie schmiegte sich eng an ihn.
Das fühlt sich gut an, fand Riley. Warm. Weich.
„Was machst du denn da?“, tadelte sie ihn im Spaß. „Was ist mit deinen Vorsätzen?“
Riley sah ihr in die Augen, in diese blauen Augen, bis auf den Grund ihrer Seele. Es gab keine Geheimnisse mehr, keine schwarzen Flecken. Entweder war er also ein Riesentrottel und sie eine fantastische Schauspielerin – oder er begab sich gradewegs auf ein Terrain, auf dem er nichts zu suchen hatte.
„Ich habe dir ja schon gesagt, dass man dich nicht vergessen kann“, antwortete er.
Sie erwiderte seinen Blick. „Die anderen zwei V stehen übrigens noch aus. Wie du weißt, haben wir gestern nur miteinander geschlafen.“
Auch wenn er in diesem Augenblick lieber nicht daran denken wollte, nickte er. „Stimmt. Wir haben uns gestern geliebt.“
Irgendwie schienen diese Worte aus der Tiefe seiner Seele zu kommen. Was war bloß mit ihm los? Noch nie hatte er das gesagt, geschweige denn Sex mit dem Gefühl der Liebe verbunden. Bis jetzt, mit Gracie.
Abrupt ließ Riley sie los. „Ich muss gehen“, sagte er unvermittelt.
„Alles klar. Schön, dass du da warst.“
Er winkte ihr noch einmal zu, drehte sich auf dem Absatz um und ging.
Man muss Prioritäten setzen, versuchte er sich einzureden. Und die durfte auch er nicht vernachlässigen: keine Beziehungen eingehen, keine Gefühle entwickeln und nicht bleiben. Und daran konnte nichts etwas ändern, weder diese Stadt noch Gracie.
Den Morgen vor dem Rededuell verbrachte Riley in seinem Büro in der Bank. Die Kreditabteilung hatte gerade ihren Wochenbericht vorgelegt, den Diane ihm gleich weitergegeben hatte.
„Das Geschäft läuft gut“, stellte sie fest, als er den Ordner durchsah. „Sehr viele Kredite für private Immobilien.“
„Das sehe ich selbst“, entgegnete er ihr. Ihm war klar, dass sie ihn auf einen Punkt aufmerksam machen wollte, den er zu ignorieren versuchte.
„Diese Leute – unsere Kunden – erwarten, dass sie dreißig Jahre Zeit haben, ihre Schulden zu bezahlen. Was soll aus ihnen werden?“
Riley gab keine Antwort. Sie wussten beide, was passieren würde. Wenn er die Bank dichtmachte, würden die Kredite aufgelöst. Alle Kunden würden sich innerhalb von drei Monaten um eine neue Finanzierung kümmern müssen. Wenn es ihnen nicht gelang, würden sie unter Umständen sogar ihr Zuhause verlieren.
„Ich weiß, dass Sie Ihren Onkel für einen widerlichen Kotzbrocken halten, Riley. Aber warum wollen Sie andere Menschen dafür büßen lassen?“
Riley war schockiert. Er starrte seine Sekretärin entgeistert an. Wunderte er sich mehr darüber, dass sie ihn zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte, oder über ihre Direktheit.
„Sie begeben sich auf dünnes Eis“, antwortete er.
Lächelnd konterte Diane: „Haben Sie etwa vor, mich zu entlassen?“
„Nein.“
„Dann wüsste ich nicht, welcher Gefahr ich ausgesetzt sein sollte.“ Ihr Lächeln erstarb. „Sie könnten hier viel Gutes tun“, fuhr sie fort. „Sie haben die Herausforderung angenommen. Die Arbeit macht Ihnen Spaß. Hier geht es nicht einfach um Ihren Onkel. Hier geht es um eine ganze Stadt.“
„Wissen Sie was? Diese Stadt interessiert mich einen Scheißdreck!“
Eine sehr lange Zeit blickte sie ihn wortlos an. „Dann habe ich mit meiner Einschätzung falsch gelegen, dass mehr von Ihnen zu erwarten ist.“
Ohne ein Wort hinzuzufügen, verließ sie das Büro. Als er wieder allein war, drehte Riley sich in seinem Stuhl um, damit er das Porträt seines Onkels betrachten konnte.
„Tut mir leid, Alter“, sagte er. „Ich habe kein Interesse daran, für deine Stadt den großen Retter zu spielen. Du dachtest, diese Runde ginge an dich, weil ich alles dafür tun würde, an das Geld zu kommen. Aber die Dinge werden sich nicht so entwickeln, wie du dir das gewünscht hast. Ich werde gewinnen und bereue nur eins: dass du nicht mehr miterleben kannst, wie ich dich fertigmache.“
Gracie traf kurz vor drei beim Gemeindezentrum ein. Sie verband eine Menge Erinnerungen mit dem alten Gebäude. Hier hatten viele Schulveranstaltungen stattgefunden und auch die Treffen ihrer Pfadfindergruppe. Im ersten Stock gab es mehrere kleinere, klassenzimmerähnliche Räume und im Erdgeschoss eine große Aula. Ihr war klar, dass das Rededuell wahrscheinlich dort stattfinden würde, dennoch schlug sie nicht diese Richtung ein. Stattdessen ging sie um das Gebäude herum zum Hintereingang, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dort traf sie auf Jill, die vor der Tür stand. Ihre Freundin winkte ihr zu.
„Ich habe uns zwei Plätze reserviert“, flüsterte Jill leise. „Beeil dich, es geht gleich los.“
Die Lichter über dem Publikum waren bereits abgedunkelt, nur die beiden Kandidaten auf der Bühne saßen im Licht. Langsam kehrte Ruhe in die flüsternde Menge ein.
Jill führte Gracie zu den beiden Stühlen, die sie ganz rechts an der Seite für sie frei gehalten hatte, in der drittletzten Reihe. Gracie ließ ihre Freundin zuerst hineinschlüpfen, sodass sie selbst außen sitzen und sofort hinausgehen konnte, falls es nötig sein sollte.
„Es sind ganz schön viele Leute da“, beruhigte Jill ihre Freundin, nachdem sie sich umgesehen hatte. „Ich schätze, keiner merkt überhaupt, dass du hier bist.“
„Wollen wir’s hoffen“, murmelte Gracie. „Mit so vielen Zuhörern hatte ich nicht gerechnet.“
„Ich auch nicht. Außerdem wird die Debatte live im Radio übertragen.“
Gracie rutschte tief in ihren Sitz und versuchte, niemanden anzusehen. „Dann wäre ich wohl besser zu Hause geblieben und hätte dort zugehört.“
Aber in Wahrheit hatte sie Riley sehen wollen. In seiner Nähe zu sein war für sie wie eine Lebensquelle. Natürlich war es dumm gewesen, mit ihm zu schlafen, aber sie ärgerte sich trotzdem nicht. In seinen Armen hatte sie allen Kummer vergessen. Und gestern Abend ... als er sie gehalten hatte ... Sie wünschte sich, er würde sie nie mehr loslassen.
Ihr Verstand schlug schon wieder Alarm, aber sie versuchte, es zu ignorieren. Sich auf Riley einzulassen war in vielerlei Hinsicht ein Fehler. Selbst wenn es wirklich Liebe war zu dem Mann, den sie als liebestoller Teenager verfolgt hatte, war ihrer beider Leben doch völlig unvereinbar. Seine Vorstellung von einer langfristigen Beziehung endete nach maximal zwei Nächten – während sie von „für immer“ träumte. Bis vor Kurzem hatte er noch auf einer Ölbohrinsel gelebt, und sie war kaum aus ihrem Viertel herausgekommen. Sie hatten null Gemeinsamkeiten und ...
Sie runzelte die Stirn. Abgesehen von seiner angeblich bestehenden Bindungsunfähigkeit – worin bestand eigentlich das Problem? Er war ein toller Mann, sie mochte ihn, und sie hatten gemeinsam viel Spaß. Analysierte sie vielleicht einfach zu viel? Gab es ...
„Und wie läuft’s bei dir?“, fragte Jill sie leise. „Was machen die Torten?“
„Alles gut. Ich habe total viel zu tun, wie immer um diese Jahreszeit. Nur die Sache mit Pam finde ich etwas schwierig. Sie ist so ... nett.“
Jill riss die Augen auf. „Ist nicht wahr.“
„Ich weiß. Mir kommt es ja auch seltsam vor. Aber es ist wirklich so. Sie ist nett, freundlich und hilfsbereit. Sie spricht sogar nett über Riley. Ich weiß nur nicht, ob ich ihr glauben oder lieber weiterhin wachsam sein soll.“
„Du weißt, wozu ich dir raten würde.“
„Ja. Ich soll mich fern von ihr halten und immer wachsam bleiben.“
„Genau. Und sonst? Alles in Ordnung?“
Gracie nickte. Sie würde zwar gerne über ihre Familie reden, aber das war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Und was mit Riley passiert war, konnte sie Jill auch nicht anvertrauen. Irgendwann würde sie ihr alles erzählen, aber nicht jetzt, wo sie von Menschenmassen umgeben waren.
Im Prinzip gab es nichts zu bereuen. Die Möglichkeit einer Schwangerschaft könnte zwar ein Problem werden, aber irgendwie schien ihr das vollkommen unwahrscheinlich. Rein statistisch gesehen war es so gut wie ausgeschlossen. Aber andererseits wäre es natürlich die reine Ironie des Schicksals, wenn sie jetzt schwanger würde. Schließlich war es Pam damals nur unter Vortäuschung einer Schwangerschaft gelungen, Riley zu heiraten.
Aber wahrscheinlich würde Riley sie sowieso nicht heiraten, sollte sie tatsächlich ein Kind erwarten. Dann wäre sie eben eine alleinerziehende Mutter, auch wenn sie das eigentlich nicht vorgesehen hatte. Aber sie würde ihr Kind nicht im Stich lassen. Es war schon in Ordnung, wenn Riley sie verlassen würde. Aber musste er seinem Kind so etwas antun? Andererseits war ein Kind allein auch keine besonders tolle Grundlage für eine Ehe. Dann wäre die Ehe nichts als eine lästige Pflicht. Sie verband mit der Ehe dagegen die romantische Vorstellung von „für immer“ und „bis der Tod euch scheidet“.
„Woran denkst du?“ Jill sah ihre Freundin durchdringend an. „Du hast gerade einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck.“
„Woher wusstest du, dass Mac der Richtige ist?“
Jill seufzte. „Ich wusste es einfach. Zuerst waren wir ja auch nur gute Freunde.“ Sie lächelte. „Na gut. Ich war von Anfang an total hinter ihm her. Er ist so sexy! Jedenfalls war es immer toll, wenn wir zusammen waren. Je besser ich ihn kennenlernte, desto mehr wollte ich ihn. So kam eins zum anderen, und plötzlich hatte ich mich in ihn verliebt. Weshalb fragst du?“ Jill sah sie argwöhnisch an. „Du bist doch nicht etwa ...?“
„Guten Abend, sehr verehrte Damen und Herren“, erklang in diesem Moment die Stimme des Moderators. „Willkommen zu unserem ersten und einzigen Rededuell der Bürgermeisterkandidaten, Franklin Yardley und seinem Herausforderer Riley Whitefield.“
„Glaub ja nicht, ich würde vergessen, was ich dich gerade fragen wollte“, raunte Jill ihr noch zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen auf der Bühne zuwandte.
Gracie war diese Unterbrechung sehr recht. Jetzt lauschte sie der Vorstellung der beiden Kandidaten. Franklin Yardley sah so schleimig und glatt aus wie immer. Er war wesentlich älter als sein Konkurrent. Riley hatte den Vorteil der Jugend, der Frische und des Geheimnisvollen auf seiner Seite. Sie jedenfalls fand ihn sehr ansprechend, und da schien sie nicht die einzige Frau im Saal zu sein, die das so empfand.
Der Moderator erklärte, wie das Duell ablaufen würde. Zunächst sollte jeder Kandidat ein kurzes Statement abgeben. Dann folgte eine Fragerunde durch das Panel, das aus Zeitungsjournalisten und Professoren der Universität von Santa Barbara bestand. Abschließend bekamen beide Kandidaten die Gelegenheit zu einem vierminütigen Fazit. Vor der Debatte hatten die beiden Männer ausgelost, wer beginnen würde. Es traf Riley, der damit aber auch das letzte Wort haben würde.
Bei seiner Vorstellung erhob er sich. Gracie war sehr gespannt auf seine Rede. Er sieht echt gut aus, dachte sie. Der dunkle Anzug steht ihm. Seine Haare waren kurz geschnitten und aus dem Gesicht gekämmt. Und der Ohrring glitzerte im Licht der Scheinwerfer.
Ob die Bewohner von Los Lobos einen Mann mit Ohrring zu ihrem Bürgermeister wählen würden?
„Bürgermeister Yardley ist seit sechzehn Jahren im Dienst für unsere Gemeinde tätig“, begann Riley mit einem gewinnenden Lächeln. „Mein halbes Leben. Er kennt Los Lobos in guten und schlechten Zeiten, in Jahren mit starkem Touristenaufkommen und in Jahren mit weniger starkem Touristenaufkommen. Er weiß, worauf es in diesem Amt ankommt. Vermutlich kann einen Profi wie ihn, der so viele Talente besitzt, nach so langer Zeit nicht mehr viel überraschen.“
Riley sah sich im Saal um. Gracie hätte schwören können, dass sich ihre Blicke für eine Sekunde kreuzten, doch eigentlich saß sie viel zu weit hinten. Er konnte sie unmöglich sehen.
„Ich bin in den letzten vierzehn Jahren durch die Welt gereist“, fuhr Riley fort. „Doch zu guter Letzt gibt es nur einen Ort, den ich mein Zuhause nennen kann. Während meine sentimentale Seite sich freut, dass sich hier in Los Lobos während dieser Zeit nicht allzu viel verändert hat, fragt sich der Geschäftsmann in mir, ob so etwas gut sein kann für eine Gemeinde. Wenn wir uns für unsere Kinder eine bessere Zukunft wünschen, mit besserer Ausbildung und einem besseren Lebensstandard, dann müssen wir mehr Geld in Bildung investieren. Wenn wir eine Gemeinde sein wollen, die auf eigenen Füßen steht und nicht auf alle Zeiten vom Touristendollar abhängig sein will, dann müssen wir einen wohl überlegten, innovativen Plan ausarbeiten, der uns nach vorne bringt, ohne dass wir die Werte und Überzeugungen, die unsere Stadt ausmachen, aufgeben.“
„Das macht er gut“, flüsterte Jill. „Ich bin beeindruckt.“
„Ich auch.“
Riley mochte als Bürgermeisterkandidat antreten, weil es eine Bedingung im letzten Willen seines Onkels war. Doch offensichtlich fühlte er sich mittlerweile in dieser Rolle auch ziemlich wohl.
Er beendete sein Statement zu donnerndem Applaus. Nun war der amtierende Bürgermeister an der Reihe. Er zählte die Errungenschaften seiner Amtszeit auf. Neben Riley wirkte er irgendwie fehl am Platz, außerdem fühlte er sich offensichtlich unwohl.
Und auch während der Fragerunde blieb dieser erste Eindruck erhalten. Riley schien jede Frage mit neuem Elan anzugehen, während Yardley gebetsmühlenartig herunterratterte, was er in der Vergangenheit geleistet hatte. Selbst von ihrem Platz in den hinteren Reihen konnte Gracie sehen, dass der ältere Mann ins Schwitzen kam.
„Das Ding holt Riley“, raunte Jill ihr zu. „Er wird den Sieg davontragen.“
Gracie spürte ein Gefühl des Stolzes, als hätte sie Anteil an Rileys Erfolg. Nachdem er sein Fazit beendet hatte, standen die Leute auf und jubelten ihm zu. Erst nach etlichen Minuten konnte Franklin Yardley sein abschließendes Statement beginnen.
„Mein Herausforderer scheint Sie für sich eingenommen zu haben“, sagte der Bürgermeister langsam. „Und mir ist auch klar, wieso. Er ist neu, und er strahlt. Er hat viele große Ideen. Aber es braucht mehr als große Ideen, um eine Stadt zu führen. Man benötigt Erfahrung, und man braucht Charakter. Sie alle kennen mich, Sie sind meine Nachbarn, meine Freunde. Sie sitzen gemeinsam mit meiner Frau in Ausschüssen, sind mit meinen Kindern zur Schule gegangen, haben mit mir Golf gespielt.“
Yardley sah in die Menge und lächelte. „Sie kennen meine Geheimnisse – alle meine guten und meine schlechten Seiten.“
Kichern im Publikum. „Du spielst beschissen Poker, Franklin“, rief jemand.
Der Bürgermeister nickte. „Das stimmt. Mir fehlt das passende Pokerface. Ich kann nicht lügen, selbst wenn ich damit meine Seele retten würde. Mir sind bestimmte Dinge wichtig. Meine Familie. Diese Stadt. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Vier Generationen Yardleys haben als Bürgermeister in Los Lobos gedient.“
Er hielt inne und holte tief Luft. „Aber vielleicht ist es Zeit für eine Veränderung. Vielleicht habe ich jetzt alles getan, was ich tun konnte. Aber ist wirklich Riley Whitefield der richtige Mann für Los Lobos? Er ist jung. Er ist unerfahren. Er zog durch die Welt, während er eigentlich hier etwas zu erledigen hatte. Die meisten von ihnen wissen, dass er wegging, um reich zu werden, während seine Mutter hier mit dem Krebstod rang. Er kam nicht mehr zurück, um sie noch einmal zu sehen. Das ist nicht das Vorbild, das ich mir für meine Kinder wünsche.“
Gracie verspannte sich. „Das stimmt überhaupt nicht“, flüsterte sie Jill zu. Die Menge wurde unruhig. „Er wusste gar nichts von ihrer Krankheit.“
„Meinst du, das interessiert Yardley?“, fragte Jill.
Gracie sah zur Bühne, gespannt auf Rileys Reaktion. Doch der blieb ganz ruhig sitzen, seine Miene war unverändert.
Mit den Anschuldigungen sollte es jedoch noch nicht zu Ende sein. Der Bürgermeister beugte sich nach vorn. „Damals war Riley noch ein kleiner Junge, er war gerade einmal achtzehn Jahre alt. Gut, es war nicht leicht für ihn. Er hatte ein Mädchen geschwängert, heiratete sie, ließ sich kurz darauf wieder scheiden. Doch wir alle werden irgendwann erwachsen. Aus dem kleinen Jungen wurde ein Mann. Man verändert sich. Das heißt, manche verändern sich. Bei Riley Whitefield bin ich mir da nicht so sicher.“
In Gracies Magen begann es zu brennen. Sie hatte die dumpfe Vorahnung, dass es gleich noch schlimmer kommen würde.
Franklin Yardley sah Riley an, dann das Publikum. „Wer soll Ihrer Gemeinde vorstehen? Ein Mann, den Sie kennen und dem Sie vertrauen, ein Mann, der Sie nie belogen oder betrogen hat? Oder Riley Whitefield, den keiner von uns wirklich kennt? Ein Mann, der seine sterbende Mutter im Stich gelassen hat und nun zurückgekehrt ist, um sich an Gracie Landon zu rächen, der Frau, die ihn jahrelang aufopferungsvoll liebte. Doch er zahlte es ihr mit Betrug und Verachtung heim. Nun ist sie nicht nur schwanger von ihm, sondern Riley weigert sich auch, sie zu heiraten!“