15. KAPITEL
Gracie hatte immer noch alle Hände voll zu tun, als sie am Nachmittag nach Hause fuhr. Weitere Dekorationen warteten, und die gelangen ihr am besten, wenn sie allein war und nicht jemand wie Pam ständig dazwischenquasselte.
Also breitete sie alles, was sie brauchte, im Esszimmer aus und holte sich dann die Entwürfe für die drei Torten, die fertiggestellt werden mussten. Fünf Minuten später hielt sie eine Auflistung aller Dekorationsmaterialien in der Hand, Bruchmaterial inklusive. Es war jedes Mal wieder eine Herausforderung, aber auch diesmal würde sie es schaffen. Außerdem stand sie nun, nachdem diese Frau von der Brautzeitschrift angerufen hatte, noch mehr unter Druck.
„Ein sechsseitiges Feature“, sagte sie laut zu sich selbst, um sich an der Vorstellung zu laben. Das waren doch mal schöne Aussichten!
Durch den Artikel in der Zeitschrift People war sie bekannter geworden. Aber ein großer Artikel in einer Fachzeitschrift für alles rund um die Hochzeit würde genau ihre Klientel erreichen. Die kostenlose Werbung nahm ihr die Entscheidung vorweg, wie es mit ihrer Firma weitergehen sollte. Sie würde definitiv expandieren.
Gracie begann, die Blätter herzustellen. Nachdem sie die Fondantmasse gleichmäßig ausgerollt hatte, benutzte sie eine Schablone für die Tulpenblätter und stach mehrere Blütenblätter aus. Mit einem spitzen Metallstift ritzte sie Adern und Pünktchen ein und steckte die so dekorierten Blätter auf eine mit Stärke überzogene Blumenform. So konnten die Blätter schon in der richtigen Form trocknen. Laut ihrer Berechnungen benötigte sie für die drei Torten zusammen etwa dreihundertsechzig Blätter. Sobald sie diese fertig hatte, würde sie mit den Blumen beginnen. Zum Glück arbeitete sie gern bis spät in die Nacht.
Sie hatte gerade ihren Arbeitsrhythmus gefunden, als draußen ein Wagen hielt. Schnell erhob sie sich und ging zur Haustür. Da klingelte es auch schon.
Als sie die Tür öffnete, stand Riley davor.
„Hallo“, begrüßte er sie. „Ich kam gerade hier vorbei und sah dein Auto draußen stehen.“
Sofort begann ihr Herz zu klopfen, und ihr wurde ganz warm. „Schön, dass du vorbeischaust.“ Sie bat ihn herein. „Was bringt dich in die billige Gegend der Stadt?“
„Dies und das.“
Er schloss die Tür, dann nahm er Gracie in den Arm und küsste sie. Wie immer wurde sie Wachs in seinen Händen. Gracie schloss die Augen und genoss es, in dem Kuss zu versinken. Dieser Tag war wirklich wunderbar!
„Dafür kannst du gern jederzeit vorbeikommen“, sagte sie grinsend, als sie sich voneinander lösten.
„Kein Problem. Aber das ist noch nicht alles. Ich wollte dich einladen, heute Abend mit mir essen zu gehen.“
Erfreut schaute sie ihn an. „Wirklich?“
„Ja, wirklich. Mac hat mich vorhin angerufen und vorgeschlagen, wir könnten ja heute Abend mal zu viert ausgehen. Das könnte doch nett werden, was meinst du?“
Einen solchen Abend würde sie niemals durchstehen, war ihr erster Gedanke. Und ihr zweiter Gedanke war ...
„Nett? Nett?“ Sie starrte ihn an. „Bist du vielleicht auch von diesen Außerirdischen von Pams Grundstück entführt worden? Wir vier sollen gemeinsam ausgehen? In ein Restaurant in Los Lobos? Hast du denn die Zeitungsartikel schon vergessen? Weißt du, was das für ein Skandal wird? Du kandidierst für das Bürgermeisteramt, und ich versuche, ein ganz normales Leben zu führen. Aber das kannst du beides ja wohl total vergessen, wenn wir heute Abend zu viert essen gehen!“
Er sah sie an. „Ist das eine Absage?“
„Was? Natürlich nicht! Ich unke nur ein bisschen herum. Wann soll ich fertig sein?“
Er sah sie misstrauisch an. „Das machst du doch mit Absicht, oder? Du willst, dass ich Angst bekomme.“
„Überhaupt nicht.“ Sie grinste. „Na gut. Vielleicht ein bisschen. Ich wollte nur sagen: Die Leute werden tratschen. Aber komm doch rein, ich muss nämlich noch ein bisschen arbeiten. Es ist nicht gut, wenn ich allzu sehr hinter meinem Zeitplan herhinke.“
Sie führte Riley ins Esszimmer und sagte: „Setz dich. Ich muss Blätter machen.“
Ihr gegenüber nahm er auf einem Stuhl am Esstisch Platz. „Torten zu machen scheint viel Arbeit zu sein.“
„Das kannst du laut sagen. Aber weißt du, was heute passiert ist? Ich habe heute einen Anruf bekommen.“ Dann berichtete sie ihm über das anstehende Interview mit Neda Jackson. „Ich kann es immer noch überhaupt nicht glauben. Weißt du, welche Auswirkungen das auf mein Geschäft haben wird?“
„Es wird explodieren.“
„So ist es.“
„Ich habe deinen Terminkalender gesehen, Gracie. Da sieht es jetzt schon ganz schön eng aus. Heißt das, du wirst endlich expandieren?“
„Ich weiß es nicht. Wenn dadurch viele zusätzliche Aufträge reinkommen, muss ich mir auf jeden Fall eine Hilfe suchen. Also ja. Mir gefällt nur der Gedanke nicht, dass ich dann nicht mehr alleine zuständig bin. Es macht mir halt so viel Spaß, diese Torten selbst herzustellen.“
„Aber dein Tag hat auch nur vierundzwanzig Stunden!
Ich schätze, da steht eine grundsätzliche berufliche Entscheidung an.“
„Du meinst, ich muss das Geschäft vergrößern?“
„Nicht wenn du nicht willst.“
Gracie seufzte, denn natürlich hatte er recht. In den letzten fünf Jahren war sie allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt geworden. Nach dem Artikel würde es kompliziert werden. Noch mehr Torten konnte sie alleine unmöglich schaffen, jedenfalls nicht in der Hochsaison im Frühling und Sommer. Das bedeutete, sie würde demnächst eventuell Aufträge ablehnen müssen – oder jemanden ins Boot holen.
„Ich schätze, mir wird nichts anderes übrig bleiben“, sagte sie langsam.
„Klingt vernünftig. Und wo willst du dich niederlassen? Hier?“
Gracie gab ein Geräusch von sich, das nach Ersticken klang. „Nicht für Geld und gute Worte! Garantiert nicht in Los Lobos. Ich gehe zurück nach L. A.!“
„Ganz deiner Meinung“, stimmte Riley ihr zu. „Zumindest was Los Lobos betrifft.“
„Aber du wirst hier bleiben. Denn wenn du die Wahl gewinnst, wirst du Bürgermeister. Und so eine Amtszeit dauert vier Jahre.“
„Das Testament besagt nur, ich muss die Wahl gewinnen. Nicht, dass ich das Amt auch antreten muss.“
Gracie legte ihr Werkzeug hin. „Du meinst, du willst danach alles stehen und liegen lassen? Und was ist mit der Bank? Willst du sie verkaufen?“
Wieso eigentlich nicht, fragte sie sich. Für die Kunden änderte sich bei einem Verkauf ja nichts. Wahrscheinlich würde eine multinationale Großbank zuschlagen.
„Ich würde sie schließen“, gestand Riley ihr.
„Ich verstehe nicht.“
Fast gelangweilt zuckte er mit den Schultern. „Sobald die Bank mir gehört, kann ich damit machen, was ich will. Und ich werde sie schließen. Diese Scheißbank war das Einzige, was meinen Onkel je interessiert hat. Und deshalb werde ich dafür sorgen, dass sie verschwindet. Als hätte es sie nie gegeben.“
Rache. Natürlich. Jetzt fiel Gracie wieder ein, worum es Riley ging. Er wollte es endlich seinem Onkel heimzahlen.
„Aber wenn die Bank dichtmacht, was passiert mit dem Geld der Kunden?“
„Sie bekommen es zurück. Die Konten werden aufgelöst. Alles wird ausgezahlt, und das war’s.“
„Und was sollen die Leute machen, die einen Kredit bei der Bank haben?“
„Sich woanders nach einer Finanzierung umsehen.“
„Und wenn das nicht geht?“
„Ist das nicht mein Problem.“
Aber vielleicht war es bald ihres. Obwohl sich Gracie ziemlich sicher war, dass auch eine andere Bank ihrer Mutter einen Kredit geben würde. Das Haus war abbezahlt, und sie hatte nur eine Hypothek aufgenommen, um Vivians Hochzeit zu bezahlen. Das hoffte Gracie zumindest.
Riley lächelte. „Pam hat für ihr Bed & Breakfast übrigens auch einen Kredit bei meiner Bank. Das dürfte eine gute Nachricht für dich sein.“
„Stimmt. Aber um die anderen Leute mache ich mir Sorgen. Riley, ich weiß ja, dass du es deinem Onkel endlich heimzahlen willst, und das verstehe ich auch. Aber muss darunter die ganze Stadt leiden? Du ruinierst die Leute ja.“
„Wie gesagt, das ist nicht mein Problem.“
Die ganze Zeit hatte sie sich so wohl gefühlt mit ihm, und er war so wunderbar zu ihr gewesen. Doch jetzt fiel ihr diese große Wut wieder ein, die er in sich trug. Tief sitzenden Schmerz und Enttäuschung.
„Ich finde, man darf unschuldige Leute nicht büßen lassen, nur weil man sich an einem einzigen Mann rächen will“, gab Gracie zu bedenken. „So lädt man eine sehr große Schuld auf sich, grundlos noch dazu.“
„Wer sagt, dass ich mich schuldig fühlen werde? Und außerdem: Wieso kümmern dich die Leute von hier? Du kannst es doch auch kaum erwarten, diesem Kaff wieder den Rücken zu kehren!“
„Ja. Aber mir tun trotzdem die Leute leid, die davon betroffen sein werden.“
„Sie werden drüber wegkommen.“
Gracie fand seine Einstellung nicht gut. Er glaubte vielleicht, es wäre leicht, einfach so zu verschwinden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber das bezweifelte sie. War eine Rache so viel Leid wert?
„Wie sieht’s jetzt aus mit dem Abendessen?“, fragte er.
„Geht klar. Wieso?“
„Weil du zu viel denkst. Und weil dir mein Plan nicht gefällt.“
„Ich bin nicht in der Position, dein Vorhaben zu bewerten. Ich hoffe einfach nur, dass du dir das gut überlegt hast und dass sich die ganze Angelegenheit auch wirklich lohnt.“
„Keine Sorge. So wie es im Moment aussieht, werde ich die Wahl ohnehin nicht gewinnen und daher die Bank nicht erben. Dann ist die Stadt sicher vor mir.“
„Ich weiß doch, dass du dich nicht so leicht geschlagen gibst. Ich würde sagen, deine Chancen stehen immer noch gut.
„Stimmt.“ Er erhob sich. „Soll ich dich um Viertel nach sieben abholen? Wir treffen Jill und Mac dann um halb acht in Bill’s Mexican Grill.“
„Alles klar.“ Gracie sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Also konnte sie noch ein bisschen an den Blättern arbeiten und sich dann in aller Ruhe schick machen. Wenn sich heute Abend schon sämtliche Bewohner von Los Lobos das Maul über sie zerreißen würden, wollte sie wenigstens gut dabei aussehen.
„Ich finde alleine raus“, rief Riley ihr beim Hinausgehen zu. „Bis später.“
„Ja. Tschüs.“
Als die Haustür hinter ihm zuschlug, seufzte Gracie.
Sie verstand ja, dass die Schließung der Bank zu seinem Racheplan gehörte, aber es war trotzdem falsch. Nur: Wie konnte sie ihn davon überzeugen?
Na ja, eigentlich ging es sie ja nichts an. Außer dass auch ihre Mutter betroffen sein würde. Natürlich würde Gracie ihr unter die Arme greifen, sollte das nötig werden. Das würde also kein Problem sein.
Dennoch blieb ihr genug Stoff zum Grübeln: Ob sie vielleicht schwanger war, wieso Pam so nett zu ihr war, wer ihr und Riley gefolgt war und die Bilder gemacht hatte. Dann waren da noch die Wahl, die eventuelle Hochzeit ihrer Schwester, die Beziehung zu ihrer Familie insgesamt und welche Art Torte sie für den Geschichtsverein machen sollte. Und nicht zu vergessen ihr hochoffizielles Date mit Riley.
Holly glitt vom Schreibtisch und richtete ihren Rock. Sie beugte sich herunter und küsste Franklin Yardley, dann verließ sie sein Büro.
Franklin lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Oh Mann, er würde es echt vermissen, dieses Mädel zu vögeln. Schon der Gedanke daran, wie sie im knappen Röckchen und ohne Slip durch sein Büro lief, erregte ihn.
Er hatte immer willige Assistentinnen gehabt, gleich seit seinem ersten Jahr als Bürgermeister. Es war immer derselbe Typ Frau: jung, intelligent, sexuelle Ausstrahlung. Er hatte den jungen Dingern alles beigebracht, was er wusste, und irgendwann waren sie dann weitergezogen.
Und auch das würde er vermissen, diese Willigkeit der jungen Frauen. Es jederzeit, an jedem Ort zu tun. Aber ein Versprechen war nun mal ein Versprechen, und er hatte versprochen, diese Weibergeschichten sein zu lassen. Die Vorstellung, für den Rest seines Lebens nur noch mit einer einzigen Frau Sex zu haben, war zwar etwas beängstigend, aber das würde es wert sein.
Er würde auch sein Amt vermissen und vor allem die Annehmlichkeiten, die damit verbunden waren. Sobald die Wahl zu seinen Gunsten ausgefallen war, würde er die Bücher bereinigen und das Privatkonto auflösen, auf das er seit fünfzehn Jahren Geld der Gemeinde hatte fließen lassen. Den ganzen Papierberg an belastendem Material wollte er in Rauch aufgehen lassen.
Dann würde er sich selbstverständlich von Sandra scheiden lassen, das Land verlassen und nur noch seinem neuen Luxusleben frönen. Sein privater Telefonanschluss klingelte, und als er nach dem Hörer griff, dachte er: Wie schön es ist, wenn sich alles zusammenfügt.
„Yardley“, meldete er sich kurz angebunden.
„Hallo, Lover. Wie steht’s?“
Franklin sah zur geschlossenen Bürotür hinüber. Holly saß hinter dieser Tür. Erst vor zehn Minuten hatte er ihr beinahe das Hirn herausgevögelt, auf diesem Schreibtisch.
„Super. Und bei dir?“
„Alles bestens. Ich bin glücklich. Du warst toll beim Rededuell.“
„Danke. Ich muss sagen, ich war etwas in Sorge wegen der Umfrageergebnisse für Riley. Ich dachte schon, wir müssten unseren Fotografenfreund noch mal engagieren, aber das ist jetzt wohl nicht mehr nötig. Riley wird die Wahl verlieren.“
„Ich weiß. Mir will nicht in den Kopf, wie er so blöd sein kann, mit dieser Gracie Landon rumzumachen.“ Die Stimme der Frau wurde leiser. „Diese kleine Nutte. Aber für uns kann es nur gut sein. In wenigen Wochen wirst du wiedergewählt, und Riley Whitefield wird alles verlieren.“
„Inklusive der siebenundneunzig Millionen seines Onkels.“ Franklin seufzte zufrieden. „Aber du weißt ja, dass wir nicht alles bekommen werden.“
„Das ist schon in Ordnung“, sagte sie leichthin. „Vierzig Millionen reichen mir als Entschädigung. Freundlicherweise hat Donovan Whitefield den größten Teil seines Vermögens ja dem Verein zur Förderung von Waisenkindern auf Grand Cayman hinterlassen.“
Franklin nickte. „Er hatte ja schon immer ein Herz für alle, die es nicht so gut getroffen haben wie er. Vor allem für seine Freunde. Waren die Kaimaninseln nicht sogar seine Idee? Der Rest des Vermögens geht an echte Wohltätigkeitsorganisationen, damit es nicht so auffällt.“ Er kicherte. „Würde mich mal interessieren, was Riley sagt, wenn er erfährt, dass sein Onkel ihn dermaßen verarscht.“
„Das wird er nie erfahren“, sagte die Frau. „Er wird einfach die Wahl verlieren und die Stadt verlassen. Und zwar mit eingezogenem Schwanz.“
„Und dann packen auch wir zwei unsere Koffer und sind weg.“
„Ich kann es kaum noch erwarten“, keuchte sie. „Ich will endlich mit dir zusammen sein.“
„Ich auch mit dir.“
„Ich liebe dich, Franklin.“
„Ich dich auch, Schätzchen.“
Bei Bill’s Mexican Grill gab es großartiges Essen, aber das Ambiente war alles andere als besonders. Den Gastraum konnte man eigentlich nur als schäbig bezeichnen. Deshalb fiel es Gracie besonders schwer, sich für ein Outfit zu entscheiden.
Auf jeden Fall wollte sie toll aussehen. Sie und Riley würden sicher im Mittelpunkt stehen, wenn man sie entdeckte. Und wenn die Leute schon tratschten, dann sollten sie wenigstens sagen können, dass Gracie wunderbar aussah.
Das hatte sie verdient. Denn damals, als ihre Verknalltheit in Riley zum Stadtgespräch wurde, war sie erst vierzehn gewesen und, wie hatte es die Nachbarin ihrer Mutter, Mrs. Baxter, formuliert, hatte „unvorteilhaft“ ausgesehen mit ihren langen, dürren Armen und Beinen und der flachen Brust. Von ihrer gruseligen Frisur, der Zahnspange und der Akne mal ganz abgesehen. Igitt.
Aber mit der Zeit hatte sich das alles verändert. Sie war vielleicht immer noch keine Schönheitskönigin, aber unvorteilhaft sah sie nun wirklich nicht mehr aus. Sie war stolz auf ihre weiblichen Kurven, auf ihr glänzendes Haar und ihre makellose Haut.
Sie sah in den Spiegel, ignorierte die Lockenwickler auf ihrem Kopf und hielt sich das blaue Kleid an. Es war hübsch und hatte ein großes Dekollete, und genau deshalb war es Gracie zu auffällig. Es war so ein „Seht mal, ich habe eine Verabredung“-Kleid. Aber auf jeden Fall wollte sie heute Abend ein Kleid oder einen Rock tragen. Eine Hose wäre einfach zu langweilig. Außerdem hatte sie sich gerade frisch die Beine enthaart und Selbstbräuner aufgetragen. Mit dem gleichmäßigen Ergebnis war sie sehr zufrieden.
„Der khakifarbene Rock?“, überlegte sie laut. „Und dazu das hellblaue Twinset?“
Besagtes Twinset war mit einer eleganten Perlenstickerei versehen. Sie hatte es im letzten Herbst zu einem Schnäppchenpreis in einem Second-Hand-Laden in Palos Verdes ergattert, wo reiche Damen ihre Sommergarderobe verhökerten.
Sie suchte in ihrem Schrank nach dem Rock, wurde aber plötzlich durch ein Klopfen an ihrer Haustür gestört. Ein rascher Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es noch nicht Riley sein konnte. Es war erst kurz nach sechs.
Gracie schnappte sich den Rock, warf ihn aufs Bett und lief zur Tür. Sie öffnete und konnte sich ein entsetztes Stöhnen gerade noch verkneifen. Es war ihre Schwester Vivian.
Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie stand da wie ein Häufchen Elend. Gracies erster Impuls war Mitleid. Doch dann besann sie sich. Das war ihre Schwester, die von einer megateuren Hochzeit träumte, aber eigentlich gar nicht heiraten wollte.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte Gracie barsch.
Unaufgefordert drängte sich Vivian an ihr vorbei ins Haus. Sie schluchzte. „Es ist alles aus. Mit Tom.“
„Mal wieder?“ Beim Klang ihrer Stimme erschrak Gracie über sich selbst. Wie gefühllos konnte sie doch sein.
„Du verstehst das nicht“, heulte Vivian. „Vorher war ich schuld. Ich habe Tom immer wieder gesagt, ich heirate dich nicht, und bin gegangen. Ich wollte doch nur ein bisschen Aufmerksamkeit von ihm! Er war in letzter Zeit immer so still und ernst. Aber nach gestern Abend, als ich wieder mal gegangen bin, hat er sich heute Morgen von mir verabschiedet. Er sagte, es wäre Schluss. Ich sei nicht bereit, ihn oder überhaupt jemanden zu heiraten.“
Vivian bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte weiter. Gracie tätschelte ihr beruhigend die Schulter. Sie hätte ihre Schwester auch in den Arm nehmen können, aber das wollte sie nicht. Dazu waren sie sich zu fremd geworden.
Vivian zog ein Taschentuch aus ihrer Jeans. „Er hat gesagt, ich wäre zu unreif. Er liebt mich, hat er gesagt, aber er würde sich erst wieder mit mir treffen, wenn ich erwachsen geworden wäre.“
„Das tut mir leid für dich“, tröstete Gracie sie.
Vivian schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Er redet nicht mal mehr mit mir. Er meint es wirklich ernst. Er sagt, es tat ihm jedes Mal weh, wenn ich die Hochzeit abgesagt habe, aber das wäre mir offensichtlich egal. Er hat gesagt, ich würde immer nur an mich denken. Es wäre falsch, dass Mom einen Kredit aufnimmt, um die Hochzeit zu bezahlen. Er hat gesagt, ich wäre eine verwöhnte Göre und ich sollte mich schämen.“
Wieder fing sie an zu heulen. Gracie stand neben ihr und wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Hast du schon mit Mom geredet?“, fragte sie schließlich.
„Nein.“ Vivian schniefte und wischte sich übers Gesicht. „Sie wird garantiert total sauer sein. Sie hat all ihren Freundinnen schon von der Hochzeit erzählt und wie toll sie wird. Und wenn sie ihnen jetzt absagen muss, sterbe ich ganz sicher vor Scham.“
Gracie hatte das dumpfe Gefühl, ihre Mutter würde sich sicher weitaus mehr über das verlorene Geld ärgern. „Das werden ihre Freundinnen aber doch sicher verstehen.“
Schockiert blickte Vivian sie an. „Machst du Witze? Sie werden darüber herziehen! So sind diese Weiber! Die Hochzeiten ihrer Töchter wurden nicht gecancelt. Mom wird mich umbringen.“
„Ich weiß, das findest du im Moment alles ganz schrecklich“, versuchte Gracie ihre Schwester zu beruhigen und streichelte ihr den Rücken. „Es tut weh, und dir erscheint keine Lösung denkbar, aber das wird schon wieder. Jetzt überleg dir erst mal, was du wirklich willst. Ist Tom der Mann, mit dem du dein Leben verbringen möchtest?“
„Natürlich ist er das. Deswegen wollte ich ihn ja heiraten. Ich habe ja nur gesagt, ich würde die Hochzeit abblasen, damit er mich beachtet.“
„Und warum hat er dich vorher nicht beachtet?“
Vivian rollte mit den Augen. „Ich bitte dich! Weil das normal ist. Hattest du noch nie einen Freund?“
„Doch, jede Menge sogar. Aber ich habe schon vor langer Zeit begriffen, dass kein Mann gerne mit sich spielen lässt. Vivian, hast du überhaupt begriffen, was Tom dir vorgeworfen hat? Er möchte, dass du endlich ehrlich zu ihm bist.“
„Das will kein Mann.“ Vivian richtete sich auf. „Okay, ich krieg das wieder hin. Ich werde einfach zu ihm fahren, ganz nackt. Dann muss er mich reinlassen. Und wenn ich ihn erst mal im Bett habe, kann ich ihn von allem überzeugen. Genau. Das ist ein guter Plan.“ Sie schenkte Gracie ein verheultes Lächeln. „Ich muss los. Danke fürs Zuhören. Ich sag dir dann Bescheid wegen der Hochzeit.“
Sie winkte noch einmal, dann war sie weg. Gracie schloss die Tür und lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen. Es kam ihr vor, als hätte sie gerade eine Begegnung mit einer Außerirdischen gehabt. Glaubte Vivian wirklich, sie könnte Tom mit Sex zurückgewinnen? Gracie hatte ihn ja nur ein paar Mal gesehen, aber er war ihr doch durchaus vernünftig und auch sensibel erschienen. Alles, was er Vivian an den Kopf geworfen hatte, entsprach der Wahrheit. Hoffentlich war er jetzt auch stark genug, Vivian beim Erwachsenwerden beizustehen. Aber sollte er einknicken, wenn sie nackt vor ihm stand, dann bekäme er nur, was er verdiente.
„Problem anderer Leute“, beschwichtigte Gracie sich selbst und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich endlich anzuziehen. Der Blick auf die Uhr im Flur verriet ihr, dass es schon fast halb sieben war. Um großartig auszusehen, hatte sie nur noch eine halbe Stunde Zeit.
Riley blieb vor Bill’s Mexican Grill stehen und drückte Grades Hand. „Wenn du dich weiter so verrückt machst, wirst du gleich hyperventilieren. Wir müssen nicht reingehen. Wir können sofort wieder fahren, und ich rufe Mac vom Auto aus an und sage ihm, dass wir uns doch lieber bei mir zu Hause treffen.“
Gracie schüttelte den Kopf. Ihr normalerweise glattes blondes Haar bestand nun aus einer Kaskade von Locken, die er allzu gerne berührt hätte. Sie hatte mit ihrem Make-up ihre großen Augen und ihren vollen Mund betont. Sie sah hinreißend aus.
Und auch ihre Garderobe war bewundernswert. Der kurze Rock ließ ihre langen, gebräunten Beine gut zur Geltung kommen. Eine Art Sweater umfing ihre wunderbaren festen, erotischen Brüste. Sie war heute Abend ein Sinnbild für Männerfantasien.
„Ich schaffe das schon“, sagte sie leise, aber entschlossen.
Riley war so abgelenkt von ihrer Erscheinung gewesen, dass er sich kurz sammeln musste. „Also Dinner?“, fragte er nochmals.
„Ja. Ich krieg das hin. Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Ich habe Nerven wie Drahtseile. Ich bin unbesiegbar.“ Sie sah ihn an. „Wie sehe ich aus?“
Er grinste und küsste sie leicht auf die Wange. „Du bist wunderschön. Beeindruckt war ich ja schon länger, aber jetzt bin ich hingerissen.“
„Wow! Hingerissen.“ Sie beugte sich zu ihm. „Versprichst du mir, dass du an meiner Seite bleibst – egal, was auch passiert?“
„Großes Ehrenwort. Bist du bereit?“
Sie nickte, und er öffnete ihr die Tür zum Restaurant.
Stimmengewirr und Mariachi-Klänge empfingen die beiden. Im hinteren Bereich war es ruhiger, daher hatte Mac dort einen Tisch reserviert. Riley nannte der Dame am Empfang ihren Namen.
„Die anderen zwei Personen sind schon da“, sagte der Teenager lächelnd. „Wenn Sie mir folgen wollen.“
Die junge Frau führte sie durch die Tischreihen. Gracie hielt Rileys Hand so fest umklammert, dass sie ihm beinahe die Knochen brach.
„Die Leute starren uns an“, wisperte sie. „Das spüre ich. Es war doch keine gute Idee, zusammen hierherzukommen. Warum machen wir das nur?“
Er ließ ihre Hand los und legte einen Arm um ihre Taille. „Alles in Ordnung. Falls uns jemand anschaut, dann, weil du aussiehst wie eine Göttin. Jeder Mann im Raum will dich.“
Gracie musste lachen. „Wo lebst du eigentlich?“
„Im Ernst. Hätte ich gewusst, wie schön du einmal wirst, hätte ich dich damals schon beachtet.“
War das denn jetzt zu fassen? „Damals war ich vierzehn. Ich hätte eine Göttin sein können, und du hättest mich trotzdem nicht beachtet!“
„Damals war unser Altersunterschied gefährlich“, stellte Riley fest. „Das wäre Verführung Minderjähriger gewesen. Ich hätte mit einem Bein im Knast gestanden.“
„Ganz so minderjährig bin ich nicht mehr.“
Er zog sie an sich. „Ist das eine Aufforderung?“
„Was denn sonst?“
Er wollte gerade sagen, dass er eigentlich auch aufs Essen verzichten könnte, da erreichten sie den Tisch, an dem Mac und Jill schon warteten.
„Hallo“, sagte Jill fröhlich und nahm wieder Platz, nachdem sie sich begrüßt hatten. „Wir haben gesehen, dass dieser Tisch frei war und spontan hierher gewechselt. Der ist unauffälliger.“
Gracie zuckte zusammen. „Du meinst, falls die Leute reden. Ich wusste es. Ich glaube, mir wird schlecht.“
Mac sah sie besorgt an. „Im Spaß oder im Ernst?“
Gracie legte eine Hand auf ihren Magen. „Ich weiß nicht.“
„Sie übertreibt“, meinte Riley. „Ein paar Nachos und etwas Salsa, und schon wird es dir besser gehen.“
Gracies Miene hellte sich auf. „Nachos, das klingt gut. Keine Gefahr.“
„Wie zum Beispiel Brot?“, sagte Riley.
„Genau.“ Sie strahlte ihn an. „Du erinnerst dich!“
Während Gracie sich setzte, tauschten Mac und Riley einen Blick aus, der so viel besagte wie: „Frauen. Was will man machen?“ Dann setzten auch sie sich.
„Wie läuft’s?“, richtete Mac das Wort an Riley.
„Ganz okay. Seit dem Rededuell sind meine Zahlen natürlich im Keller. Kein Wunder. Aber mein Wahlkampfmanager Zeke hat schon eine neue Strategie entwickelt.“
„Diesen Yardley konnte ich noch nie leiden“, wetterte Jill. „Er ist so schleimig.“ Sie erschauderte. „Er verdient einen Tritt in den Hintern, bei den Wahlen“, fügte sie hinzu, als sie Macs erstaunten Blick sah. „Obwohl, wörtlich genommen hätte ich auch nichts dagegen.“
„Und ich dachte, du hättest auf das Gesetz geschworen“, sagte ihr Mann und legte den Arm um sie.
„Nein, Schatz. Das warst du.“
Lächelnd sahen sich die beiden an. Riley betrachtete das Paar. Als er gehört hatte, dass sein alter Kumpel den Sheriff-Posten übernommen und ein zweites Mal geheiratet hatte, konnte er sein Mitleid kaum verhehlen. Wer wollte schon so ein Leben? Aber jetzt, als er die beiden zusammen sah, verstand er. Da gab es ein unsichtbares Band, das diese Menschen umspannte. Er wusste nicht, ob es die Liebe gab. Wenn ja, dann war das zwischen Mac und Jill Liebe.
„Irgendwas ist doch mit dir“, sagte Gracie da zu ihrer Freundin. „Was hast du?“
Jill wiegte mit dem Kopf. „Ich wüsste nicht, was.“
„Nein, du hast doch was. Du bist irgendwie so ... anders.“ Gracie musterte sie. „Es sind nicht deine Haare. Keine Strähnchen. Zeig mal deine Zähne. Hast du sie bleichen lassen?
Jill lachte. „Nein.“
Riley sah sie misstrauisch an. Gracie hatte recht. Irgendetwas war anders. Jill strahlte so.
Plötzlich schrie Gracie auf, sodass sich die Leute von den angrenzenden Tischen nach ihnen umsahen.
„Bist du etwa ...?“, fragte sie und drückte ihrer Freundin die Hand. „Ja! Du bist, das sehe ich doch.“
Leicht errötend nickte Jill ihr zu. „Ich hab’s heute Morgen erst erfahren. Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell geht. Aber ja: Ich bin schwanger.“
„Das ist ja toll!“
Gracie sprang auf und lief einmal um den Tisch herum, um ihre Freundin zu umarmen. Riley schüttelte seinem Freund die Hand.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte er.
„Vielen Dank. Wir sind total glücklich.“ Trotzdem sah Mac ein wenig verwirrt aus. „Es geht nur alles ein bisschen schnell. Ich dachte, wir hätten ein paar Monate Zeit damit, aber es hat wohl gleich beim ersten Mal geklappt.“
Gracie und Jill setzten sich wieder. „Bist du schockiert?“, wollte Gracie wissen.
„Und wie“, antwortete Jill lachend. „So sehr, dass ich mir noch gar keinen Baby-Ratgeber kaufen konnte.“
Riley beobachtete die beiden Frauen. War Gracie auch schwanger? In ein paar Tagen würden sie es erfahren. Und wenn ja? Er würde sicher nicht die Formulierung wählen: „Es hat gleich beim ersten Mal geklappt.“
„Na, da haben wir ja einen Grund zum Feiern!“
Riley sah sich um und bemerkte zwei ältere Frauen, die neben ihrem Tisch standen. Er wollte gerade aufstehen, da legte eine von beiden die Hand auf seine Schulter.
„Bleiben Sie ruhig sitzen. Aber ich weiß gute Manieren durchaus zu schätzen.“
Mac rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. „Riley, darf ich dir Wilma vorstellen? Sie ist meine Sekretärin im Sheriff-Büro.“
„Hallo.“ Die kleinere der beiden Frauen sah ihn an. „Das ist meine Freundin, Eunice Baxter.“
„Meine Nachbarin“, flüsterte Gracie. „Hallo, Mrs. Baxter.
„Hallo, Gracie. Ihr beide seid ein wunderbares Paar.“ Eunice drückte Riley die Schulter. „Schön, dass Sie Vernunft angenommen haben, Riley. Gracie wusste schon immer, wie man richtig liebt. Wenn ich daran denke, was sie damals alles unternommen hat, um Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen ... Da geht mir richtig das Herz auf, wenn ich Sie jetzt so mit ihr sehe.“
Riley wusste nicht, wie er reagieren sollte. „Ah. Ja, Ma’am.“
Eunice kicherte. „So feine Manieren. Ich mochte Ihre Mutter sehr gerne. Schade, dass sie das nicht mehr erleben kann. Sie wäre sicher stolz auf Sie.“
„Dann lassen wir Sie jetzt mal in Ruhe“, sagte Wilma. „Schönen Abend noch.“
Die beiden alten Damen gingen. Gracie rieb sich die Schläfen.
„Ich habe euch gewarnt“, sagte sie. „Ich wusste es! Die Leute würden uns sehen und sofort anfangen zu reden.“
Jill tätschelte ihr den Arm. „Du bist eben eine Legende hier. Damit musst du leben.“
„Könnte ich nicht vielleicht etwas anderes sein? Ein Brückenpfeiler vielleicht? Ich wäre ein toller Pfeiler.“
„Vielleicht gewinnt Riley die Wahl ja doch, wenn man ihn mit dir sieht“, überlegte Mac.
„Das bezweifle ich“, sagte Gracie. „Vermutlich werde ich ihn eher ein paar Stimmen kosten.“
„Alles in Ordnung“, tröstete Riley sie. „Ich bin nicht nach Los Lobos gekommen, um zu verlieren. Mach dir da mal keine Gedanken.“
„Ich kann nichts dagegen tun. Mir Gedanken zu machen ist mein Hobby.“
„Dann verschieb es auf morgen. Heute Abend wollen wir uns amüsieren. Einverstanden?“
Sie nickte.
Die Kellnerin kam, um die Bestellung aufzunehmen. Riley und Mac entschieden sich für ein Bier, Gracie und Jill wählten Eistee.
Wieso trank Gracie nichts? Seit besagtem Abend und ihren Champagnerspielchen hatte sie seines Wissens gar keinen Alkohol mehr getrunken, und auch ihr Champagnerglas war am nächsten Morgen noch so gut wie voll gewesen. Ob sie erst abwarten wollte, was der Schwangerschaftstest ergab?
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der Test positiv ausfiel, aber erst in diesem Moment wurde ihm das richtig bewusst.
Und wenn? Was sollte er dann tun? Sie heiraten?
Eigentlich hätte jetzt ein Gefühl von Frust und Panik einsetzen müssen, das ihn damals angesichts dieser Aussichten bei Pam befallen hatte – aber zu seiner eigenen Verwunderung blieb es aus. Er war nicht einmal wütend. Was hatte das bloß zu bedeuten?