1. KAPITEL

Gracie? Gracie Landon, bist du das?“ Erwischt – und keine Chance zu entkommen. Gracie Landon stand im Vorgarten ihrer Mutter, in der einen Hand die Zeitung, in der anderen die Kaffeetasse, und starrte verzweifelt in Richtung Haustür – ihrer einzigen Rettung.

Theoretisch könnte sie einfach lossprinten, aber das wäre extrem unhöflich. Das konnte sie der über achtzigjährigen Nachbarin Eunice Baxter nicht antun. Und außerdem war sie gut erzogen.

Also schüttelte sie kurz den Schopf, damit ihr die noch vom Schlaf verwuschelten Strähnen nicht ins Gesicht hingen, und schlurfte in den Tweetie-Bird-Hausschuhen ihrer kleinen Schwester hinüber zum niedrigen Gartenzaun, der das Grundstück ihrer Familie von dem von Eunice Baxter trennte.

„Guten Morgen, Mrs. Baxter“, begrüßte sie die alte Dame, in der Hoffnung, dass ihr Missmut nicht auffiel. „Richtig, ich bin es. Gracie.“

„Du liebe Güte, das gibt es doch nicht! Ich habe dich so lange nicht mehr gesehen, aber ich würde dich immer und überall wiedererkennen, glaub mir. Wie lange ist das jetzt her?“

„Vierzehn Jahre.“ Ihr halbes Leben. Und sie hatte so sehr gehofft, die Leute hätten sie vergessen.

„Das kommt hin. Gut siehst du aus! Damals, als du weggegangen bist, warst du wirklich ein schrecklich hässliches Kind, das muss ich dir mal sagen. Selbst deine arme Mutter hatte Sorge, dass du niemals hübsch werden würdest. Aber jetzt bist du es – und so strahlend schön wie ein Fotomodel!“

Gracie wollte nicht unbedingt an ihre „Hässliche-Entlein-Zeit“ erinnert werden – diese Phase hatte bei ihr volle sechs Jahre gedauert. Also erwiderte sie nur: „Danke schön“ und schickte sich an, wieder ins Haus zu gehen.

Eunice schüttelte ihre Dauerwellenlocken. „Ich habe letztens erst mit meiner Freundin Wilma über dich gesprochen. Wir finden, dass ihr jungen Dinger von heute gar nicht mehr wisst, was richtige Liebe ist. So, wie man das in all den Filmen immer sieht. Oder wie es bei dir war, damals mit Riley Whitefield.“

Oh Gott, Hilfe! Bitte nicht auch noch das Thema Riley Whitefield! Alles, nur das nicht! Konnte ihre Vergangenheit als krankhaft verliebte Teenager-Stalkerin nicht irgendwann einmal begraben werden?

„Als Liebe kann man das eigentlich nicht bezeichnen“, stellte Gracie fest und fragte sich einmal mehr, warum sie überhaupt nach all der Zeit wieder hierher zurückgekehrt war. Aber der Grund war ja klar – die Hochzeit ihrer kleinen Schwester.

„Du warst das Abbild wahrer Liebe“, widersprach Eunice ihr. „Darauf solltest du stolz sein. Du hast diesen Jungen von ganzem Herzen geliebt und hattest keine Angst, das auch zu zeigen. Dazu braucht es eine Menge Mut.“

Oder Idiotie, dachte Gracie und lächelte schwach. Der arme Riley. Sie hatte ihm damals das Leben wirklich zur Hölle gemacht.

„Und als dieser eine Reporter in der Zeitung einen Artikel über dich schrieb, erfuhren alle von eurer Geschichte“, fuhr Eunice fort. „Du warst richtig berühmt.“

„Wohl eher berüchtigt“, murmelte Gracie und erinnerte sich an den demütigenden Morgen, als sie beim Frühstück in der Zeitung über ihre Liebe zu Riley lesen musste.

„Wilmas Lieblingsaktion von dir war, als du Türen und Fenster am Haus seiner Freundin zugenagelt hast, damit sie nicht zu ihrer Verabredung mit ihm gehen konnte. Das war nicht schlecht. Mich hat aber noch mehr beeindruckt, als du dich gleich da drüben einfach vor sein Auto gelegt hast.“ Eunice deutete auf die Straße vor ihrem Haus.

„Ich habe alles mit angesehen. Du hast ihm gesagt, du liebst ihn zu sehr, um ertragen zu können, dass er Pam heiratet. Und wenn er die Verlobung mit ihr nicht auflöst, könnte er dich genauso gut gleich überfahren und deinem Elend ein Ende setzen.“

Gracie hielt ein genervtes Stöhnen zurück. „Ja, das kam echt gut.“

Warum durften alle anderen die peinlichen Schandtaten ihrer Jugend vergessen, aber über ihre Aktionen wurde immer noch geredet?

„Ich schätze, ich sollte mich endlich mal bei Riley entschuldigen.“

„Er ist ja auch wieder hier“, eröffnete Eunice ihr freudestrahlend. „Wusstest du das?“

Nachdem es ihr jeder sofort mitgeteilt hatte, dem sie in den letzten Tagen in der Stadt begegnet war – ja, sie wusste es. „Ach, wirklich?“

Die alte Dame zwinkerte. „Und er ist wieder solo. Wie sieht’s bei dir aus, Gracie? Gibt es jemanden in deinem Leben?“

„Nein. Aber ich habe im Job viel zu tun und bin damit ...“

Eunice nickte wissend. „Das kann nur Schicksal sein. Ganz eindeutig. Das Schicksal hat euch beide wieder zusammengeführt, um euch eine zweite Chance zu geben.“

Gracie würde lieber nackt auf einem Ameisenhaufen festgekettet werden, als jemals wieder in ihrem Leben etwas mit Riley Whitefield zu tun zu haben. Auf weitere Demütigungen konnte sie verzichten. Und er würde bestimmt auch einiges darum geben, ihr niemals wieder zu begegnen.

„Das ist nett, dass Sie das denken. Aber ich glaube nicht...“

„Vielleicht mag er dich immer noch“, unterbrach Eunice sie.

Gracie lachte. „Mrs. Baxter, ich war das Grauen für ihn! Selbst heute noch würde er schreiend davonrennen, wenn er mich zu Gesicht bekäme!“ Und wer konnte es ihm verdenken?

„Manchmal muss man einem Mann einen kleinen Schubs geben.“

„Und manchmal muss man einen Mann auch in Ruhe lassen.

Und genau das hatte sie vor. Kein Hinterherlaufen mehr. Im Gegenteil, sie würde sämtliche Veranstaltungen meiden, auf denen sie Riley begegnen könnte. Und falls sie doch zufällig aufeinandertreffen sollten, würde sie sich ihm gegenüber kühl, distanziert und höflich geben. Wer weiß, vielleicht würde sie ihn nicht einmal erkennen. Und was immer sie damals auch für Riley empfunden hatte – dieses Gefühl gab es nicht mehr. Aus und vorbei. Sie war schon lange über ihn weg.

Außerdem war sie inzwischen eine andere. Kultiviert. Reif. Garantiert keine Stalkerin mehr.

„Was war los?“, fragte Vivian, als Gracie endlich wieder in der Landonschen Küche erschien. „Hat dir Mrs. Baxter ein Gespräch aufgezwungen?“

„Oh ja.“ Gracie legte die Zeitung auf die Anrichte und nahm einen großen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. „Ich sag’s dir. Es kommt mir vor, als hätte ich die Stadt erst vor vierzehn Tagen verlassen, nicht vor vierzehn Jahren.“

„Alte Menschen haben ein anderes Verhältnis zur Zeit“, stellte Vivian fest und schüttelte ihre rotblonde Lockenpracht. Sie gähnte. „Außerdem stehen sie viel zu früh auf. Mom hat auch schon vor sieben das Haus verlassen.“

„Hat sie nicht was von einer besonderen Schnäppchen-Aktion im Laden erzählt?“ Gracie setzte sich auf einen Barhocker und stellte ihre Tasse ab. „Bei der du helfen solltest?“

„Ich weiß, ich weiß.“ Vivian streckte sich. „Ich bin selbst schuld. Was suche ich mir auch ein Brautkleid für dreitausend Dollar aus? Ich hatte die Wahl zwischen: mein Budget mit dem Kleid total zu überziehen und dafür meinen Gästen nichts zu essen anbieten zu können oder Sklavendienste zu tun.“ Sie grinste. „Immerhin bekomme ich eine grandiose Hochzeitstorte gratis.“

„Hast du ein Glück.“

Als Schwester der Braut hatte Gracie angeboten, für die Feier eines ihrer Tortenmeisterwerke beizusteuern. Ein schneller Blick auf den Wandkalender verriet ihr, dass die Hochzeit in genau fünf Wochen stattfinden sollte. Wäre sie schlauer gewesen, hätte sie sich bis kurz vor der Hochzeit ferngehalten, wäre erst in letzter Minute mit der Torte aufgetaucht, hätte nett mit den anderen gefeiert und wäre dann sofort wieder verschwunden. Doch die hektischen Anrufe ihrer Mutter und ihrer Schwestern Vivian und Alexis hatten bei Gracie Gewissensbisse hervorgerufen. Also hatte sie sich breitschlagen lassen, schon früher zu kommen und bei der Hochzeitsplanung zu helfen.

Zur Belohnung durfte sie nun alle vorbestellten Torten in einem seltsamen Ofen backen, dem sie nicht so recht traute. Und dann wurde sie auch noch von alten Damen gequält, die unbedingt immer noch über Gracies längst vergangenes, fragwürdiges Liebesleben reden mussten.

„Schön ist anders“, murmelte Gracie vor sich hin.

Vivian grinste. „Hat Mrs. Baxter vielleicht erwähnt, dass Riley Whitefield wieder in der Stadt ist?“

Gracie warf ihr einen wütenden Blick zu. „Wolltest du nicht gehen?“

Lachend lief Vivian die Treppe hoch.

Gracie sah zu, wie ihre Schwester oben verschwand, dann schnappte sie sich die Zeitung und freute sich auf einen geruhsamen Morgen. Am Nachmittag würde sie in das kleine Haus umziehen, das sie für ihren sechswöchigen Aufenthalt in der Stadt gemietet hatte. Aber bis dahin konnte sie es ruhig angehen lassen.

Leider riss in diesem Moment jemand die hintere Eingangstür auf.

„Oh, gut. Du bist schon auf.“ Gracies drei Jahre ältere Schwester Alexis kam herein und sah sich um. „Wo ist Vivian?

„Sie macht sich fertig, um in den Haushaltswarenladen zu fahren.“

Alexis runzelte die Stirn. „Ich dachte, sie wäre schon längst weg. Fing der Straßenverkauf nicht um acht an?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Gracie.

Immerhin war sie erst seit zwei Tagen wieder zu Hause und musste sich noch zurechtfinden. Während Alexis und Vivian hier aufgewachsen waren, hatte sie mit vierzehn die Stadt verlassen und war seitdem nie wieder hier gewesen.

Alexis goss sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich auf den Hocker neben Gracie.

„Ich muss dir etwas sagen“, eröffnete ihre Schwester ihr mit leiser, leicht zitternder Stimme. „Aber weder Vivian noch Mom dürfen etwas davon erfahren. Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen machen, jetzt, in dem ganzen Hochzeitsstress.“

„In Ordnung“, willigte Gracie ein und fragte sich, was die Geheimniskrämerei zu bedeuten hatte. Aber es schien etwas Ernstes dahinterzustecken, wie sie dem Verhalten ihrer Schwester entnahm.

„Es geht um Zeke“, eröffnete ihr Alexis und presste die Lippen aufeinander. „Scheiße, ich wollte doch nicht heulen!“

Gracie wurde unruhig. Zeke und Alexis waren seit fünf Jahren verheiratet – allem Vernehmen nach glücklich.

Alexis holte tief Luft und sagte dann: „Ich glaube, er betrügt mich.“

„Was? Das kann nicht sein! Er ist verrückt nach dir!“

„Das dachte ich auch.“ Alexis wischte sich über die Augen. „Aber ...“ Sie unterbrach sich, als von oben klopfende Geräusche zu hören waren. „Er verschwindet jeden Abend und kommt nicht vor drei oder vier Uhr morgens nach Hause. Und wenn ich ihn frage, was los ist, sagt er, er ist in Sachen Wahlkampf unterwegs. Aber das glaube ich ihm nicht.“

Sorgfältig faltete Gracie die Zeitung zusammen. „Welcher Wahlkampf? Ist Zeke nicht im Versicherungsgeschäft?“

„Ja, aber er ist der Wahlkampfmanager für Riley Whitefield bei den Bürgermeisterwahlen. Ich dachte, das wüsstest du.“

Gracie war mehr als überrascht. „Seit wann das denn?“

„Seit ein paar Monaten schon. Riley hat Zeke angeheuert, weil ...“

Schritte donnerten geräuschvoll die Treppe herunter. Sekunden später stand Vivian in der Küche.

„Hey, Alexis“, sagte sie und flocht ihre langen Haare zu einem Zopf. „Willst du nicht heute für mich in den Laden gehen?“

„Nicht wirklich.“

Vivian grinste. „Man kann ja mal fragen. Dann bin ich jetzt weg zur Sklavenarbeit, um mir mein Traum-Hochzeitskleid leisten zu können. Amüsiert euch nicht allzu sehr in meiner Abwesenheit!“

Die Hintertür knallte ins Schloss, und kurz darauf hörte man, wie ein Motor startete. Erst erfolglos, dann sprang er an.

Alexis ging hinüber zum Fenster über der Spüle und schaute hinaus. „Sie ist weg. Wo waren wir stehen geblieben?“

„Du hattest mir gerade eröffnet, dass dein Mann jetzt für Riley Whitefield arbeitet. Und wie kam es dazu?“

„Nach dem Studium hat Zeke zwei Jahre für einen Senator aus Arizona gearbeitet.“ Ihre Sorge legte sich ein wenig, und lächelnd sah sie Gracie an. „Ich war damals am Arizona State College, und er ...“ Alexis schüttelte den Kopf. „Mein Gott, wie ewig ist das her. Ich fasse es nicht, dass er mir so etwas antun kann. Ich liebe ihn doch so sehr. Ich dachte ...“ Ihre Stimme brach. „Was soll ich denn jetzt bloß machen?“

Gracie hatte das Gefühl, in einer dieser Rummelplatzattraktionen zu sein, einem Haus voller Zerrspiegel, in dem nichts so war, wie es schien, und man zwangsläufig die Orientierung verlor.

Natürlich, Alexis und Vivian waren ihre Schwestern. Ihre Verwandtschaft war nicht zu übersehen, sie hatten alle lange blonde Haare – Alexis mit einem Stich ins Weiße, Vivian ins Rote und Gracie ins Goldene -, blaue Augen und in etwa dieselbe Statur. Aber ansonsten gab es kaum Gemeinsamkeiten. Gracie hatte ihre Schwestern seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, nur über die Entfernung Kontakt gehabt. Sie wusste einfach nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte, wie sie plötzlich die Beraterin ihrer Schwester in privaten Dingen sein konnte.

„Du weißt doch gar nicht sicher, ob wirklich eine andere Frau dahintersteckt“, wagte sie einen Kommentar. „Vielleicht arbeitet er wirklich für die Kampagne.“

„Stimmt, das weiß ich nicht. Aber ich werde es herausfinden.“ Alexis ging einen Schritt auf sie zu.

Ein ungutes Gefühl machte sich in Gracie breit. „Tut mir leid, wenn ich frage, aber: Wie willst du das anstellen?“

„Indem ich seine Aktivitäten überprüfe. Heute Abend ist angeblich so ein Treffen mit Riley. Und ich werde da sein.“

„Das ist keine besonders gute Idee“, gab Gracie zu bedenken und griff nach ihrer Kaffeetasse. „Glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede. Meine persönliche Riley-Erfahrung.“

„Nichts wird mich davon abhalten“, sagte Alexis trotzig, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Und du musst mir helfen.“

Gracie stellte ihre Tasse ab. „Auf keinen Fall, Alexis. Das geht nicht. Das kannst du vergessen. Das ist doch Irrsinn!“

Wieder flössen Tränen über die Wange ihrer Schwester. Alexis sah auf einmal aus wie der personifizierte Schmerz, was Gracies Ratlosigkeit noch verstärkte. Dennoch versuchte sie, Alexis von ihrer Idee abzubringen.

„Das wird in einer Katastrophe enden“, bekräftigte sie ihre Worte mit überzeugender Stimme. „Und ich mache dabei nicht mit.“

„Ich verstehe“, erwiderte Alexis, während ein Zittern ihre Mundwinkel vibrieren ließ.

„Gut. Denn das musst du alleine durchziehen.“

Ein paar Stunden später schlich Gracie mit ihrer Schwester an einer akkurat geschnittenen Hecke entlang, die zur Villa der Familie Whitefield gehörte, dem Zuhause unzähliger Generationen wohlhabender Whitefields. Inzwischen war Riley hier eingezogen.

„Das ist doch Wahnsinn“, flüsterte Gracie ihrer Schwester zu, als diese nur ein paar Meter von einem der Hinterfenster entfernt in die Hocke ging. „Ich habe damit aufgehört, Riley zu verfolgen, als ich vierzehn war. Und jetzt fange ich wieder damit an!“

„Du verfolgst nicht Riley, sondern Zeke. Das ist ein Unterschied.“

„Aber wenn Riley uns erwischt, wird er das anders sehen.“

„Wir lassen uns nicht erwischen. Hast du deine Kamera dabei?“

Gracie hielt ihre alte, zuverlässige Polaroidkamera hoch.

In der kleinen Linse spiegelte sich das Licht der Straßenlaterne.

„Bist du bereit?“, fragte Alexis. „Das Fenster der Bibliothek ist um die Ecke. Von da solltest du sie gut vor die Linse bekommen.“

„Warum machst du das Bild nicht selbst?“, wollte Gracie wissen, deren Beine plötzlich schwer wie Blei waren.

„Weil ich hier stehen bleibe, um zu sehen, ob irgendein Flittchen über den Hintereingang das Haus verlässt.“

„Warum sollte Zeke sich mit seiner Affäre ausgerechnet hier treffen und nicht in einem Motel?“

„Das wäre dumm, denn ich kümmere mich um die Rechnungen. Außerdem hat Zeke auch schon mal einem Kumpel seine Studentenbude für ein Têteà-Tête zur Verfügung gestellt, und dasselbe tut eben Riley jetzt für Zeke. Oder glaubst du im Ernst, dass so ein Treffen wegen einer Wahlkampagne bis zwei Uhr morgens dauert?“

Auf eine sehr verquaste neurotische Art war an dieser Argumentation sogar etwas dran. Gracie kroch näher ans Haus heran. Trotzdem war es Irrsinn, sich auf ein Privatgrundstück zu schleichen und durch ein Fenster Beweisfotos machen zu wollen.

„Wir wissen doch nicht mal, ob sie überhaupt in der Bibliothek sind“, flüsterte sie ihrer Schwester zu.

„Zeke hat mir aber gesagt, dass sie sich immer da treffen. Wenn es also wirklich ein Treffen gibt, dann muss er dort sein.“

„Kann ich nicht einfach durch das Fenster gucken und dir berichten, was ich sehe?“

„Ich will einen Beweis.“

Was Gracie wollte, stand offensichtlich nicht zur Debatte. Gegen ihre eigensinnige Schwester war sie einfach machtlos. Sie musste ihr helfen, ob sie wollte oder nicht. Sie würde jetzt die Bilder machen, und dann könnten sie verschwinden. Es brachte nichts, herumzuhocken und zu streiten.

„Es geht los“, sagte Gracie also und kroch noch näher auf das Haus zu.

Das Gebüsch unter dem Fenster war dichter, als es zunächst erschien. Sie zerkratzten sich die nackten Arme und blieben mit ihren Klamotten hängen. Außerdem stellte sich heraus, dass das Fenster der Bibliothek ziemlich hoch oben war. Gracie musste also die Kamera über den Kopf halten und blind den Auslöser drücken – ohne zu wissen, was oder wer in dem Zimmer war. Nur mit überaus viel Glück wäre überhaupt jemand auf dem Bild zu sehen.

Aber genau in diesem Moment sah tatsächlich eine Gestalt aus dem Fenster.

„Dann wollen wir mal“, murmelte Gracie, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte auf den Auslöser.

Ein greller Blitz durchzuckte den dunklen Garten. Im selben Moment ließ sich Gracie fluchend auf die Knie fallen. Verdammt! Wieso hatte sie nicht daran gedacht, den Blitz auszuschalten?

„Vermutlich weil ich mit der Kamera normalerweise Fotos von Hochzeitstorten mache und nicht von Leuten, denen ich hinterherspioniere“, murmelte sie, sprang dann auf und rannte zum Wagen.

Keine Spur von Alexis. Jetzt nur noch so schnell wie möglich weg von hier, bevor ...

„Stehen bleiben!“

Der harsche Befehl wurde begleitet von einem unangenehmen Gefühl zwischen ihren Schulterblättern, gegen die etwas Hartes, Pistolenartiges gedrückt wurde. Gracie erstarrte.

„Was machen Sie hier? Falls Sie etwas stehlen wollten, sind Sie ziemlich unprofessionell. Oder schießen Sie immer zuerst Leuchtraketen ab?“

„Normalerweise nicht“, gab Gracie stockend zu. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Aber ich kann das alles erklären. Wirklich.“

Noch während sie sprach, drehte Gracie sich um. Dann erkannte sie den Mann, der die Waffe auf sie gerichtet hatte – und er erkannte sie.

Beide erschraken. Gracie wünschte nur noch, die Erde würde sich vor ihr auftun und sie verschlingen. Wäre ihm gerade ein Gespenst begegnet, sein Blick hätte nicht erstaunter sein können.

„Herr im Himmel“, entfuhr es Riley Whitefield. „Gracie Landon, das bist doch bitte nicht du?“

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" für Margot Bucher mit der ID 1688969 generiert. ©2012