9. KAPITEL
Schon wieder ein Streit mit Tom?“, fragte Gracie, als sie aus dem Auto stieg und zur Haustür ging. Vivian sah mitgenommen aus. „Woher weißt du das?“
„Ach, das war nur so eine Vermutung.“
Sie hoffte, diese Bemerkung klang sarkastisch genug. Eigentlich hatte sie sagen wollen: „Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, weil du immer nur zu mir kommst, wenn etwas nicht in Ordnung ist.“
Gracie schloss auf und ging hinein. Ihr gemietetes Häuschen war hell und modern eingerichtet und vollkommen ausreichend für ihre Bedürfnisse, und doch fiel ihr in diesem Moment wieder Rileys Haus ein. Na ja. Eines Tages, wenn sie reich war und bereit, sich wieder in Los Lobos niederzulassen ... Aber ehrlich gesagt, war da ein Lottogewinn wahrscheinlicher.
„Also“, sagte sie wenig begeistert, nachdem sie Teewasser aufgesetzt hatte. „Wo drückt der Schuh diesmal?“
Ihre Schwester setzte sich an den Küchentisch und fing sofort an, in den Deko-Blumen, die dort zum Trocknen auslagen, herumzustochern. Sie nahm eine Rose in die Hand, die natürlich sofort zerbrach.
„Oh. Entschuldigung.“ Sie legte die größeren Stückchen zurück auf den Tisch und wischte sich die Finger an der Hose ab. „Es geht um Tom, wie du schon vermutet hattest. Er macht gerade seinen MBA, und wir wollen heiraten.“
„Ja, das wusste ich bereits.“ Gracie holte eine Dose mit Tee und stellte sie zwischen die beiden Tassen auf die Anrichte.
„Er hatte ein paar Vorstellungsgespräche in L. A., und ich dachte, eine von diesen Stellen bekommt er. Doch jetzt habe ich herausgefunden, dass er lieber eine Stelle hier in der Bank annehmen will.“
In Los Lobos gab es mehrere Banken, die üblichen Filialen von internationalen Großbanken. Aber wenn von „der Bank“ die Rede war, war damit nur eine gemeint: Rileys Bank.
„Interessant“, lautete Gracies Kommentar. Ob Riley davon wusste? Wahrscheinlich interessierte er sich nicht dafür, wer sich bei der Bank bewarb und eingestellt wurde. Also hatte er vermutlich keine Ahnung von Tom.
„Das ist nicht interessant, das ist schrecklich!“, jammerte Vivian. „Ich will nicht den Rest meines Lebens in diesem Kaff verbringen. Ich will auch mal was anderes kennenlernen. Du bist weggegangen, warum darf ich nicht? Ich kann es nicht fassen, dass er diese Stelle überhaupt in Erwägung zieht. Wir hatten mehrfach darüber gesprochen, dass ich von hier wegwill!“
Vivian fing an zu weinen. Ihr hohes, jämmerliches Schluchzen konkurrierte mit dem Pfeifen des Wasserkessels – und gewann.
Es war sicher absolut überflüssig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass sie Los Lobos nicht gerade freiwillig den Rücken gekehrt hatte. Vivian war für Logik nicht aufgeschlossen.
Gracie gab in jede Tasse einen gehäuften Löffel Tee, brachte sie rüber zum Tisch und setzte sich gegenüber von ihrer Schwester hin.
„Dann sag die Hochzeit doch ab“, schlug sie ohne großes Interesse vor.
Schockiert sah Vivian sie an. „Was?“
„Sag die Hochzeit ab. Wenn du so unglücklich mit Tom bist, dann heirate ihn nicht.“
„Aber ich muss ihn heiraten! Wir sind doch verlobt. Und die Einladungen sind schon draußen. Weißt du, wie viel so was kostet?“
Das wusste Gracie sehr wohl. „Du hast doch bisher noch keine großen Ausgaben gehabt. Das meiste kann sicher noch erstattet werden.“
Vivian sah sie an, als wäre sie vollkommen verrückt geworden. „Ich werde meine Hochzeit nicht absagen.“
„Dann musst du eben mit Tom reden. Sag ihm, wenn sein Arbeitsplatz darüber entscheidet, wo ihr wohnen werdet, sei das nicht allein seine Sache.“
Diesmal etwas sanfter, berührte Vivian wieder eine der kleinen Rosen. „Machst du für meine Torte auch solche Blumen?“
„Wenn du willst. Ich habe mich noch nicht entschieden. In den nächsten Tagen mache ich dir einen Entwurf fertig.“
„Die sind echt schön. Du bist voll das Genie.“
„Ich gebe mir Mühe.“
Vivian schlürfte ihren Tee. „Und Tom sagt, ich gebe mir nicht genug Mühe. Er sagt, wir müssen beide sparen, wenn wir uns ein Haus kaufen wollen. Aber im Moment muss ich doch erst mal für mein Brautkleid sparen. Der Lehrerjob bringt nicht so viel ein, deswegen arbeite ich ja zusätzlich halbtags bei Mom im Haushaltswarenladen.“ Das Leben war anscheinend zu schwer für sie.
„Würdest du denn in L. A. auch als Lehrerin arbeiten?“, wollte Gracie wissen.
„Das müsste ich wohl. Aber wenn Tom einen guten Job bekäme, könnte ich auch einfach zu Hause bleiben.“
„Das heißt, ihr wollt sofort eine Familie gründen?“
„Nein. Was hat das denn damit zu tun?“
Gracie wusste auf diese Frage keine Antwort. Nach ihrer Vorstellung waren Ehemann und Ehefrau gleichberechtigte Partner, die gemeinsam für ihre Ziele arbeiteten. Offensichtlich hatte Vivian da eine andere Vorstellung.
Vielleicht war das auch gar nicht richtig? Vielleicht war das der Grund, warum Vivian und Alexis einen Partner hatten und sie nicht?
„Ich denke, ich kann dir da keinen Rat geben“, sagte Gracie.
„Dann muss ich wohl mit einer meiner Freundinnen sprechen“, stellte Vivian fest. „Mom tickt wegen der Hochzeit total aus, und Alexis ist so mit sich selbst beschäftigt, dass sie kein offenes Ohr für andere hat.“ Ihre kleine Schwester schmiegte sich an sie. „Gut, dass du anders bist, Gracie. Du denkst immer an die anderen.“
Hatte sie da gerade richtig gehört? „Tja, danke. Schön, dass du das denkst.“
„Ja.“ Vivian tätschelte ihr den Arm und stand auf. „Ich muss los. Ich habe immer noch keine passenden Schuhe zu meinem Kleid, und ich will nach Santa Barbara in diesen neuen Brautmodenladen fahren. Vergiss nicht unser Familientreffen morgen. Es gibt viel zu besprechen. Mach’s gut!“
Und damit war sie verschwunden.
Gracie stellte die Tassen in die Spüle.
Was war das denn jetzt gerade wieder gewesen? Wie konnte Vivian ganz aufgelöst sein wegen eines Streits mit Tom und im nächsten Moment wegfahren und Schuhe für die Hochzeit einkaufen? Natürlich war Gracie keine Expertin auf diesem Gebiet, aber ihr war klar: Diese Frau war nicht erwachsen genug, um überhaupt zu heiraten.
Aber das ging sie ja zum Glück nichts an.
Sie ging zurück zum Tisch und sammelte behutsam die Blumen ein, dann holte sie ihren Skizzenblock. Sie konnte genauso gut jetzt mit dem Entwurf für Vivians Hochzeitstorte beginnen. Und falls die Hochzeit doch noch abgesagt wurde, konnte sie den Entwurf zumindest in ihre Mappe aufnehmen.
Am nächsten Tag fuhr Gracie nachmittags zum Haus ihrer Mutter. Mit dabei hatte sie mehrere Entwürfe für die Hochzeitstorte sowie ein paar Vorschläge für hübschen und trotzdem günstigen Tafelschmuck. Als sie in die Einfahrt einbog, fragte sie sich, ob sie sich nicht vielleicht zu viel Mühe gab. Warum strengte sie sich eigentlich so an, wo sie doch kein Geld für ihre Arbeit bekam? Warum beteiligte sie sich überhaupt an diesen Vorbereitungen? Auch Riley hatte gesagt, dass die Familie einen total fertigmachte. Nur wollte sie das nicht glauben. Sie hatte nur noch ihre Mutter und ihre Schwestern. Und wenn sie nicht dazugehörte, wäre sie ganz allein.
Mit der Mappe in der Hand stieg sie aus. Sie war kaum ein paar Meter gegangen, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.
„Gracie! Oh Gracie!“ Eunice Baxter kam in einem für eine über achtzigjährige Dame bemerkenswert schnellen Tempo auf sie zu. „Ich habe neulich in der Zeitung das Bild von Ihnen gesehen.“
Gracie ließ die Schultern hängen. Natürlich hatte sie es gesehen. „Hallo, Mrs. Baxter.“
Die alte Frau war ganz aufgeregt. „Sie sahen so schön aus! Und Riley ist wirklich ein Schnuckelchen. Allein dieser Ohrring!“ Sie begann zu kichern. „Sehr sexy.“
Wie war das? Mrs. Baxter fand Riley sexy? Sollte sie das jetzt cool finden oder geschmacklos? Egal. Vielleicht konnte sie diese Info ja mal als Munition gegen Riley einsetzen.
„Gehen Sie auch zum Vortrag?“, fragte Mrs. Baxter sie. „Ich glaube, ich werde es mir anhören. Vielleicht gehe ich schon ganz früh hin und setze mich in die erste Reihe.“ Sie zwinkerte. „Dann habe ich die beste Sicht auf ihn.“
„Welcher Vortrag?“
„Er hält einen Vortrag, heute Nachmittag an der Highschool. Irgendetwas zur Verantwortung der Bürger für ihre Stadt oder so. Nicht, dass mich das Thema sonderlich interessiert. Ich wähle immer den, der am besten aussieht. Und da hat Franklin Yardley gegen Riley nicht den Hauch einer Chance!“
Das war tatsächlich eine seltsame Auffassung von Demokratie, wenn Eunice Baxter immer nur nach Aussehen der Kandidaten wählte. Die Gründungsväter wären sicherlich nicht sehr erbaut.
„Kommen Sie doch auch vorbei“, schlug die Alte ihr noch mal vor und zwinkerte.
Das reizte Gracie durchaus, obwohl es sicher vernünftiger wäre, sich nicht am selben Ort wie Riley blicken zu lassen. Das roch schon jetzt nach Problemen.
„Vielen Dank für die Information“, sagte sie und drehte sich Richtung Haus. „Jetzt muss ich erst mal meiner Schwester ein paar Entwürfe für ihre Hochzeitstorte zeigen.“
„Dieses Mädchen.“ Mrs. Baxter machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie und ihr Freund sind wie Hund und Katze. Ich gebe den beiden keine zwölf Monate. Und Alexis ist auch nicht viel besser. Merken Sie sich meine Worte, Gracie: Sie sind die Beste von allen.“
Das Kompliment versetzte Gracie sofort in beste Stimmung, obwohl sie selbst sich im Moment gerade nicht so toll fand. „Das weiß ich zu schätzen, Mrs. Baxter.“ Sie winkte der Nachbarin noch einmal zu und verschwand dann im Haus.
Eine Viertelstunde später tat es ihr bereits leid, dass sie sich solche Mühe gegeben hatte. Vivian fand alle ihre Vorschläge für den Tafelaufsatz zu schlicht, und auch keiner der drei Tortenentwürfe fand ihr Wohlgefallen.
„Mir gefallen sie“, meinte Tom dagegen. „Die sehen alle toll aus.“
Offensichtlich hatten sich die beiden wieder zusammengerauft. Diese Aussage machte Tom in ihren Augen noch sympathischer.
„Liebling, das ist Frauensache. Ich weiß, dass du gern mitentscheiden möchtest, aber ich hatte schon genaue Vorstellungen von meiner Hochzeit, als ich sechs Jahre alt war!“
Gracie sah Tom an, der ihren Blick erwiderte und dann mit den Schultern zuckte, wie um zu sagen: „Ich hab’s versucht.“
Der arme Kerl tat ihr leid. Wenn er Vivian tatsächlich heiraten würde, wäre es mit seiner Ruhe vorbei.
„Ich finde diese Torten alle so ... ich weiß auch nicht. Irgendwie mickrig“, seufzte Vivian, während sie die Blätter mit den Entwürfen vor sich auf dem Tisch betrachtete.
„Die sind ja nicht maßstabsgetreu“, stieß Gracie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „So eine Torte reicht für dreihundert Personen.“
Vivian zeigte auf den schlichten, aber eleganten Entwurf mit den Orchideen, die auf einer Seite der Torte hinunterströmten. „Kann man nicht die ganze Torte so machen, dass sie voller Blumen ist? Wie ein riesiges Bouquet?“
„Das ist nicht sehr sinnvoll. Deine Gäste sollen ja wissen, dass sich darunter eine Torte befindet.“
„Wirklich?“
„Mir gefällt die, die wie ein Geschenk aussieht“, mischte Alexis sich ein. „Und wenn man als Geschenkbänder einfach Blumen nähme?“
„Das ginge natürlich“, lenkte Gracie ein und griff nach ihren Tabletten.
Dann ging sie in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Ihre Mutter kam ihr hinterher.
„Ich bin ganz sicher, dass sich Vivian für einen Vorschlag entscheiden wird“, sagte sie beschwichtigend. „Ist es nicht schön, dass Tom auch hier ist?“
Gracie nickte nur und drehte den Wasserhahn auf.
„Es ist sehr nett von dir, dass du für deine Arbeit kein Geld nimmst. Ich habe den Artikel in der People gelesen und weiß, wie teuer deine Torten sind.“
So etwas Freundliches hatte sie schon lange nicht mehr von ihrer Mutter gehört. „Schließlich ist sie meine Schwester. Da hilft man doch gerne.“
„Wir sind also beide selbstständige Unternehmerinnen. Wer hätte das gedacht.“
Was ihre Mutter mit dieser Unterhaltung wohl bezweckte, fragte Gracie sich. Vielleicht sollte es eine Art Friedensangebot sein, aber sicher war sie sich da nicht.
„Aber dein Geschäft ist komplizierter als meins“, sagte sie zu ihrer Mutter. „Du hast Angestellte und ein Inventar. Ich dagegen muss mich nur um mich selbst kümmern.“
„Ja, aber du hast etwas aus dir gemacht. Deswegen verstehe ich eins nicht: Wenn du sonst so clever bist, wieso dann nicht auch in Sachen Riley?“
Volltreffer. Irgendwie überraschte die Attacke Gracie nicht einmal. „Am besten ist, wir reden nicht über ihn, okay? Wir sind uns da völlig einig, dass wir in diesem Punkt uneinig sind.“
Ihre Mutter kam auf sie zu. „Du versuchst es nicht einmal, das ist das Merkwürdige daran. Deine Schwester hat gesagt, du warst gestern Abend bei ihm.“
Gracie spürte, wie sie ungläubig den Mund aufriss. „Hat Alexis dann vielleicht auch gesagt, dass sie mich angefleht hat, mitzukommen, weil sie kontrollieren wollte, ob Zeke wirklich bei Riley ist?“
Anscheinend wollte sie die Wahrheit nicht hören. „Gracie, du weißt, ich will nur dein Bestes. Das war schon immer so. Ich wünschte, du würdest endlich begreifen, was du da tust. Die ganze Stadt lacht über dich.“
„Weißt du was, Mom? Du irrst dich. Die ganze Stadt ist so mit sich selbst beschäftigt, dass sich keiner für mich interessiert. Die ganze Geschichte ist vierzehn Jahre her. Irgendwann muss Schluss sein damit!“
„Du bist doch die Einzige, die immer wieder davon anfängt. Wenn es um diesen Jungen geht, hast du doch noch nie Verstand bewiesen!“
Gracie stellte ihr Glas hin und verschränkte die Arme vor der Brust. „Erstens ist er kein Junge mehr. Er ist ein erfolgreicher Mann, der viel erreicht hat. Vorher kannte ich ihn kaum, jetzt kenne ich ihn. Er ist toll. Nein, mehr als das. Er ist wunderbar. Er ist intelligent und sexy, und es macht Spaß, mit ihm zusammen zu sein.“
Ihre Mutter zuckte zusammen. „Oje! Das ist ja schlimmer, als ich dachte.“
„Es ist überhaupt nichts.“ Gracie versuchte, die Ruhe zu bewahren. „Und genau darum geht es. Du regst dich völlig umsonst auf. Ich bin nicht besessen von Riley. Ich bin inzwischen ein erwachsener Mensch, ich habe mein eigenes Leben. Ich hatte Freunde, Beziehungen, Liebhaber, und vor zwei Jahren hätte ich mich beinahe sogar verlobt. Wenn einer von uns in der Vergangenheit stehen geblieben ist, dann bist du es!“
„Du bekommst einfach nicht mit, was los ist“, sagte ihre Mutter bestürzt. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir helfen kann.“
„Ich gebe dir einen Tipp: Ich brauche deine Hilfe nicht. Das war vielleicht vor vierzehn Jahren anders, aber in Wirklichkeit hast du dich auch damals schon nicht für mich interessiert. Du hast mich einfach weggeschickt. Du warst nie da für mich, nicht einmal, als ich dich angefleht habe, mich zurück nach Hause zu holen. Es war dir immer vollkommen egal, was ich mir gewünscht, was ich gebraucht habe. Ich wäre so gerne zu meiner Familie zurückgekehrt, aber du hast mir den Rücken zugewandt. Egal, ich bin darüber weggekommen. Ich wurde erwachsen, auch ohne deine Hilfe. Und weißt du was? Es ist mir scheißegal, was du über mich oder Riley oder irgendjemanden sonst denkst. Ihr drei habt mich gebeten, wegen Vivians Hochzeit zurückzukommen. Ich habe meine Hilfe zugesagt, und ich stehe zu meinem Wort. Aber sobald der ganze Quatsch vorbei ist, bin ich sofort wieder weg und komme garantiert nicht wieder!“
Und damit ließ Gracie ihre Mutter stehen und ging zurück ins Wohnzimmer.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich will“, rief Vivian aufgeregt.
„Dann zeichne es mir auf“, erwiderte Gracie und schnappte sich ihre Handtasche.
„Wo willst du denn hin? Warte! Ich muss dir doch noch sagen, was ich haben will, damit du mir einen Entwurf machen kannst! Gracie! Warte!“
Doch Gracie sah sich nicht einmal um. Sie ging zu ihrem Auto, stieg ein und fuhr davon. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie Angst bekam, es würde zerspringen. Sie zitterte und war ganz benommen. Es war ein Gefühl, als wäre sie überfahren worden.
Seit sie zu ihrer Tante und ihrem Onkel gezogen war, hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, wieder nach Hause zu kommen. Wochenlang wartete sie darauf, dass ihre Mutter anrufen und ihr sagen würde, es sei alles nur ein Missverständnis gewesen. Doch der Anruf war nie gekommen, und irgendwann hatte Gracie damit aufgehört zu warten.
Als Nächstes redete sie sich ein, dass ihre Familie ihr egal war. Sie war in den Ferien nie nach Hause gefahren, sondern traf sich mit ihrer Familie in L. A. oder sonst wo. Das war zur Tradition geworden.
Aber jetzt fragte sich Gracie, ob sie Los Lobos nicht aus einem anderen Grund gemieden hatte: aus Enttäuschung. Denn bei ihrer Rückkehr wäre sie automatisch mit dem konfrontiert worden, was damals geschehen war. Dem hätte sie nicht entgehen können.
Und jetzt war es genauso gekommen. Wegzubleiben war in der Tat eine gute Idee gewesen.
An einer roten Ampel hielt sie und überlegte, was sie jetzt machen sollte. Es gab mehrere Möglichkeiten, unter anderem auch die, ihre Sachen zu packen und zurück nach L. A. zu fahren.
„Ich werde nicht davonlaufen“, sagte sie laut zu sich selbst und versuchte, hart zu klingen und nicht enttäuscht.
Ihr war allerdings auch die Lust vergangen, jetzt nach Hause zu fahren. Schließlich fuhr sie zur Highschool, parkte auf dem Schulparkplatz und ging in die Aula, um Riley Whitefields Vortrag über die Verantwortung der Bürger zu lauschen. Sie konnte ja gemeinsam mit Eunice Baxter seinen Ohrring bewundern.
Doch sie setzte sich nicht in die vorderste Reihe, sondern schlüpfte durch den Seiteneingang hinein und nahm ganz hinten in der Ecke Platz. Obwohl sie ihre Mutter davon hatte überzeugen wollen, dass es ihr egal war, was man in der Stadt über sie dachte oder über sie und Riley, wollte sie es nicht auf die Probe stellen.
Sie kauerte sich auf ihren Stuhl und vermied jeden Augenkontakt. Offensichtlich ging die Strategie auf, denn niemand nahm auch nur annähernd Notiz von ihr.
Eine halbe Stunde später ertappte sie sich dabei, wie sie Riley buchstäblich an den Lippen hing. Er sprach über die Stadt und darüber, dass jeder einzelne Bürger verantwortlich dafür war, „wohin die Reise ging“. Wie jeder ein Vorbild sein konnte, indem er zum Beispiel lokalen Firmen den Vorzug gegenüber internationalen Konzernen gab oder seinen Abfall richtig entsorgte, statt einfach alles in der Gegend abzuladen. Er sprach darüber, dass der Tourismus zwar eine wichtige Einnahmequelle für Los Lobos sei, er aber nicht allein über die Entwicklung der Stadt entscheiden dürfte.
Gracie war ganz begeistert und wünschte sich plötzlich, dazuzugehören. Sie richtete sich auf und applaudierte – bis sie plötzlich hinter sich jemanden flüstern hörte: „Ist das nicht Gracie Landon? Die Frau aus der Zeitung?“
Sie drehte sich um und sah, wie mehrere Zuhörer in ihre Richtung schauten. Frauen stießen ihre Ehemänner an, ältere Leute beugten sich zu ihren Sitznachbarn hinüber und starrten dann wieder sie an.
Ganz klar: Sie saß in der Falle und fühlte sich, als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. Sollte sie die Aula verlassen oder lieber so tun, als hätte sie nichts bemerkt? Den Leuten zuwinken und lächeln?
In diesem Augenblick beendete Riley seine Rede, und alle standen auf, um ihm Beifall zu spenden. Als die Menge sich aufzulösen begann, versuchte Gracie, durch den Seiteneingang zu verschwinden. Doch dabei geriet sie in eine Schlange von Personen, die dem Redner die Hand schütteln wollten. Bevor sie sich’s versah, stand sie Riley gegenüber.
„Ich wäre besser nicht gekommen“, entschuldigte Gracie sich, als sie seinen erstaunten Blick registrierte. „Aber ich dachte, es würde keinem auffallen.“
„Du bist herzlich willkommen – wenn du versprichst, mir deine Stimme zu geben.“
„Ich bin in diesem Wahlbezirk leider nicht registriert.“
„Das können wir ändern.“
Die Leute rückten immer enger an sie heran, damit ihnen auch ja keines ihrer Worte entging. Natürlich würden sie alles brühwarm ihrer Mutter berichten. Vielleicht lachten auch einige von ihnen heimlich über sie. Das war Gracie in diesem Moment allerdings vollkommen egal.
„Ich fand es gut, was du gesagt hast“, lobte sie Riley. „Es ist richtig, dass jeder einzelne Bürger von Los Lobos darüber entscheiden soll, was mit dieser Stadt geschieht, anstatt die Touristen entscheiden zu lassen.“
„Danke.“
Was er gerade dachte, konnte sie beim besten Willen nicht erahnen. Nicht wo so viele Leute um seine Aufmerksamkeit buhlten. Also verabschiedete sie sich und ging davon – und traf dabei ausgerechnet Zeke.
„Was machst du denn hier?“, begrüßte er sie.
„Ich habe deinem Kandidaten zugehört.“
Ihr Schwager war ein gut aussehender Kerl mit einem gewinnenden Lächeln. Er machte einen sympathischen Eindruck, und Gracie verstand, warum Alexis ihn geheiratet hatte.
Zeke sah sich um. „Du ziehst ziemlich viel Aufmerksamkeit auf dich. Vielleicht sollten wir woanders hingehen, damit sich die Leute besser auf Riley und seinen Wahlkampf konzentrieren können als auf die Legende der Stadt.“
Er führte sie zu einer Seitentür und von dort auf den Parkplatz. Gracie wusste, dass sie das alles nichts anging, aber sie musste ihn fragen. Bevor er wieder in der Schule verschwinden konnte, hielt sie ihn am Arm fest.
„Warum sagst du Alexis nicht, was du treibst? Sie macht alle Welt verrückt mit ihren Sorgen, obwohl du vermutlich der Hauptleidtragende bist.“
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“
„Aber du machst doch etwas.“
„Und was geht dich das an?“
Gracie fixierte ihn. „Das soll jetzt ein Witz sein, oder? Deine Frau hat mich gezwungen, dich durch die halbe Stadt zu verfolgen, dir nachzuspionieren, Fotos zu machen und an Orten aufzutauchen, an denen ich nicht sein wollte. Nur damit sie weiß, was du treibst!“
Zeke scharrte mit den Füßen. „Gut, du hast recht. Es ist nur so ...“ Er zuckte mit den Schultern, dann wandte er sich ab. „Ich mache nichts Schlimmes. Ich betrüge sie nicht, und ich habe auch nicht vor, sie zu verlassen. Ich gebe auch kein Geld aus oder so was. Ich brauche nur noch ein bisschen Zeit. Ich schwöre dir, dann werde ich es ihr sagen.“
Das war zwar auch keine wirklich zufriedenstellende Antwort, aber besser als nichts. „Ich kann dich nicht zwingen, es mir zu verraten“, beschwichtigte sie. „Aber wünschen würde ich es mir schon.“
„Deine Schwester ist etwas überspannt. Ich gebe ja gerne zu, dass ich mich in den letzten Wochen vielleicht etwas seltsam benommen habe. Aber wenn es im Supermarkt mal länger dauert, denkt sie immer gleich, ich wäre mit der Kassiererin durchgebrannt.“
Das klang für Gracie nicht nach dem perfekten Eheglück. „Und wie kommt sie auf so was?“
„Ich habe keine Ahnung. Ehrlich! Ich liebe deine Schwester mehr als alles andere auf der Welt. Sie spinnt in manchen Dingen, aber sie ist wunderbar und liebevoll, und mit ihr ist es nie langweilig. Das weißt du.“
Er lächelte, und auch wenn seine Worte immer noch etwas Unbehagen in ihr auslösten, war sie doch beruhigt. Schließlich kannte sie ihre Schwester selbst nicht besonders gut.
„Ich muss los und mich um meinen Kandidaten kümmern“, sagte Zeke und küsste sie auf die Wange. „Danke.“
Wofür er sich bei ihr bedankte, wusste sie nun wirklich nicht. Nachdenklich sah sie ihm nach.
Immer noch hatte sie das Gefühl, ihre Familie verloren zu haben. Doch ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass sie sich diese „Verbannung“ später selbst ausgesucht hatte – auch wenn sie gegen ihren Willen weggeschickt worden war. Eigentlich hätte sie jederzeit zurückkehren können. Gut, sie fühlte sich wie eine Fremde in ihrer eigenen Familie. Aber was hatte sie selbst dagegen unternommen?
Darüber musste sie mal nachdenken.
Am nächsten Morgen packte Gracie ihre Zutaten, die Kuchenformen und die anderen Utensilien zusammen, lud sie in ihr Auto und fuhr zu Pams Bed & Breakfast am Meer.
Sie kannte das Gebäude noch aus ihren Kindertagen. Damals hatten Gerüchte über eine Landung von Außerirdischen kursiert, die das Haus zu einem unwiderstehlichen, aber gleichzeitig auch total gruseligen Ort machten. Die älteren Jugendlichen trafen sich hier zum Stelldichein, und die jüngeren bewiesen ihren Mut dadurch, dass sie hoch zur Tür rannten und klopften.
Gracie hatte sich damals nur bis auf die Veranda getraut, die wirklich sehr beeindruckend war. Jetzt parkte sie hinter dem Gebäude, gleich würde sie hineingehen und dort ihren neuen Arbeitsplatz einrichten. Außerirdische hin oder her, sie musste ihre Torten fertigstellen.
Aus Höflichkeit klopfte sie kurz an, dann schloss sie mit dem Schlüssel auf, den Pam ihr überlassen hatte.
Wie beim ersten Anblick schlug ihr Herz auch jetzt so wild wie bei einer Frischverliebten. Nur war es kein Mann, der sie in diese Hochstimmung versetzte, sondern die nagelneuen, funkelnden Küchenarmaturen aus rostfreiem Stahl, die riesigen Arbeitsflächen und die großen Fenster, durch die hell die Vormittagssonne schien.
Nach dem Einräumen machte sie sich sofort an die Arbeit. Sie rührte eine Backmischung an und verteilte sie auf verschiedene Backformen, setzte dann einen sogenannten Kamin in die größeren Formen ein und schob alle Formen in den Ofen.
Als sie gerade den Timer gestellt hatte, hörte sie ein anderes Fahrzeug parken. Sie sah aus dem Fenster. Es war Pam, die in diesem Moment aus ihrem Lexus stieg.
Mitten im Backen konnte sie schlecht verschwinden, also wappnete sie sich mit einem aufgesetzten Lächeln und hoffte, die Begegnung mit Pam würde nicht allzu lange dauern.
„Hallo“, begrüßte sie Pam betont fröhlich. „Wie geht’s?“
„Super.“ Pam ließ mehrere Kataloge mit Tapetenmustern auf die Anrichte fallen. „Ich kann mich endlich der Einrichtung der Zimmer widmen, das macht Spaß.“
Obwohl sich Gracie zur Feier des Tages schick gemacht hatte – sie trug eine Baumwollbluse zur schwarzen Hose -, fühlte sie sich neben Pam in einer schicken Velourslederhose samt passendem Jackett und sexy Mieder darunter mal wieder völlig schlampig.
„Ich kam gerade an der Schule vorbei“, meinte Pam jetzt. „Es war knallvoll. Riley hat dort eine Rede gehalten.“
„Ach ja?“ Gracie tat so, als wüsste sie nichts davon. „Läuft seine Kampagne gut?“
„Hoffentlich.“
Gracie versuchte, keine Reaktion zu zeigen, doch offensichtlich gelang ihr das nicht. Pams Grinsen war nicht zu übersehen.
„Das meine ich wirklich ernst“, sagte sie. „Das mit uns ist so lange her. Ich war damals jung und dumm und hege wirklich keinen Groll gegen Riley. Außerdem finde ich Franklin Yardley einfach nur gruselig. Er war schon Bürgermeister, als ich in der Oberstufe war, und ich bekam damals von ihm mein Abschlusszeugnis in die Hand gedrückt. Ich schwöre dir, dass er mir an den Hintern gepackt hat, als er es mir überreichte.“
Gracie stützte sich auf die Anrichte. Jill hatte ihr einmal eine ähnliche Geschichte erzählt. „Das gibt’s doch nicht! Bei einer Freundin von mir hat er das auch gemacht. Sie war total angewidert.“
„Das ist ja wohl logisch! Von diesem alten Kerl begrabscht zu werden! Ich hätte ja gerne was gesagt, aber ich dachte, das glaubt mir sowieso keiner. Und deshalb werde ich Riley meine Stimme geben.“
Das klang ehrlich. Gracie hätte ihr gern geglaubt, aber irgendwie schaffte sie es nicht. Jedenfalls noch nicht.
„Du hast danach nicht noch mal geheiratet.“
Pam lehnte sich gegen die Anrichte. „Stimmt. Ich habe zwar mit dem Gedanken gespielt, aber eigentlich liebe ich das Singledasein. Momentan bin ich mit jemandem zusammen, er wohnt in Santa Barbara. Das ist mir sehr recht, denn das ist nahe genug, damit wir uns regelmäßig sehen können, aber ich habe ihn nicht dauernd vor der Nase. Das mag ich nicht. Ich war so lange Single, ich könnte, glaube ich, gar nicht mehr mit einem Mann zusammenleben. Und wie sieht’s bei dir aus?“
Gracie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Partner. Aber der Einzige, bei dem die Funken in ihr sprühten, war nicht an ihr interessiert. Außerdem konnte sie einfach nicht mit ihm zusammen sein, das war Unsinn. Und sie beide hatten auch unterschiedliche Vorstellungen vom Leben. Gut, er fand sie wohl attraktiv, und geküsst hatten sie sich auch schon. Aber er war kein Mann für eine feste Beziehung.
Sie schüttelte den Kopf, als sie bemerkte, dass Pam sie anstarrte. „Tut mir leid. Was hast du gerade gefragt?“
Pam lachte. „Vergiss es. Ich sehe schon, du bist mit anderen Dingen beschäftigt. Ich hole mir nur was zu lesen, und dann bin ich auch schon wieder weg!“
Sie schnappte sich ihre Kataloge mit den Tapetenmustern und verließ die Küche. Gracie sah ihr nach und fragte sich, ob es nicht falsch gewesen war, ein so hartes Urteil über Pam zu fällen.