13. KAPITEL

Alle Menschen im Saal wandten sich in Gracies Richtung. Einen Moment lang dachte sie, sie würde zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht fallen. In ihren Ohren rauschte es, ihr Körper kam ihr ungeheuer schwer vor, und sie konnte sich auf nichts mehr konzentrieren. Dann hatte sie wieder einen klaren Blick, und sie sah deutlich, wie Riley aufsprang und wütend und schockiert in ihre Richtung blickte.

„Gracie?“ Jill starte sie an. „Hast du ...?“

Gracie wartete nicht auf das Ende des Satzes. Sie fühlte die Blicke der Menschenmenge auf sich. Man zeigte mit dem Finger auf sie, es wurde getuschelt. Doch all das war ihr egal. Sie wollte nur eins wissen: Was ging in Riley vor?

„Ich muss gehen“, sagte sie und stand auf, dann rannte sie zur Tür. Irgendjemand rief ihren Namen, doch sie lief weiter und drehte sich nicht um.

„Ist das wahr?“, schrie jemand. „Hat Riley dich geschwängert?“

In Gracies Magen brannte es, aber das hatte diesmal nichts mit Sodbrennen zu tun. Dieser Schmerz kam von der Erkenntnis, dass sie einmal in ihrem Leben einem Menschen nahe gewesen war – und ihr diese Nähe gerade entrissen wurde.

Riley überlegte, ob er zur Bank zurückfahren sollte. Es war kurz nach fünf, er konnte also auch direkt nach Hause fahren, aber er wollte jetzt nicht allein sein.

Das Rededuell hatte mit einer Katastrophe geendet. Yardley war von Anfang so zuversichtlich über den Ausgang der Veranstaltung gewesen – es war offensichtlich, dass er etwas im Schilde führte. Aber damit war nun wirklich nicht zu rechnen gewesen. Yardleys Schläge hatten gesessen. Die braven Bürger von Los Lobos konnten über eine Menge Fehler hinwegsehen, doch keiner würde ihm verzeihen, dass er die Legende der Stadt mies behandelte.

Woher wusste Yardley überhaupt Bescheid? Hatte er einfach ein paar Fakten zu dieser Geschichte aufgebauscht, oder hatte ihm jemand gesteckt, was passiert war? Er selbst hatte mit niemandem darüber geredet, und er bezweifelte, dass Gracie Gerüchte streute. Das hieß aber auch: Die Information konnte Yardley nur von Gracie selbst haben.

Riley parkte auf seinem Parkplatz hinter dem Bankgebäude und stieg aus. Obwohl gleich geschlossen wurde, herrschte immer noch reger Kundenbetrieb. Riley sah eine Frau, die einen Kinderwagen über den Bürgersteig schob. Es war warm, der Himmel wolkenlos. Alles war vollkommen normal. Und trotzdem fühlte er sich, als hätte man ihn verprügelt und halbtot am Straßenrand liegen lassen.

Wie konnte sie ihm das antun? Was waren ihre Beweggründe? Er hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Gracie Bürgermeister Yardley nicht ausstehen konnte. Warum also sollte sie ihn unterstützen? War sie noch immer verbittert wegen der Geschichte damals? War das etwa ein ausgeklügelter Rachefeldzug?

Leise Zweifel an seiner Spekulation machten sich breit, als er die Bank betrat. Vielleicht war Gracie auch unschuldig. Vielleicht hatte die Person, die sie verfolgt und die Fotos gemacht hatte, genug gesehen. Doch bis die Nachforschungen des Privatdetektivs nicht vorlagen, gab es keine Beweise.

Aber Gracie – nein, das wollte er nicht glauben. Vor vierzehn Jahren hätte er seine Seele, wenn nicht sogar seinen Wagen dafür verkauft, dass sie aus seinem Leben verschwand. Doch jetzt ... Jetzt wusste er selbst nicht, was er wollte.

Er bog um die Ecke und ging zum Aufzug. Mehrere Angestellte standen zusammen und sprachen leise miteinander.

Als er sich ihnen näherte, stieß einer einen anderen an. Sie drehten sich zu ihm um.

„Guten Tag, Mr. Whitefield“, begrüßte ihn eine junge Frau und schaute dabei zur Seite.

Er nickte ihr zu und trat in den Aufzug. Noch bevor sich die Aufzugtür schloss, setzten sie ihr Gespräch fort. Riley hörte noch den Gesprächsfetzen: „... meint ihr wirklich, dass er ...

Worte verbreiten sich schnell, dachte er und stieg im ersten Stock aus. Wahrscheinlich war die Radioübertragung daran schuld. Heute Abend würde Zeke ausnippen. Sie würden sich einen großen Rettungsplan ausdenken müssen, und noch hatte er keine Ahnung, wie der aussehen könnte. Yardley zusammenzuschlagen würde ihm Spaß machen. Doch damit war die Wahl auch nicht gewonnen. Genauso wenig wie mit einer Klage.

Riley betrat sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Er starrte das Porträt seines Onkels an.

„Du wirst nicht gewinnen“, sagte er zu dem Bild. „Weder jetzt noch sonst irgendwann. Ich werde garantiert eine Lösung finden.“

Er würde tun, was er immer getan hatte, wenn die Lage aussichtslos erschien. Er würde einfach noch mehr arbeiten als alle anderen und sich durch nichts von seinem Weg abbringen lassen. Nicht von dieser Stadt, nicht von der Vergangenheit, nicht von dem elenden Bürgermeister und auch nicht von Gracie.

Da klopfte es an der Tür.

„Verschwinden Sie!“, rief er.

„Hier ist jemand, der Sie sprechen möchte, Mr. Whitefield.“

„Interessiert mich nicht.“

„Aber es ist wichtig.“

Heute standen keine Termine mehr an, also konnte es nichts Geschäftliches sein. Vielleicht war es ja Yardley, der sich an seinem Unglück weiden wollte?

Nein, das war nicht sein Stil. Riley wurde neugierig. Also ging er zur Tür und riss sie auf.

„Wer ist es denn?“

Statt ihm zu antworten, trat Diane einen Schritt zurück. Riley erwartete eine ihm bestens bekannte Person mit blonden Haaren und einladendem Lächeln, die hinter ihr zum Vorschein kommen würde. Doch da stand nur ein Mann, Mitte bis Ende fünfzig, in einem abgetragenen Anzug und einem weißen fleckigen Hemd. Er hatte mehr graue Haare und Falten und schien viel kleiner zu sein, als Riley ihn in Erinnerung hatte.

Es war zwar über zwanzig Jahre her, aber Riley erkannte in ihm sofort seinen Vater, der ihn und seine Mutter im Stich gelassen hatte.

Der Mann versuchte es mit einem unsicheren Lächeln. „Hallo, mein Sohn. Wie ist es dir ergangen?“

Gracie war schon auf halbem Weg nach L. A., als sie in Ventura den Highway verließ und zurück nach Los Lobos fuhr. Sie war erwachsen, das wurde ihr schlagartig bewusst, und konnte nicht einfach vor allen Problemen davonlaufen – auch wenn das manchmal keine schlechte Idee zu sein schien.

Und irgendwie gelang es ihr, sich Mut für diesen Schritt zu machen. Hätte ihr in diesem Augenblick allerdings jemand angeboten, bei der Kolonialisierung der Jupitermonde mitzumachen, wäre sie ganz sicher dabei gewesen.

In ihrem Kopf schwirrten eine Menge Gedanken umher. Sie wusste gar nicht, was sie denken sollte. Ihr war ganz schlecht. Und sie war traurig und wütend auf alle, die sie so betrogen hatten. Über ihre Lippen war kein Wort gekommen. Woher bezog der Bürgermeister also seine Informationen?

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie schaute schnell aufs Display und warf es dann zurück auf den Beifahrersitz. Bisher hatte sie drei Anrufe von Jill, jeweils einen von ihren Schwestern und etwa sechs von ihrer Mutter erhalten, aber sie wollte auf gar keinen Fall mit ihnen reden. Und von der Person, auf deren Anruf sie wartete, hatte sie noch nichts gehört – Riley.

Was mochte er wohl denken? Wusste er, dass sie ihn nie verraten würde, oder arbeitete er gerade schon an einer kleinen Gracie-Puppe, in die er Nadeln stechen konnte? Hasste er sie am Ende gar? Sie hätte sogar Verständnis dafür, wenn er wütend auf sie wäre. Aber sie könnte es nicht ertragen, wenn er sich von ihr abwenden würde, ohne ihr eine Chance zu geben, ihre Unschuld zu beweisen. Aber wie sollte sie das überhaupt anstellen?

Wie hatte das alles passieren können? Wer hatte ihnen diese Falle gestellt? Und wie? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Nachbarin eine Spionin war. Sollte sie wirklich auf Rileys Besuch gewartet, dann ihren Hund in den Pool geworfen und bei Gracie geklopft haben, um sie um Hilfe zu bitten? So ein Quatsch!

Also musste es jemand anderes sein. Sie drehte sich mit ihren Fragen im Kreis.

Eine Stunde später hatte sie die Abfahrt nach Los Lobos erreicht und verließ den Freeway. An der Ausfahrt zögerte sie kurz und bog dann rechts anstatt links ab, um in den schicken Teil der Stadt zu gelangen. Sie passierte Rileys Haus und parkte vorsichtig um die Ecke, sodass die Gerüchteküche nicht sofort wieder überkochte. Dann ging sie zur Haustür. Sie würde wahrscheinlich einige Überzeugungskünste anwenden müssen, damit er ihr Gehör schenkte.

„Er wird mir schon zuhören“, ermunterte sie sich und hob die Hand, um zu klopfen.

Genau in diesem Moment ging die Haustür auf.

Überrascht stolperte sie nach vorn und fiel regelrecht ins Haus. Riley sah sie verwundert an.

„Hast du getrunken?“, fragte er.

„Was? Nein. Ich dachte nur nicht, dass du mich reinlässt. Ich wollte so lange klopfen, bis du aufmachst.“

„Und, bist du jetzt enttäuscht?“

„Nein.“

Er sah gut aus. Um nicht zu sagen fantastisch. Jeans, weißes Hemd, Turnschuhe. Dunkle Bartstoppeln säumten sein Kinn.

Sie wollte nur noch in seinen Armen liegen und ihm sagen, dass sie ihn nicht verraten hatte, dass er ihr vertrauen könnte, dass sie ihn liebte und ihn nie betrügen würde. Sie wollte ihm Beweise liefern und ihm sagen, dass alles wieder gut würde.

Stattdessen öffnete sie den Mund, schloss ihn wieder und schnappte dann nach seinem Hemd. Dann schüttelte sie ihn.

„Ich war es nicht“, beschwor sie ihn, während er starr wie ein Felsklotz dastand. „Ich habe niemandem erzählt, was zwischen uns gelaufen ist, und ich habe erst recht niemandem gesagt, dass ich vielleicht schwanger bin. Keine Ahnung, woher Yardley das hat. Jedenfalls nicht von mir.“

Sie hielt ihn immer noch am Hemd fest, als er seine Hände auf ihre legte und sie anblickte.

„Ich weiß“, sagte er schlicht.

Gracie blinzelte. „Wirklich? Du glaubst mir?“

Er nickte.

„Wieso?“

Ein schiefes Lächeln deutete sich auf seinem Gesicht an. „Kannst du es nicht einfach so akzeptieren?“

„Nein, nicht wirklich. Wenn ich du wäre, wüsste ich nicht, ob ich mir glauben soll. Also, wieso tust du es?“

Riley zuckte mit den Schultern, was nicht gerade eine befriedigende Antwort war, doch mehr schien er nicht sagen zu wollen.

Als er ihre Hände von seinem Hemd losgemacht hatte, trat er einen Schritt zurück. „Ich wollte zum Strand. Hast du Lust mitzukommen?“

„Gerne.“

Es war kurz vor Sonnenuntergang, als sie dort ankamen. Riley stellte den Mercedes auf einem der Parkplätze ab und nahm Gracie an die Hand, als sie runter zum Strand gingen. Sie hatte ihre Schuhe schon ausgezogen und reichte ihm jetzt, so ohne Absätze, nur knapp bis zur Schulter. Ihre Haare waren offen, und sie sah ein bisschen unordentlich aus, vielleicht war gerade das so unwiderstehlich sexy.

Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum er an ihre Unschuld glaubte – so einfach war das. Falls sich das als Fehler herausstellen sollte, würde es ihn siebenundneunzig Millionen Dollar kosten und die Rache, auf die er aus war.

Später konnte er auf seinen Verstand hören, jetzt nicht. Dann würde er sich auch überlegen, was er tun musste, um das Debakel des Rededuells wiedergutzumachen. Später konnte er Gracie auch sagen, sie sollte aus seinem Leben verschwinden. Aber jetzt nicht.

„Früher war ich oft hier“, erzählte Riley ihr. „Sobald ich meinen Führerschein hatte, war das einer meiner Lieblingsorte. Ich ging am Strand spazieren und versuchte, einen Sinn in meinem Leben zu entdecken.“

„Als Teenager hat man da keine Chance.“

Er schüttelte den Kopf und lächelte. „Das stimmt.“

„Aber immerhin hast du es versucht. Meine Suche nach dem Sinn des Lebens gestaltete sich damals so, dass ich jede Menge grottenschlechte Gedichte schrieb. Eines Tages werden sich die Bäume an mir rächen, weil so viel Papier für meine schlechten Poesieversuche draufgegangen ist.“

„Bäume tun sich aber bekanntlich schwer damit, sich zu organisieren.“

„Da habe ich wohl Glück gehabt.“

Sie sah ihn an, und ein angedeutetes Lächeln ließ Lachfältchen rund um ihre blauen Augen entstehen. Er wollte sie an sich ziehen und sie küssen, doch ihr Lächeln verschwand, und sie seufzte.

„Woher weiß er es?“

„Der Bürgermeister?“

Sie nickte.

„Er hat uns beobachten lassen. Oder auch nur mich.“

„Hat dir das dein Detektiv berichtet?“

„Er ist immer noch auf dem Posten. Ich bezweifle, dass er schon etwas weiß.“

„Ich verstehe.“ Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Der Typ, den der Bürgermeister angeheuert hat, um uns zu folgen, war jedenfalls erfolgreicher als wir bei Zeke. Vielleicht hätten wir ihn engagieren sollen.“

Trotz allem musste Riley lachen. „Deine Logik gefällt mir.“

„Also: Der Typ sollte lediglich Fotos von uns machen. Doch dann findet er heraus, was wir so treiben, und erzählt es dem Bürgermeister?“

„Oder Yardley hat einfach ins Blaue hinein Vermutungen angestellt und zufällig einen Treffer gelandet.“

Sie drückte Rileys Hand und stellte sich vor ihn.

„Ich war es nicht, Riley. Ich schwöre es dir.“

„Gracie, du musst das nicht andauernd beteuern. Ich glaube dir.“

„Ich hoffe es. Nur sprechen die Tatsachen gegen mich. Außer mir weiß doch niemand, dass wir miteinander geschlafen haben. Wer kann wissen, dass wir nicht verhütet haben und ich jetzt schwanger sein könnte?“

„Du bist nicht die Einzige, die es weiß. Ich war dabei, falls du dich erinnerst“, sagte er.

„Natürlich. Und du hast es sofort dem Bürgermeister auf die Nase gebunden.“ Sie drückte seine Hand fester. „Ich meine es ernst – du musst mir glauben. Das ist unglaublich wichtig für mich. Ich bin keine Lügnerin. Ich flippe öfters mal aus, wenn ich meine Torten nicht hundertprozentig hinkriege, und wenn es um meine Familie geht, reißt mir sofort der Geduldsfaden. Mit Geld kann ich auch nicht besonders gut umgehen, okay. Aber ich lüge nicht und würde dir nie eine Falle stellen. Und abgesehen davon habe ich keine Angst vor der Wahrheit. Weißt du noch? Ich bin die Frau, die ein Stinktier in dein Auto gesetzt hat. Ich tue die Dinge öffentlich und nicht im Verborgenen. Mir kann jeder zusehen.“

Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden. Während das letzte Licht verlosch, begann ihr Gesicht zu glühen, als würde sie von innen heraus leuchten. Einer so schönen Frau würde er alles glauben. Und nicht nur, weil er sie begehrte, sondern einfach, weil sie da war.

Zum ersten Mal in seinem Leben war jemand für ihn da. Jemand, der sich für ihn interessierte, dem seine Meinung und seine Gefühle nicht gleichgültig waren. Mit seinen Kumpels war das anders, und Frauen ließ er für gewöhnlich nicht nah genug an sich heran.

Also glaubte er Gracie.

Er nahm jetzt ihre Hand und zog sie an sich, sodass sie ganz dicht vor ihm stand.

„Wie konnten wir nur so weit kommen?“, grübelte er.

„Wir sind den Highway runtergefahren und dann den Beach Drive.“

Es kam ein Grinsen, dann ein verhaltenes Kichern, und schließlich lachte Riley aus vollem Halse. Gracie stimmte ein.

„Ich hatte schon immer einen besonderen Sinn für Humor“, stellte sie fest.

„Das kann man wohl sagen.“

Riley küsste sie auf die Nasenspitze. Sie reckte ihm den Mund entgegen. Am liebsten hätte er sie gleich hier am Strand genommen, aber diesen Moment am Strand wollte er noch ein bisschen länger genießen.

Er ließ ihre Hand los und schickte sich an weiterzugehen.

„Kann ich in Sachen Orientierung sonst noch irgendwie weiterhelfen?“, fragte sie.

„Im Augenblick nicht.“

„Du solltest dir vielleicht ein GPS anschaffen.“

„Das wäre eine Idee.“

Ein tiefer Atemzug füllte Gracies Lungen mit Meeresluft. „Ich liebe den Geruch des Meeres. In Torrance, bei meiner Tante und meinem Onkel, haben wir etwa acht Kilometer vom Meer entfernt gewohnt, also waren wir ganz oft am Strand. Ich habe eigentlich immer in der Nähe von Wasser gewohnt, anders kann ich es mir gar nicht vorstellen. Wie kann man bloß in den Bergen oder in der Wüste leben?“

„Wenn man es nicht anders kennt. Ich habe das Meer zum ersten Mal gesehen, als ich sechzehn war und wir hierherzogen.“

Sie sah ihn an. „Wo bist du denn aufgewachsen?“

„In Tempe. Und dann hier.“ Er erinnerte sich an den Wohnwagen, in dem er mit seiner Mutter gewohnt hatte. „Ich habe meine Mom nie gefragt, warum wir noch so lange dort geblieben sind, nachdem Dad uns verlassen hatte. Vielleicht hat sie gedacht, er käme zurück.“ Seine Mutter war immer eine Träumerin gewesen.

„Sechs Jahre sind eine lange Zeit.“

„Zu lang. Dann kamen wir hierher. Hier sollte es uns besser gehen, meinte sie, weil hier ihr Bruder lebte. Bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass ich einen Onkel hatte.“

„Und wie war es, als du ihn kennengelernt hast?“, wollte Gracie wissen.

„Ich habe ihn nie kennengelernt. Mom ließ mich im Motel und ging allein zu ihm. Und als sie zurückkam, sah ich, dass sie geweint hatte, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. Sie sagte eigentlich überhaupt nichts über diesen Besuch. Dann gingen wir auf die Suche nach einem hübschen kleinen Häuschen, in dem wir zwei glücklich sein würden.“

Riley führte Gracie zu einem Felsen und setzte sich davor in den Sand. Sie hockte sich neben ihn, und er nahm wieder ihre Hand.

„Ich habe mir dann im Lauf der Zeit das Puzzle zusammengesetzt“, fuhr er fort. Er scheute die Erinnerung und war doch in der Vergangenheit gefangen. „Ihr Bruder warf ihr vor, sie hätte der Familie den Rücken gekehrt, als sie mit meinem Vater durchbrannte. Für ihn existierte sie seitdem einfach nicht mehr. Und ich natürlich auch nicht.“

Gracie rutschte näher an ihn heran und kuschelte sich an ihn. „Tut mir leid für dich, dass dein Onkel so ein Pupskopf war.“

Riley musste lächeln. „Ich habe ihn all die Jahre als herzlosen Bastard bezeichnet, aber Pupskopf gefällt mir auch gut.“

„Ja, stimmt doch! Wie kann man denn seine eigene Familie so behandeln?“

Riley lehnte sich gegen die Steine und legte den Arm um Gracie. „Offensichtlich geht so was ganz leicht. Ich habe ihn ja nicht kennengelernt. Nur wenn ich hin und wieder in Schwierigkeiten geriet, schickte er mir Briefe voller Zurechtweisungen.“

„Aber du hast doch nie was richtig Schlimmes gemacht.“

Ihre Blicke trafen sich. „Ich war schon ein wilder Kerl.“

„Ich weiß. Das war eine deiner besten Eigenschaften. Dein ‚bad boy‘-Image hat mein kleines Teenager-Herzchen ganz schön rasen lassen. Ich fand dich schon immer gefährlich sexy.“ Provozierend und mit einem Grinsen im Gesicht fragte sie ihn: „Wusstest du eigentlich, dass ich mal in dich verknallt war?

Er kicherte. „Was? Nein, wirklich? Davon hab ich nie was mitgekriegt.“

„Ich weiß.“ Sie seufzte. „So bin ich. Ein feinfühliges Wesen und äußerst zurückhaltend. Kam er wenigstens zu deiner Hochzeit?“

„Nein. Wahrscheinlich hat ihm Mom sogar eine Einladung geschickt, aber mir war es völlig egal, ob er kommt oder nicht. Ich weiß nicht, ob Pam auf ein tolles Geschenk gehofft hat, aber jedenfalls kam auch da nichts von ihm.“

„Pam ist ja jetzt wirklich total nett und alles“, meinte Gracie. „Aber irgendwie kann ich mich trotzdem nicht dazu durchringen, dass es mir für sie leidtut.“

„Ich mich auch nicht. Ich wollte sie ja auch gar nicht heiraten. Wusstest du das überhaupt?“

Überrascht sah Gracie ihn an. „Du machst Witze. Ich dachte, du wärst total verliebt in sie gewesen.“

„Ich war geil auf sie“, korrigierte er. „Das ist ein großer Unterschied. Mit achtzehn war es super, sie als Freundin zu haben, denn sie machte echt was her. Aber als sie mir dann was von einer Schwangerschaft erzählte, war ich echt sauer. Sie hatte mir gesagt, sie würde die Pille nehmen, und ich habe ihr geglaubt.“

Das Thema machte Gracie unruhig. „Ich habe nie gesagt, dass ich sie nehme.“

Sanft küsste Riley ihr Haar. „Das ist nicht dasselbe. Ich hab dir schon mal gesagt, ich bin deshalb nicht sauer auf dich.“

„Aber ich ...“

Er legte ihr eine Hand auf den Mund. „Nein.“

„Aber ...“

Er presste fester. „Schluss jetzt.“

„Okay.“

Insgeheim war es ja auch eigentlich sein Fehler gewesen, dachte Riley. Er wollte unbedingt mit ihr schlafen und hatte an Vorsichtsmaßnahmen überhaupt nicht gedacht. Eigene Blödheit.

„Worüber haben wir gerade gesprochen?“, fragte er.

„Dass du Pam nicht heiraten wolltest, weil du heimlich in mich verliebt warst.“

„Nicht so ganz.“

„Aber ziemlich nah dran.“

„Ich wollte Pam nicht heiraten.“

„Okay, das kann ich verstehen“, gab Gracie zu. „Und ich darf dich daran erinnern, dass ich dich schon damals vor ihr gewarnt habe.“

„Ja, das hast du. Und ich wollte nicht hören. Aber es war ohnehin egal. Meine Mutter bestand auf dieser Heirat. Sie pochte auf mein Verantwortungsbewusstsein.“ Bei dem Gedanken an den Streit von damals verzog Riley das Gesicht. „Sie wollte, dass ich respektiert werde und das Richtige tue.“

„Aber du wolltest nur weg.“

„Ja. Ich will ja gar nicht sagen, dass meine Mutter unrecht hatte. Aber mit achtzehn sieht man das anders. Also heiratete ich Pam, blieb lange genug bei ihr, um festzustellen, dass sie gar nicht schwanger war, und machte mich dann aus dem Staub. Erst sagte ich meiner Mutter aber noch, sie hätte mein Leben ruiniert und ich würde ihr das niemals verzeihen.“

Er sah hinaus aufs dunkle Meer. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und man konnte kaum die weißen Schaumkronen sehen, die auf den Sand gespült wurden.

„Das war das Letzte, was ich zu ihr gesagt habe“, vertraute er Gracie an.

„Was?“ Gracie machte sich los und sah ihn an. „Weil du danach nie mehr zurückkamst?“

Riley nickte. „Ich war so wütend. Dann bin ich abgehauen und in den Norden gegangen. Schließlich landete ich in der Südchinesischen See, auf der Ölbohrinsel. Von dort aus schickte ich ihr einen Brief mit einem Scheck. Sie schrieb zurück und bat mich, sie doch irgendwann einmal zu besuchen. Ich versprach es, doch ich habe es nie geschafft.“

Es war für ihn nicht so wichtig gewesen, und seine Wut hatte sich lange Zeit nicht gelegt.

„Irgendwann schrieb sie mir dann, sie wäre krank und hätte Krebs, allerdings sei es nicht so ernst, dass ich alles gleich stehen und liegen lassen müsste. Ich organisierte also meine Rückreise. Eine Woche bevor ich fahren wollte, rief mich eine Krankenschwester aus dem Krankenhaus an, in dem sie lag. Sie teilte mir mit, dass meine Mutter nur noch wenige Stunden zu leben hätte. Meine Rückreise dauerte knapp fünfzig Stunden. Als ich ankam, war sie schon tot.“

Gracie hielt ihn fest. „Wie schrecklich.“

„Na ja. Es ist lange her. Im Grunde hatte Yardley also recht mit dem, was er heute gesagt hat. Ich kam nicht zurück, als meine Mutter im Sterben lag.“

„Aber du wusstest doch nichts davon.“

„Ist das eine Entschuldigung?“, erwiderte er und sah immer noch hinaus aufs Meer. „Ich finde nicht. Sie war ganz allein, das ist für mich das Schlimmste. Sie starb im Krankenhaus und war ganz allein. Weil ihr egoistischer Sohn es nicht auf die Reihe bekam, rechtzeitig seinen Arsch zu bewegen. Und ihrem eigenen Bruder, der in derselben Stadt lebte, war sie vollkommen egal.“

Gracie kniete sich hin und sah ihn an. „Wovon redest du?“

„Donovan Whitefield hielt Wort. Er hat seiner Schwester nie verziehen.“ Gracie spürte seine Verbitterung. „Ich habe später ihre Briefe an ihn entdeckt, die alle ungeöffnet zurückkamen. Sie hatte ihn um Geld angefleht, damit sie ihre Behandlung bezahlen könnte. Das bisschen, was ich ihr geschickt habe, war bei Weitem nicht ausreichend. Und bei dem, was ich damals verdiente, hätte ich auch nie eine kostspielige medizinische Behandlung bezahlen können. Also wandte sie sich an ihren Bruder, doch er öffnete ihre Briefe nicht einmal.“

Mit einem krächzenden Laut warf sich Gracie in Rileys Arme.

„Das tut mir alles so leid für dich“, flüsterte sie und presste sich zitternd an ihn.

Unfähig, mit ihrem Mitleid umzugehen, verspannte sich sein ganzer Körper, dann legte er die Arme um sie.

„Ist schon okay“, beruhigte er Gracie.

„Ist es nicht.“ Sie hob den Kopf und sah ihn an. Waren das Tränen, die ihr über die Wangen liefen? „Nein, das ist alles ganz und gar nicht okay. Du trägst diese Schuld mit dir herum, obwohl es alles nicht deine Schuld ist. Weder hast du deine Mutter krank gemacht, noch wusstest du, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte.“

Gracie wollte ihm helfen. War ihr nicht klar, dass das nicht ging?

„Doch, das wusste ich. Sie hat es mir ja gesagt.“ „Aber dann hätte sie bestimmter sein müssen, du bist ja kein Gedankenleser. Gut, du wirfst dir vor, dass du dich nicht beeilt hast, aber das ist alles. Alles andere ... Wie konnte dein Onkel nur so lieblos sein? Wie konnte er sie so jämmerlich im Stich lassen? Ich mag Alexis und Vivian im Augenblick auch nicht, aber ich würde sie nie im Stich lassen. Erst recht nicht in einer solchen Situation.“

Wahrscheinlich würde Gracie auch einem tollwütigen Hund ihre Hilfe nicht verweigern, dachte Riley gerührt.

„Mich berührt das alles nicht mehr“, versuchte er ihr zu erklären. „Ich habe meinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht.“ Obwohl „Frieden“ wohl nicht ganz das richtige Wort war. Er hatte sich mit den Tatsachen abgefunden und beschlossen, es wiedergutzumachen.

Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Du hast deinen Frieden noch nicht gefunden. Du bist immer noch wütend.“

Wieso kannte sie ihn so gut? „Ich komm schon drüber weg.“

Gracie wusste nicht, ob das so einfach war. Wie sollte er alles, was geschehen war, einfach akzeptieren und dann weitermachen können wie vorher? Sie spürte den Schmerz in seinem Innern, die Verletzung – so sehr, dass es ihr selbst wehtat. Sie wollte sich um ihn legen wie ein heilender Verband. Oder in die Vergangenheit zurückreisen und alles ungeschehen machen.

Er war ein guter Mann, er war stark. Das hatte er nicht verdient.

„Es tut mir leid für dich“, flüsterte sie noch einmal. „Ich hasse diesen Bürgermeister Yardley. Warum musste er mit deiner Vergangenheit anfangen, nur damit er besser dasteht? Das ist widerwärtig.“

„Ein alter Pupskopf, was?“

„Der größte Pupskopf von allen.“ Gracie wischte sich die Tränen ab. „Wie konnte er das nur tun? Furchtbar. Und jetzt denken alle Leute schlecht von dir. Das ist unfair.“

„Ich werd’s überleben“, sagte er.

„Aber du musst auch die Wahl gewinnen. Kann ich dir denn irgendwie helfen?“

„Ich sag dir Bescheid, wenn wir uns auf eine Strategie geeinigt haben.“

„Ich gehe auch gern zu den Leuten nach Hause und sage allen, dass ich nicht schwanger bin.“

Diese Frau war echt süß. „Das würde sicherlich für Aufsehen sorgen. Aber sollten wir nicht erst das Ergebnis des Schwangerschaftstests abwarten, bevor du losziehst?“

„Richtig. Gutes Argument.“ Sie ließ sich neben ihn in den Sand fallen. An ein Baby wollte sie im Augenblick gar nicht denken. „Das würde ich gerade sowieso nicht verkraften.

„Du meinst, jetzt, wo deine Schwester heiratet, die andere wegen ihres Ehemanns Panik schiebt, dann deine vielen Tortenbestellungen, die Sache mit Pam und der Bürgermeister, der allen erzählt hat, wir hätten Sex gehabt?“, stichelte er.

Stöhnend pflichtete sie ihm bei. „Wenn du es so ausdrückst, hört es sich schon viel besser an. Ist das jetzt ein Voroder ein Nachteil?“

„Es ist einfach anders. Heute ist übrigens mein Vater bei mir aufgetaucht.“

Dass sie tatsächlich noch etwas schockieren könnte, war eigentlich undenkbar. Doch offensichtlich hatte sie sich geirrt.

„Dein Vater? Hier?“

„Er war in der Bank“, erzählte Riley und fuhr mit seinen Fingern durch ihr Haar. „Obwohl ich ihn vor zweiundzwanzig Jahren das letzte Mal gesehen habe, habe ich ihn sofort erkannt. Wenn das nicht etwas zu bedeuten hat.“

Sie wusste nicht, was sie davon zu halten hatte. „Er wollte dich sehen?“

Riley lachte bitter. „Natürlich nicht. Er wollte Geld. Er hat sich noch nicht einmal danach erkundigt, wie es mir geht, sondern verlangte einfach, ich solle ihm einen Scheck ausstellen. Er wäre diesen Monat knapp dran.“

Es war, als hätte ihr jemand einen Tritt versetzt. Riley tat zwar völlig emotionslos, aber sie kannte das Gefühl, von einem Elternteil im Stich gelassen zu werden. Auch wenn es bei ihr anders gewesen war, der Verlust war derselbe.

„Tut mir leid“, flüsterte sie.

„Was passiert ist, ist passiert. Ich habe ihn rausgeworfen, aber er wird garantiert wieder auftauchen. Wahrscheinlich gebe ich ihm etwas, um ihn loszuwerden.“

Sie schlang die Arme um ihn. „Ich wünschte, ich könnte daran etwas ändern.“

„Das ist nicht deine Aufgabe.“

„Ich weiß, aber ich würde dir gerne helfen.“ Sie streichelte sein Gesicht. „Komm mit zu mir.“

An seiner Miene änderte sich nichts. „Das ist nur eine kurzfristige Lösung.“

„Eine bessere kann ich zurzeit nicht anbieten.“

„Das sollte keine Beschwerde sein.“

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