Samhain / 5
Die Klaue kracht durch den Sargdeckel als wäre er aus Papier und reißt ihn mit einer spielerischen Bewegung hoch. Kalter Wüstensand rieselt in Tanyas Gesicht, gefolgt von fahlem Mondlicht und sie muss blinzeln. Noch bevor sie die Situation erfasst hat, ergreift sie eine grazile Hand und zieht sie aus dem einfach zusammengezimmerten Kiefernsarg heraus.
Gierig saugt Tanya die kühle klare Nachtluft in ihre schmerzenden Lungen, für einen kurzen Moment den Schmerz in ihrem Unterleib verdrängend. Noch leben wir, denkt sie. Es geht uns zwar beschissen, aber ganz egal – wir sind noch nicht tot! Ihr Blick fällt auf das Loch neben ihr, das in der Erde gähnt wie ein schwarzer Abgrund. Sie erschauert und verspürt mit einem Mal das Bedürfnis sich zu übergeben, schafft es aber, sich zu beherrschen.
'Danke...'
Sie möchte noch mehr sagen, doch ihre Stimme ist heiser und bringt nicht mehr als ein Krächzen hervor. Sie wendet sich ihrer Retterin zu. Eine hochgewachsene, dunkelhaarige Schönheit, von der eine Aura der Kälte ausgeht, die Tanya frösteln lässt. Du bist kein Mensch - du bist wie Lee. Langsam kriecht die Furcht wieder in Tanya hoch. Gut, sie hat sie gerettet. Nur muss das noch lange nicht heißen, dass sie nicht einfach nur andere Pläne mit ihr hat. Die Tanya genauso wenig gefallen dürften wie eine Beerdigung dritter Klasse bei lebendigem Leib.
‘Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde dir kein Leid antun.'
Ein Lächeln huscht über das engelsgleiche Gesicht.
'Deine Gefährtin...sie ist meine Schwester. Mein Name ist Jennifer.'
'Dann nochmals vielen Dank...Jennifer. Ich bin - '
'Ich weiß, wer du bist. Du kannst mir deine Geschichte später erzählen. Jetzt müssen wir uns um andere Dinge kümmern.'
Das einzige worum ich mich jetzt kümmern will ist Lee, denkt Tanya, aber sie beherrscht sich. Irgendwie weiß sie, dass Jennifer es nicht mag, wenn man ihr widerspricht. Und das sie reden wird, wenn es ihr danach ist. Jetzt gerade scheint das nicht der Fall zu sein. Außerdem ist da ja noch ein klitzekleines anderes Problem – nämlich das sie eine Kugel abgekriegt hat. Die sie schon bald umbringen wird, wenn sie nicht schnellstens einen Arzt finden.
Jennifer scheint die gleichen Gedanken zu haben, denn sie betrachtet erst Tanyas blasses Gesicht und dann den roten Fleck auf ihrem T-Shirt. Kurz glaubt Tanya ein gieriges Glitzern in Jennifers Augen zu sehen, doch es verschwindet ebenso schnell wie es gekommen ist. Jennifer betrachtet Tanya, als wäre sie ein exotisches Tier, das man nicht allzu oft zu Gesicht bekommt. Sie scheint für einen Moment in Gedanken versunken, bevor sie sich mit ihrem Fingernagel eine Ader aufschneidet, aus der sofort ein verführerisch duftender roter Strom in ihre Handfläche hinein fließt. Jennifer hält Tanya ihre wie zu einem Gefäß geformte Hand entgegen, die sich langsam mit Blut füllt
'Trink. Wenn du es nicht tust, wirst du sterben.'
Tanya denkt an Kyle und zögert. Auf der anderen Seite - hat sie eine Wahl? Außerdem - da ist dieses Aroma. So bezaubernd. Anziehend. Sie spürt, wie ihre Zweifel zerstäuben und durch Gier ersetzt werden. Der rationale Teil ihres Verstandes versucht noch, sie zurückzuhalten, doch der Selbsterhaltungstrieb in ihr ist stärker. Wenn sie ihr Leben dadurch retten kann, dass sie das Blut dieses Wesens trinkt – dann sei es so. Tanya stürzt sich auf das Blut wie ein hungriger Wolf, und Jennifer lässt sie eine Zeitlang gewähren, bevor sie Tanya im Nacken packt und ihren Kopf wegzieht, so dass Tanya sie mit ihrem blutverschmierten Gesicht ansehen muss.
'Das reicht jetzt.'
Ein leises Fauchen steigt aus Tanyas Kehle auf, doch schließlich lichtet sich der blutrote Nebel vor ihrem inneren Auge. Verwundert und auch erleichtert stellt sie fest, dass die Schmerzen bereits nachgelassen haben, und ihr geht der Gedanke durch den Kopf, dass diese Frau die Königin der Kelche sein muss. Jennifer sieht ihr in die Augen und gibt Tanyas Kopf frei.
‘Du wirst Lee niemals erzählen, dass du von meinem Blut gekostet hast.'
Tanya nickt. Keine Sorge, denkt sie. Ich werde über all das hier schweigen, selbst wenn die Hölle zufrieren sollte. Denn wenn ich es nicht tue, wirst du kommen. Zu mir. Und du wirst so lächeln, wie du es jetzt tust. Nur das es das Lächeln des Todes sein wird. Für mich. Ihr Blick wandert zu den Leichen.
'Was machen wir mit denen?'
'Wir überlassen sie der Wüste. Was sonst?'
Tanya nickt mit dem Kopf in die Richtung von Kyles Leiche.
'Geht in Ordnung, was das Arschloch da angeht. Den sollen ruhig die Geier fressen. Was ist mit dem anderen Typen? Gehörte der dazu?'
'Nein. Er war ein Freund. Er hat dich gerettet. Hat sein Leben geopfert für deines. Ohne dich zu kennen. Ohne zu wissen, wie du überhaupt heißt.'
'Sein Name war Pete, nicht wahr.'
Jennifer nickt.
'Dann soll ihn die Wüste haben. Aber nicht so wie diese Ratte. Er hat mir mein Grab erspart. Ich denke, es ist das Mindeste, dass er es bekommt. Meinst du nicht auch?'
Jennifer bedenkt Tanya
mit einem seltsamen Blick.
'Ihr Menschen...ihr überrascht mich immer wieder.'
Sie macht eine kurze Pause, bevor sie weiter spricht.
'Begrabe ihn.'
***
Es dauert eine Zeit, doch dann ist es getan. Tanya wirft mit einer müden Bewegung die Schaufel achtlos beiseite und setzt sich neben den Erdhügel, der nun Petes letzte Ruhestätte geworden ist. Ihre Hände und ihr Rücken schmerzen, und in ihrem Kopf herrscht Leere.
'Sie hat mal gesagt, immer, wenn sie mal jemanden mag – dann ist er nicht mehr lange da. So langsam fange ich an zu verstehen, was sie gemeint hat.'
‘Du bist noch da.'
Ja, noch bin ich da, denkt sie. Fragt sich nur, wie lange noch. Sie stützt sich mühsam auf einen Arm und sieht zu Jennifer hinauf.
‘Du weißt, wo sie ist, nicht wahr?'
'Ja. An einem Ort, der für euch Menschen tabu ist. Ihr habt kein Recht, euch dort aufzuhalten.'
'Lass mich raten – ich will da auch gar nicht hin, richtig?'
Jennifers lächelt, und wieder fühlt Tanya einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen.
'Ich muss dich nun verlassen. Ich wünsche dir viel Glück. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns irgendwann einmal wieder.'
'Hey...was ist mit Lee...ich meine...ich möchte doch nur...'
Wissen, ob sie zu mir zurückkommt. Weil ich nie wieder glücklich sein werde, wenn ich nicht wenigstens weiß, was mit ihr geschehen ist.
Jennifer dreht sich noch einmal um.
'Warte hier. Bald wird das Auge des Himmels seinen Lauf beginnen. Bis dahin wird sich entschieden haben, ob sie zurückkehrt.'
Tanya will noch nachfragen, was das nun wieder zu bedeuten hat, doch Jennifer ist bereits in die Dunkelheit eingetreten, und Tanya lässt sich auf den Rücken fallen. Scheiße! Nichts geht mehr. Jetzt kann sie nur noch ausharren. Und hoffen. Müdigkeit überkommt sie, und bevor sie sich versieht, fällt sie in einen tiefen traumlosen Schlummer.