Engel / 12

 

Es ist kurz vor Morgengrauen, als Frank die Stufen zu seiner Zuflucht hinuntersteigt. Eine Nacht wie so viele andere auch. Er schaut sich noch einmal um, gibt den Code für die Stahltür ein, berührt den Knauf – und zieht einmal tief Luft ein. Jemand war hier. Ein Mensch? Nein, das ist -

 

Sie. Sie ist hier. Ihr Geruch. Dieser Duft, der immer noch fast unmerklich in der Luft schwebt. Dieses ganz spezielle Parfum des Todes, das er nie vergessen wird. Mit einem schnellen Ruck öffnet er die Tür, die lautlos nach innen schwingt, und betritt mit einem weiten Schritt den nur von einer nackten Glühbirne notdürftig erleuchteten Raum.

 

'Wen haben wir denn da? Hallo Cat! Was verschafft mir die Ehre?'

 

'Ich hasse es, wenn man mich so nennt. Du weißt das.'

 

Catherines Augen scheinen Eispfeile zu verschießen, was Frank mit einem Grinsen quittiert.

 

'Oh. Entschuldige. Wie konnte ich das nur vergessen. Warte, lass mich mal raten - wohl genauso, wie du es vergessen hast, dass ich es hasse, wenn man unangemeldet und ohne meine ausdrückliche Erlaubnis meine Zuflucht betritt. Es gibt Regeln der Höflichkeit, die für uns alle gelten. Sogar für dich, werte Catherine.'

 

Das Grinsen ist immer noch in Franks Gesicht, aber sein Ton ist jetzt ebenso frostig wie Catherines Blick.

 

Eine endlose Sekunde lang herrscht Stille, dann beginnt Catherine zu lachen, ein freudloser, seltsam hohler Klang, der von den Wänden widerzuhallen scheint.

 

'Touche. Wie konnte ich auch etwas anderes erwarten? Im Gegenteil, ich müsste enttäuscht sein, wenn du nicht echauffiert wärest. Schließlich bist du einmal mein Schüler gewesen.'

 

Sie erhebt sich, macht einen Schritt an ihm vorbei, faltet die Hände locker vor ihrem Schoß zusammen, legt den Kopf ein wenig schräg und betrachtet mit einem neugierigen Blick die Schädelknochen, die säuberlich aufgereiht in den Regalen liegen.

 

'Stilvolle Einrichtung, mein Lieber. Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Memento mori. Wie ich sehe, hast du deine alte Gewohnheit nicht aufgeben. Bist von Skalps auf Schädel umgestiegen.'

 

'Quid pro quo, meine Liebe. Damals wie heute.'

 

Frank bringt ein schiefes Grinsen zustande. Catherine wendet ihm weiter den Rücken zu und betrachtet noch einen Moment die Gebeine, bevor sie sich ihm wieder zuwendet.

 

'Lassen wir das. Wie geht es dir, mein lieber Frank? Nach all der Zeit, die wir uns nicht mehr gesehen haben?'

 

'Mir geht es wundervoll. Wo du ja mal wieder den Weg zu mir gefunden hast und ich mich doch immer so sehr über deine Besuche freue.'

 

Catherine zupft einmal kurz an einer Falte ihres Kleides und schüttelt dann unmerklich den Kopf.

 

'Immer noch verstimmt wegen dieser kleinen Sache damals? Ich dachte, die Zeit heilt alle Wunden...'

 

Sie seufzt einmal gespielt auf.

 

'...aber das ist wohl auch nur so ein Spruch.'

 

'Was willst du mir? Spucks aus. Ich weiß, du bist viel beschäftigt, und ich will dich nicht von wichtigen Dingen abhalten.'

 

'Manche Dinge ändern sich nie, was? Immer noch der alte Frank. So weltmännisch, so höflich....'

 

Sie schüttelt wieder den Kopf.

 

'Aber gut, kommen wir zur Sache.'

 

Sie macht eine kurze Pause, während sie Frank mit ihrem Blick fixiert.

 

‘Du erinnerst dich an die Sache mit der Familie, die einen bedauerlichen Unfall erlitt? Damals, als ich dich darum bat, die ganze leidige Angelegenheit für mich zu überwachen?'

 

Sie betrachtet ihn mit einem Lächeln, das ihn innerlich schaudern lässt, und er fragt sich nicht zum ersten Mal, wie viel sie wirklich weiß.

 

'Dunkel. Eigentlich gar nicht. Wieso? Ist doch eine alte Kamelle. Alle längst tot und begraben.'

 

'Nein. Dummerweise eben nicht. Die Tochter entkam in dieser Nacht. Frag mich besser nicht, warum. Du erinnerst dich?'

 

Frank ringt sich ein Lächeln ab. Was für ein Glück, dass er nicht mehr schwitzen kann.

 

'Wie gesagt, dunkel. Ich hab sie ja auch wieder aufgespürt. Aber dann hat sich die Kleine aufgemacht, um ihre Eltern zu rächen und ist endgültig auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Hab ich Dir ja auch damals alles erzählt.'

 

Catherine nickt, mehr zu sich selbst als zu Frank.

 

'Stimmt, ich erinnere mich. Nun, jetzt ist sie wieder aufgetaucht. Quicklebendig.‘

 

‚Ah…und nun soll ich sie erneut suchen und einfangen, hm?‘

 

‚Nein. Ich habe jemanden, der diese lästige Angelegenheit jetzt ein für alle Mal zu meiner Zufriedenheit regelt.'

 

Catherine sieht Frank jetzt direkt in die Augen.

 

‘Du brauchst dich daher um nichts mehr kümmern, mein Lieber.'

 

Frank schweigt, und Catherine fährt fort.

 

'Aber - wenn du etwas hören solltest in dieser Angelegenheit – gibst du mir Bescheid. Haben wir uns verstanden?'

 

'Ja. Hab ich.'

 

Catherine nickt, und als sie an Frank vorbeigleitet, streicht sie ihm sanft über die Wange. Frank zuckt zurück, und seine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, was Catherine wieder mit einem Lächeln quittiert.

 

'Gute Nacht...mein alter Freund.'

 

Frank will noch zu einer Erwiderung ansetzten, doch Catherine ist schon auf und davon, wie ein Geist aus der Vergangenheit, von dem er gehofft hatte, dass er ihn nie wieder heimsuchen würde. Was weiß sie? Und wen hat sie jetzt auf die Sache angesetzt? Frank knetet sein Kinn und wühlt in seinen Erinnerungen.

 

Dann fällt es ihm wieder ein. Dieser McCarson. Kyle McCarson. Dem er damals wie ein Laufbursche die Informationen zukommen ließ mit dem Tipp, wo gewisse Leute einen Gebrauchtwagenhandel betreiben. Was diese Typen angeht, ist ja alles geregelt, denkt er.

 

Was diesen McCarson angeht – nun, da bräuchte er Lee nur einen Tipp zukommen lassen, dass diese Type an der Nummer mit ihrer Familie beteiligt war, ist sein Leben keinen Hundefurz mehr wert.

 

Und Catherine – nun, die kann sich dann ärgern, dass ihre Spielfigur kaputtgegangen ist. Franks Grinsen wird breiter. Ja, er war ihr Schüler. Zu dumm nur, dass er durchaus mehr gelernt hat, als Catherine möglicherweise glauben mag. Er flegelt sich in seinen gammeligen Ledersessel und wählt eine Nummer, von der er gedacht hat, dass er sie nie wieder brauchen wird.

 

Wie man sich doch irren kann.

 

***

 

Nachdem er das Telefonat beendet hat, lehnt er sich zurück und starrt die Decke an. Er könnte Lee direkt auf diese McCarson-Ratte ansetzen. Aber das wäre eine dämliche Idee. Und obendrein zu gefährlich - Catherine würde schnell eins und eins zusammenzählen und ihm die Hölle heiß machen. Nein, da muss eine andere Lösung her.

 

Auf der anderen Seite - dieses Bürschchen wird sich ohnehin an Lee dranhängen – mit dem Ergebnis, dass es über kurz oder lang als Würmerfutter enden wird. Und wenn nicht  – dann kann der liebe Onkel Frank ja immer noch mit ein paar anonymen Tipps nachhelfen. Wäre ja nicht das erste Mal.

 

Und außerdem gibt es Wichtigeres zu tun. Lee ist auf einem guten Wege, doch noch ist sie noch nicht das perfekte Spielzeug, von dem er schon so lange träumt. Sicher, sie hasst ihn und sie würde ihn gern vernichten. Aber das reicht ihm noch nicht. Nein, sie ist noch nicht so weit, wie er sie haben will. Noch ist sie nicht die ultimative Herausforderung für ihn. Und noch hat ihr Blut nicht dieses mit nichts vergleichbare Aroma des Hasses, den nur Wesen wie sie und er verspüren können. Dieses Aroma, das ihm diesen unvergleichlichen Kick verschafft, den er jetzt schon so lange missen muss.

 

Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Und er weiß auch schon, was er dafür tun muss.