Samhain / 2

 

Während sich das Orchester einstimmt und das Raunen im Parkett langsam verebbt, sieht sich Catherine noch einmal prüfend um, bevor sie ihren Platz einnimmt. Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr, und die Wut funkelt in ihren Augen. Wenn sich diese Kröte auch nur eine Sekunde länger verspätet, wird er es bereuen.  Nicht, dass sie sich über seine Respektlosigkeit wundert. Davon war auszugehen. Sie kennt ihn weit besser als er glaubt. Er will dich provozieren, denkt sie. Und du springst darauf an, du Närrin.

 

Catherine schließt kurz die Augen und beginnt, sich auf die Musik zu konzentrieren, die die nun eingetretene Stille zu füllen beginnt. Der aufkommende Klang schmeichelt ihren Ohren. Alles ist angerichtet für einen wundervollen Abend - und doch ist etwas nicht richtig. Sie verliert sich nicht in der Musik, kann sich nicht entspannen.

 

Und dabei hatte sie gehofft, dass sie hier ihre innere Ruhe wiederfinden würde. Doch das war wohl ein Trugschluss. Inzwischen hält sie es für einen Fehler, diesen Ort gewählt zu haben. Hier kann sie diese Missgeburt nicht einmal zur Räson bringen, ohne aufzufallen. Meine eigene Schuld, denkt sie. Warum trifft sie sich auch hier mit ihm. Gut, er mag Opern, genau wie sie. Sie hat ihn mitgenommen, damals, als er noch ein halber Wilder war. Nur hatte sie zu ihrem Missvergnügen ziemlich schnell herausgefunden, dass er immer ein Banause bleiben und diese Form der Kunst nie wirklich zu würdigen wissen würde.

 

Was ihn jedoch nicht davon abgehalten hatte, sich der Musik hinzugeben. Manche unserer Art gehen seltsame Wege, denkt sie. Selbst ein so gefühlskaltes Ding wie Frank Gettys kann sich den Emotionen nicht entziehen, die sich an Orten wie diesen entfalten. Als sich die Tür ihrer Loge endlich öffnet, lässt sie ihr Opernglas betont langsam sinken und dreht nicht einmal ihren Kopf in die Richtung ihres Besuchers.

 

'Guten Abend Frank.'

 

'Hallo Cat.'

 

Sie verzieht den Mund, lässt ihren Blick über sein unrasiertes Gesicht und seine speckige Lederjacke hinab zu seinen abgewetzten Stiefeln gleiten und schüttelt den Kopf. Hatte sie etwas anderes erwartet? Das wäre dem Kind niemals passiert. Dafür hat ihre Schwester gesorgt, so viel ist sicher.

 

‘Du hättest dich diesem Ort entsprechend angemessen kleiden können.'

 

Frank lässt sich in einen Sessel neben Catherine fallen, lehnt sich gemütlich zurück und schlägt die Beine übereinander, bevor er sich ihr zuwendet und sie angrinst.

 

'Ja, hätte ich. Wie so viele andere Dinge auch.'

 

Er wartet auf eine Reaktion ihrerseits, und als keine kommt, fährt er fort.

 

'Passende Aufführung, die du dir da heute Abend ausgesucht hast.'

 

Er zieht einen hölzernen Zahnstocher hervor und beginnt darauf herumzukauen. Catherine betrachtet ihn ausdruckslos.

 

'In der Tat. Du wärest auch gerne König geworden. Nicht wahr?'

 

'Wer weiß, meine Liebe, ob ich nicht auf dem besten Wege dahin bin...'

 

Er zwinkert ihr zu. Catherine verzieht den Mund.

 

'Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht – deine Unverfrorenheit oder die Tatsache, dass du tatsächlich so weit gegangen bist, dich meinem Willen zu widersetzen und mich obendrein zu belügen.'

 

Wobei das natürlich nicht stimmt, wenn sie ehrlich mit sich selbst ist. Ein Grund, warum sie ihn erwählt hat, war seine Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst wie gegen andere, sein unbeugsamer Wille, der ihn Risiken eingehen ließ, von denen andere nicht einmal zu träumen gewagt hätten.

 

'In der Tat, meine Liebe, ich habe dir nicht reinen Wein eingeschenkt. Das wiegt schwer, ich gebe es zu. Aber unter dem Strich habe ich deinen Wunsch erfüllt. So wie ich es schon immer getan habe. Und früher hast du doch auch nicht immer alles wissen wollen, nicht wahr?‘

 

‚Du spielst ein gefährliches Spiel, mein Lieber.‘

 

‚Kann sein. Aber wenn ich nicht völlig falsch liege, pokerst auch Du mit hohem Einsatz.'

 

Catherine kann ein Zucken des Mundwinkels nicht unterdrücken, und Frank grinst. Treffer. Wusste er es doch, dass einer von den Uralten seine Finger irgendwie in der Sache drin hat. Er hat seine Anwesenheit gespürt in dieser Nacht, als die Kleine ihm entkam. Sieht ganz so aus, als wenn der Preis, um den hier gespielt wird, ein ganz besonderer sei.

 

'Machen wir es kurz. Ich hab noch was vor heute Nacht – genau wie du. Du willst, dass die Kleine stirbt. Ich...nun, ich hab meine ganz eigenen Vorstellungen, wie sie stirbt. Da dachte ich mir, wir könnten wir uns doch handelseinig werden. Oder?'

 

Catherines Augen verengen sich zu engen Schlitzen.

 

'Was du noch vorhast, ist mir ziemlich einerlei. Ich kenne deine Vorlieben - denk nicht, dass mir gewisse Dinge entgangen sind in all den Jahren, in denen du dein Spielchen schon treibst. Aber du wirst mich wohl kaum heute Nacht um Absolution für deine Sünden bitten. Also, was willst du?'

 

'Eigentlich nur die Antwort auf eine einfache Frage - warum willst du sie eigentlich tot sehen?'

 

'Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Bildest du dir etwa ein, dass ich dir gegenüber Rechenschaft ablegen werde?'

 

'Ich? Oh nein. Aber ich kann mir vorstellen, dass jemand anderes das tun wird, wenn rauskommt, dass du sie beseitigen - '

 

Catherine dreht sich ruckartig zu Frank herum, und ein Blick in ihr verzerrtes Gesicht macht ihm klar, dass er eine Grenze überschritten hat.

 

'Willst du mir drohen, Frank?'

 

Ein diffuses Unbehagen kriecht in ihm hoch. Hat er sich verzockt? Eigentlich ist er sich sicher, dass sie sich hier zusammenreißen wird. Was aber nicht heißt, dass sie das auch noch tun wird, wenn sie erst einmal wieder draußen und fernab der Sterblichen sind. Außerdem kennt er sie, und zwar besser als ihm manchmal lieb ist. Hinter der Maske dieses fast schon unnatürlich schönen Gesichtes verbirgt sich eine Monstrosität, die selbst er im Lauf der Jahrhunderte zu fürchten gelernt hat. Er will etwas sagen, sie beschwichtigen, doch sie schneidet ihm mit einer kaum merklichen Geste das Wort ab.

 

'Ich gebe ich dir einen letzten Rat, Frank Gettys - misch dich nicht in Dinge ein, die jenseits deiner Macht liegen! Kümmere dich lieber um die Angelegenheiten, die du schon viel zu lange vernachlässigt hast. Was in diesem Fall bedeutet, dass du das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden kannst! Tust du es nicht...'

 

Die unausgesprochene Drohung schwebt wie eine Wolke aus Blei in der Luft. Frank nickt langsam.

 

'Keine Sorge, ich bin nicht blöde. Ich werde mich nicht in euer großes Spiel einmischen und stattdessen einfach meinen Job machen, bevor ich mich erst mal für eine Weile in Luft auflöse. Angenehm so?'

 

Catherine starrt ihn eine gefühlte Ewigkeit an, und fast glaubt Frank, dass sie doch noch die Beherrschung verlieren und ihn hier und jetzt in Stücke reißen wird. Nur um dann in aller Seelenruhe davon zu schweben, während seine Überreste hier munter vor sich hin rotten. Doch sie bewegt einfach nur ihre Hand, ganz so, als wäre er nur ein lästiges Insekt, das sie verscheuchen will.

 

‘Du kannst gehen.'

 

Mit diesen Worten widmet Catherine ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen auf der Bühne. Betont langsam steht Frank auf, nickt ihr noch einmal zu und verlässt die Loge, während sich hinter ihm der Chor der Hexen zum Crescendo steigert, das noch lange nachdem er die Oper verlassen hat in seinen Ohren widerhallt wie Hohnlachen.

 

***

 

Catherines Gedanken rasen in ihrem Kopf hin und her. Was weiß er? Hat er einfach nur geraten? Oder ist er cleverer als sie dachte? Egal - sie wird Frank zur Hölle schicken wird, wenn er die Sache zu Ende gebracht hat. Wobei sie sich inzwischen ziemlich sicher ist, dass das Kind ihr die Arbeit abnehmen wird. Und wenn Frank wider Erwarten siegen sollte – nun, dann darf er sich auf einen Besuch der Kutte freuen.

 

Nur – was, wenn die Kutte ihr Spiel schon längst durchschaut hat und jetzt gerade lächelnd in der Dunkelheit auf sie lauert, um sie dafür zu strafen, dass sie sich seinem Willen widersetzt hat? Was, wenn es nur noch eine Illusion ist, dass sie die Kontrolle hat, während sie in Wirklichkeit auch nur benutzt wird?

 

Bist du hier? Überlegst du dir gerade, wie es ist, mein Blut zu trinken, meine Seele zu fressen, sie deiner ganz speziellen Sammlung einzuverleiben. Wie ätzende Säure breitet sich die Furcht in Catherines Inneren aus, und auch die Musik, die sie so sehr liebt, kann sie nicht mehr vertreiben.

 

Mit einem Ruck erhebt sie sich und verlässt ihre Loge, während die Menschen unter ihr weiterhin dem Gesang der Hexen lauschen, die diejenigen ins Verderben locken, die nach Macht suchen und sich dabei in ihrer Gier verlieren.